Samstag, 12. September 2015

Ursachen von Rechtsextremismus auf Platz 1 der deutschen Charts!

Innerhalb von nur einer Woche ist es der "Aktion Arschloch" gelungen, durch Ihren Internet-Aufruf das 22 Jahre alte Anti-Nazi-Lied "Schrei nach Liebe" von der Band "Die Ärzte" auf Platz 1 der deutschen Charts zu bringen (alle großen deutschen Medien berichten derzeit über die Aktion, z.B. SPIEGEL-Online hier). Dies ist ein deutliches Zeichen gegen rechte Gewalt. (Irgendwie häufen sich aktuell die für mich überraschenden Ereignisse - siehe Blogverlauf)

Der beispiellose Erfolg dieser Aktion ist für mich aber auch eine besondere Überraschung, weil das Lied letztlich deutlich die Ursachen von Rechtsextremismus benennt: Eine traurige Kindheit; Selbsthass, der auf andere projiziert wird; keine Hilfe und keine Hoffnung.  Dazu weist das Lied darauf hin, dass hinter dem Gewalttäter im Grunde ein trauriger, bedürftiger Mensch steht. Und dann kommt immer wieder im Refrain "Oh oh oh Arschloch".  Im entsprechenden Musikvideo der Band wischen am Ende zwei fröhliche Kinder dem rechten Gewalttäter seine Maske vom Gesicht, er erscheint wieder als Mensch. Genial!

Im vorherigen Blogbeitrag habe ich die Kindheit von dem Serienmörder Michael Tenneson besprochen. Um ihn aus der TV-Doku wortgenau zitieren zu können, musste ich mir seine Schilderungen mehrmals anschauen und mitschreiben: Wie sein Vater ihm eine Waffe an den Kopf hielt, als Michael drei Jahre alt war und das Kind nicht verstand, was da in seiner Welt passierte... Dabei musste ich weinen, weil ich bei dem Kind war in dieser Szene. Und dann sah ich gleichzeitig diesen kalten erwachsenen Menschen Michael Tenneson, wusste um seine Taten, sah, wie er selbst bei seinen Schilderungen über seine Kindheit nichts fühlte. Und ein "Oh oh oh Arschloch" ist da fast noch zu wenig, der Mann ist weiterhin brandgefährlich. Seine Kindheit ist vorbei, er hat seinen Weg genommen, so wir er es tat.   

Der Song "Schrei nach Liebe" nimmt die Täter nicht aus ihrer Verantwortung. Im Jahr 2015 sollte aber auch die Botschaft ernst genommen werden, die der Text weitergedacht enthält: Prävention von Rechtsextremismus muss in der Kindheit ansetzen.



8 Kommentare:

Michael Kumpmann hat gesagt…

Ich dachte bisher ehrlichgesagt immer, diese Textteile wie "Deine Eltern hatten niemals für Dich Zeit" wären eher in einem gewissen "spöttischen" Tonfall. Die Stimmlage, in der das gesungen wird, hörte sich für mich nämlich eher so an, nach dem Motto "Du verhaust Ausländer, weil Du im Inneren eine kleine, arme Wurst bist, die nichts auf die Reihe gebracht hat".


Auf die Idee, dass das von den Ärzten Ernst gemeint sein könnte, war Ich vor diesem Artikel wirklich nicht gekommen. So lernt man was dazu.

Susanne hat gesagt…

Hallo Sven, grundsätzlich: Zustimmung zu diesem Beitrag! Gut und nicht selbstverständlich, dass die Ursachen von rechtsradikaler Gewalt in der Kindheit benannt werden. Allerdings - und hier finde ich die Wahrnehmung von Michael Kumpmann eigentlich sehr interessant - wird im Ärzte-Song implizit eine ziemlich starke Differenz zwischen den Künstlern und "den Rechtsradikalen" aufgemacht. MK hört das berechtigterweise als spöttisch, finde ich. "Deine Eltern hatten niemals für dich Zeit" - von "meinen Eltern" wird gar nicht gesprochen, "du projizierst, hör auf damit" - als ob das so einfach wäre. Abgesehen davon, dass "deine Eltern hatten niemals für dich Zeit" eine absolut geschönte Beschreibung des Problems ist. Wie wäre es, wenn Alice Millers Konzept des wissenden Zeugen (noch stärker) mit eingeflossen wäre? Also etwa: Mir ging es genauso, aber zum Glück war ich nicht ganz allein. Deine Wut ist berechtigt, du darfst sie aussprechen, wir stehen hinter dir. Entscheide dich! - Ich will es jetzt nicht überkompliziert machen (man muss natürlich unterscheiden zwischen Sympathisanten und jenen, die schon zu Tätern, Täterinnen geworden sind), aber: Das Element der Solidarität, was ja entscheidend für die Prävention ist, könnte stärker ausgeprägt sein in diesem Liedtext.

