Mittwoch, 2. September 2015

Erstaunliche Veröffentlichungen über die Ursachen von Rechtsextremismus und Delinquenz

Ich habe kürzlich zwei sehr erstaunliche Veröffentlichungen wahrgenommen. Bei der Ersten handelt sich es um einen aktuellen Fachbeitrag - Dudeck, M. (2013): Delinquenz und frühe Stresserfahrungen. In: Spitzer, C. und Grabe, H. J. (Hrsg.): Kindesmisshandlung. Psychische und körperliche Folgen im Erwachsenenalter. Stuttgart: Kohlhammer. (Kindle-Edition) - von Prof. Dr. med. Manuela Dudeck über die Ursachen von Delinquenz. Sie schreibt:

"Biographische Brüche, d.h. Traumata, sind als statische Prädikatoren relativ früh identifiziert worden und haben viele Autoren dazu angeregt, Zusammenhänge zwischen frühen traumatischen Erfahrungen und späterer Delinquenzentwicklungen zu untersuchen.
Die Ergebnisse epidemiologischer Studien zur Prävalenz von Traumata und Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) in Gefängnissen legen nahe, dass es sich um einen bedeutenden Forschungsgegenstand handelt. So kann bei nahezu jedem Häftling mindestens ein Trauma diagnostiziert werden, wobei emotionale, körperliche und sexuelle Missbrauchserfahrungen führend sind
." (Dudeck 2013, Position 9849) und "Dass frühkindliche Missbrauchserfahungen in der Entwicklung der antisozialen Persönlichkeitsstörung eine wichtige Rolle spielen, ist ein in der Literatur mittlerweile unumstrittenes Phänomen." (Dudeck 2013, Position 9863)

Ich habe schon viele kriminologische und psychiatrische Artikel gelesen, in denen auf Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen von StraftäterInnen eingegangen wurde. In keinem mir bisher bekannten Artikel wurden so deutliche Worte gewählt. Vor einem Satz wie "So kann bei nahezu jedem Häftling mindestens ein Trauma diagnostiziert werden" scheuten die Forschenden bisher zurück, obwohl ihre Studienergebnisse genau diesen Sachverhalt nahelegen. Wer meinen Blog verfolgt wird sich erinnern, dass dies eine beständige Kritik von mir bzgl. entsprechender Studien ist. Sie weisen nicht darauf hin, dass (Gewalt-)StraftäterInnen - bei gründlicher Untersuchung - keine Menschen sind, die gänzlich gewaltfrei aufgewachsen sind. Oder anders - mit meinen Worten - gesagt: Als Kind geliebte Menschen werden nicht zu Gewalttätern.
Neu ist für mich auch der oben verwendete Begriff "unumstritten". Das ist genau die Art von Begrifflichkeit die Erstens auf Grund diverser Forschungen empirisch logisch ist und Zweitens notwendig ist, um die Öffentlichkeit endlich einmal wachzurütteln. Immer wieder fangen z.B. JournalistInnen in Anbetracht von Gewalttaten an zu rätseln, warum ein Mensch gewalttätig wurde. Dabei ist längst klar, dass die Kindheit der TäterInnen immer mit in das Blickfeld genommen werden muss. Manuela Dudeck geht am Ende ihres Textes übrigens auch direkt darauf ein, dass die Opfererfahrungen von TäterInnen von der Öffentlichkeit, aber auch von der Wissenschaft u.a. auf Grund von Moralvorstellungen - dabei vor allem einer potentiellen Entschuldung der TäterInnen - nicht entsprechend der empirischen Befunde und ihrer gesundheitspolitischen Bedeutung beachtet werden.

Die zweite Veröffentlichungen ist fast noch ungewöhnlicher, als die vorbenannte. Die SPIEGEL-Online Kolumnistin Sibylle Berg hat am 29.08.2015 den Artikel "Ihr gehört in Therapie" veröffentlicht. Der Artikel entstand offensichtlich in Anbetracht aktueller rechtsextremer Angriffe auf Flüchtlingsheime. Man ließt heraus, dass die Autorin etwas über die Ursachen von solchen Taten und auch über die historische Entwicklung von Kindheit recherchiert hat. Sie lässt ihre Quellen aber im Grunde nicht durchblicken sondern -  das ist besonders erstaunlich - schreibt einfach drauf los und stellt mit einer puren Selbstverständlichkeit fest, dass eine destruktive Kindheit der wesentliche Hintergrund von rechtsextremen wie auch anderen schweren Gewalttaten ist. Punkt und Schluss. Ich muss gestehen, dass ich eine solche art von Artikel bisher in großen Medien nicht wahrgenommen habe. Das ist etwas Neues. Die Autorin nutzt ihren eigenen Sprachstil, den man mögen kann oder nicht. Im Grunde hat sie allerdings wesentliche psychohistorische Themenfelder angesprochen. Gewalt und Härte gegen Kinder in Deutschland mit Blick auf die Geschichte; ungleichzeitige Entwicklung von Kindheit, was bedeutet, dass es Teile der Gesellschaft gibt, in denen immer noch Härte und Gewalt gegen das Kind wie in früherer Zeit praktiziert wird; was wiederum Konflikte zwischen den fortschrittlich Erzogenen und den gestrig Erzogenen bedeutet. Aber vor allem hät sie fest: Gewalt gegen Kinder hat Folgen und erklärt Gewalttaten, die wir aktuell diskutieren. Punkt.
Wenn diese Selbstverständlichkeit bzgl. der Betrachtung von Ursachen von Gewalt Einzug in weitere Teile der Medien hält, dann ist viel gewonnen.


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