Freitag, 27. November 2015

Wie Fachmann an Kränkungen in der Kindheit vorbeisehen kann

Der Gerichtspsychiater Reinhard Haller hat Welt-Online (26.11.2015, "Die zerstörerische Macht der Kränkung") ein Interview gegeben. Anlass war sein neues Buch „Die Macht der Kränkung“. Haller hat bereits viel über „das Böse“, Serientäter und Verbrechen veröffentlicht.

Ich schreibe nicht oft etwas über JournalistInnen, WissenschaftlerInnen und andere Fachmenschen, die die Kindheitseinflüsse bei der Analyse von Gewalt außen vor lassen, denn dann würde ich kaum noch dazu kommen, anderes zu schreiben. Bzgl. Haller möchte ich jetzt aber einiges anmerken.

In dem Interview geht er auf Massenmörder wie Anders Breivik ein, aber auch auf Adolf Hitler und einzelne Attentäter.  Kränkungen sieht er als wesentliches Motiv für deren Taten. Allerdings geht er nicht auf Kränkungen, Demütigungen und Gewalterfahrungen in der Familie ein. In dem Interview sagt Reinhard Haller einen für mich unglaublichen Satz: „Adolf Hitler war schwer gekränkt, weil er als Straßenmaler verspottet wurde und im Arbeiterwohnheim leben musste. Aus dieser Jämmerlichkeit sprießt dann das Überkompensatorische wie das Tausendjährige Reich, der Übermensch et cetera.“ Danach geht er noch ergänzend auf die Kränkung durch den „Versailler Vertrag“ ein. Es ist unglaublich, dass ein Psychiater ernsthaft annimmt, solche Erlebnisse würden ausreichen, um zum Massenmörder zu werden! Zudem: Jeder, der einmal bei googel „Kindheit von Adolf Hitler“ eingibt, sollte innerhalb von 10 Minuten etwas über die täglichen Misshandlungen und ständigen Demütigungen seitens des Vaters in Hitlers Kindheit erfahren. Auch über Anders Breivik gibt es eindeutige Nachweise für eine unglaublich traumatische Kindheit. Dazu kam aber kein Wort vom Fachmann. 

Für mich ist auf eine Art ein wenig verständlich, dass mit psychiatrischen Themen unerfahrene Fachmenschen wie PolitologInnen oder HistorikerInnen das Thema Kindheit außen vor lassen. Besonders erstaunt mich immer wieder, dass auch psychiatrische Fachleute oder PsycholgInnen an dem Thema vorbeischauen, Haller ist da nur einer von vielen.

Natürlich haben Kränkungen von Jugendlichen und Erwachsenen eine kumulative Wirkung oder auch tatauslösenden Charakter. Hallers Arbeit scheint also mehr zu beschreiben, dass als Kind durch Elternfiguren Gedemütigte später besonders reizbar sind (ohne dass er sich dessen bewusst zu sein scheint). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Ergebnis aus der Hirnforschung. „Wer aufgrund früherer, meist in den Kinderjahren erlittener Verletzungen keine tiefe Verbundenheit mit anderen Menschen fühlen kann, hat als Erwachsener bei schwierigen Alltagssituationen schneller als andere das Gefühl, abgelehnt oder verachtet zu werden. Er (oder sie) wird häufiger als andere Menschen eine »gefühlte Zurückweisung« erleben. Entsprechend schneller ist bei solchen Personen die Schmerzgrenze erreicht, und entsprechend steigt das Risiko einer aggressiven Reaktion.“ (siehe meine Buchbesprechung von Joachim Bauer, „Schmerzgrenze“)

1 Kommentar:

Sven Fuchs hat gesagt…

Reinhard Haller in einem langen Interview: http://www.zeit.de/zeit-wissen/2017/01/psychologie-psychiater-gericht-gutachten-verbrecher-interview/komplettansicht

Erneut stellt er sich blind gegenüber der Kindheit der Täter. Über Hitler: "Hitler war erfolgloser Straßenmaler, abgelehnt von der Akademie, hatte nur einen Hoden, musste im Arbeiterwohnheim übernachten. Er hat gewusst, was Kränkung ist und was sie auslöst – und das in seinen Reden aufgegriffen."

Über Breivik: "Bei Anders Breivik dasselbe: arbeitslos, hoher technischer Verstand, isoliert, niemand, der mit ihm redet. Und dann das erfüllte Leben als König von Oslo."

Warum sich der Experte gar nicht erst auf die Suche nach Kindheitshintergründen macht, erklärt sich diesmal gleich mit: "Es gibt zwei Theorien. Die eine besagt, dass der Mensch als universell kriminelles Wesen auf die Welt kommt. Er ist böse, und es ist die Aufgabe der Erziehung, aus dem grausamen Kind, diesem wilden Wesen, ein sozial adaptiertes zu machen. Die andere These besagt, nein, genau umgekehrt, Kinder sind unschuldig, und die Lebensentwicklung, der falsche Umgang und Drogen machen sie erst zu bösen Wesen. Ich selbst bin ein Anhänger der ersten Theorie."

Fast schon etwas fasziniert bin ich bzgl. Herrn Haller, weil er ungemein nah dran ist an den tieferen Ursachen (Kränkungen und Demütigungen in der Biografie von Tätern), aber sich dabei vor allem die Oberfläche (alle Kränkungen, außer die durch Elternfiguren!) als Ort der Analyse heraugesucht hat... Erstaunlich....sehr erstaunlich....wirklich...