polaroid hat gesagt…

Die Ärzte hatten vollkommen recht. Gegen jede Art von Extremismus hilft es, wenn sich die Gesellschaft um die Hilflosen kümmert. Denn wer einmal hilflos war, der hat schnell extremistische Grundsätze verinnerlicht,

Sven Fuchs hat gesagt…

Hallo zusammen,

natürlich ist der Song höhnisch und spöttisch. Er stammt ja auch von einer Punkrockband.
Bedenkt dabei: Er richtet sich ja auch an die, die bereits zum Hass übergelaufen sind und Gewalttäter wurden!
Es bleibt aber unübersehbar, dass die Ursachen im Kern erkannt und benannt wurden, darum ging es mir. Ein "Deine Eltern hatten niemals für Dich Zeit" wird dem Erleben von den kindern, die Rechtsextremisten einst waren, in der Tat nicht gerecht, weil das Gewalterleben viel extremer war.

Ich finde es spannend, ob der Kern des Liedtextes heute reflektiert und aufgenommen wird. Die Prävention in Form von Kinderschutz steht ja nicht direkt im Text, die lässt sich aber ableiten. Ich denke, dass ich "Die Ärzte" einfach mal anschreiben werde.

Susanne hat gesagt…

Super Idee, das hatte ich auch schon gedacht!

Michael Kumpmann hat gesagt…

Sven, Ich würde es mehr als Cool finden, wenn Sie die Ärzte befragen könnten.

Und Ich finde es Gut, dass Sie sich jetzt auch mit Medien beschäftigen.


Zu Ihrem Satz "Dabei musste ich weinen, weil ich bei dem Kind war in dieser Szene. " noch was: Komischerweise, bei mir ist das so, dass ich, obwohl Ich selbst sehr nah am Wasser gebaut bin, von Medienberichten sehr wenig beeinflusst bin. (Nur als Ich in Medien von diesem Judge Rotenberg Education Center hörte, hab Ich sogar Luftbeschwerden bekommen.) Auch Alice Millers Bücher haben bei mir keine großartige emotionale Reaktion verursacht. (Ausser der Tatsache, dass Ich an 2 Stellen arg verwundert war, weil Ich mich selbst da wiedererkannt hatte.) Ich kann mir auch selbst extrem harte Horrorfilme ansehen und bin nicht wirklich shockiert.

Dafür aber, und jetzt wird es echt komisch, hab Ich ausgerechnet bei Disneys Film Frozen mehrere Stunden lang nur noch geweint. Und zwar genau nachdem Ich die Liedzeile

"Be a good girl, you always have to be. Conceal don't feel, don't let them know."

hörte.

Diese Reaktion von mir verstehe Ich bis heute nicht mal richtig. (Nachdem Ich mich aber wieder beruhigt hatte, musste Ich ausgerechnet an Ihr Blog denken. )

Sven Fuchs hat gesagt…

Ich glaube ehrlich gesagt nicht unbedingt, dass ich Antwort erhalte.
Ich werde Ihnen einfach mitteilen, wie ich den Inhalt des Liedes sehe. Mal sehen, ob was zurückkommt.

Michael Kumpmann hat gesagt…

Ja. Das kenne Ich auch. Berühmte Leute antworten leider selten auf solche Fragen, selbst wenn sie im Namen der Wissenschaft gestellt sind. Ich hab zu meiner Bachelorarbeit auch 20 Firmen, u.A. Google anschreiben müssen und so gut wie keiner hat mir geantwortet. Und die, die antworteten, sagten, sie hätten für sowas keine Zeit.

Trotzdem ist es gut, sowas zu versuchen.