Dank der Leserin Heike wurde ich auf einen Text aufmerksam, der mich wirklich schwer beeindruckt hat. Ich muss sagen, dass ich nach der Lektüre des Textes innerlich richtig gebrannt habe. Solche Texte geben mir Kraft, weil sie exakt und authentisch beschreiben, um was es geht und die auch wieder mal klar machen, dass es sehr viel mehr Öffentlichkeitsarbeit für das Thema hier bedarf.
Der Text stammt von Jens Söring, der seit 1986 inhaftiert ist (die meiste Zeit davon in den USA). Söring ist wegen Mordes verurteilt worden, beteuert allerdings seine Unschuld. Wer mag kann in deutschen Medien oder übersichtlich auf Wikipedia viel über diesen Fall nachlesen, der auch die deutsche Politik beschäftigt hat. Ich möchte hier nicht seinen Fall besprechen, sondern rein das, was er am 23.11.2011 unter dem Titel „Das Geheimnis, das niemand wissen will“ in seinem Blog geschrieben hat.
Dieser Text sollte in jedem Grundkurs für Kriminologie zur Standartlektüre werden!! Er ist auf Grund dreier Dinge besonders:
1. Der Inhalt und die Aussagen
2. Der Autor ist hoch intelligent (u.a. auch Autor einiger Bücher) und verfügt offensichtlich über eine gute Beobachtungsgabe und auch Fähigkeiten, mit Menschen in tieferen Kontakt zu treten.
3. Jens Söring ist selbst seit über 25 Jahren inhaftiert, hat mit Mördern und Sexualverbrechern zu tun, ist „offiziell“ einer von ihnen und beobachtet/berichtet also aus einer Perspektive heraus, die mit normalen wissenschaftlichen Mitteln nicht möglich wäre.
Mit einem Zitat wird bereits deutlich, um was es geht. Söring schreibt: :
„Ich kann Ihnen sagen: Ich war in den vergangenen (fast) 25 Jahren mit hunderten Häftlingen mehr oder weniger gut befreundet – gut genug, um gelegentlich ein ernsthaftes Gespräch zu führen. Und ich kann Ihnen sagen: Jeder Gefangene, mit dem ich etwas befreundet war, wurde als Kind sexuell oder körperlich misshandelt. Jeder, ohne Ausnahme, in (fast) 25 Jahren! Natürlich könnte das ein Zufall sein, aber das glaube ich nicht.
Warum soll das wichtig sein, weshalb schreibe ich darüber einen Blogeintrag? Weil ich einen direkten Zusammenhang sehe zwischen der Misshandlung und der Kriminalität.“
(Übrigens fügt Söring im Text an, dass es eine Ausnahme im Gefängnis geben würde: Er selbst sei als Kind nicht misshandelt worden, aber er sei ja auch unschuldig und kein Mörder. An dieser Stelle muss man fast schon etwas schmunzeln, denn in der Tat würde beides zusammen Sinn machen.)
Söring bestätigt auch etwas, was Forschende bereits beschrieben haben. Es geht nicht um vereinzelte Gewalterfahrungen in der Kindheit oder seltene Misshandlungen. Das, was die Gefangenen als Kind erlitten haben, scheint eher unter dem Begriff Folter (diesen Begriff benutzt er auch direkt, ergänzend spricht er von „Quälerei“ oder „entsetzlichen Gewaltverbrechen“ gegen die Kinder) zu fallen, als unter Misshandlung. Und – das ist besonders wichtig - die Gewalt gegen die Kinder (die die Straftäter einst waren) fand in den allermeisten Fällen über große Zeiträume hinweg statt, über Jahre und Jahrzehnte hinweg. Söring schreibt bzgl. der Formen der Gewalt: „Das Auspeitschen mit dicken Ledergürteln ist noch das Mindeste. Absichtliches Verbrennen mit Bügeleisen oder kochendem Wasser kommen überraschend häufig vor. Auch das stundenlange Knien auf scharfen Steinen. Und Stöcke – nun ja, genug davon!“
Er bringt auch zwei konkrete Fallbeispiele:
„Zum Beispiel wurde ein ziemlich guter Freund von mir – der übrigens vor einigen Jahren Selbstmord beging – als 8-jähriges Kind von seiner älteren Schwester zum wiederholten Drogenkonsum verleitet; anfänglich gegen seinen Willen. Natürlich wurde er abhänig, und natürlich landete er letzlich im geschlossenen Vollzug für besonders junge Straftäter, wegen Beschaffungskriminalität. Dort wurde er von den anderen Jugendlichen sexuell und körperlich gefoltert (das Wort "misshandelt" reicht einfach nicht – es hatte mit Besenstielen zu tun), und natürlich von den Wächtern auch. Dann wurde er etwas älter, etwas stärker, und stieg in der Hierachie auf – bis er selber jüngere Kinder foltern konnte. (…) Ein anderer Freund von mir wuchs ohne Eltern auf, er wurde vom Sozialamt von einer Pflege-Familie zur nächsten geschickt. Viele der Pflegeeltern waren anscheinend Sadisten, die besonders heißes Duschen als bevorzugtes Strafmittel einsetzten – weil das keine Wunden hinterlässt. Auch wurde regelmässig zur Strafe das Essen gekürzt oder völlig vorenthalten “ Letzt genannter überlebte, in dem er die Mülleimer von Restaurants plünderte. Der Autor weist ergänzend auch auf das besondere Tabu der sexuelle Gewalt hin (gerade auch innerhalb von Gefängnissen).
Bzgl. der Schwierigkeit, Gewalterfahrungen in der Kindheit von Strafgefangenen umfassend aufzudecken, beschreibt Söring vier wichtige Dinge:
1. Starkes Misstrauen gegen GefängnispsychologInnen und ähnlichen Akteuren. „Denn gerade für Gefangene ist es besonders schwer, irgendeine Schwäche zuzugeben – vor allem gegenüber Außenseitern wie Psychologen, die plötzlich in den Knast hereinrauschen, Fragebögen verteilen und äußerst persönliche Informationen wissen wollen. Grundsätzlich werden solche Typen erst einmal belogen, denn man kann ja nie wissen, wem sie die Fragebögen dann geben! Knastpsychologen haben sowieso einen besonders schlechten Ruf unter Häftlingen, selbst ich würde denen nichts wirklich Wichtiges anvertrauen.“
2. Die meisten Gefangenen würden Misshandlungen, die ihnen zugefügt worden sind, nicht als solche definieren. Es passierte halt, gehörte halt dazu bis hin zu es war richtig und ich würde meine Kinder heute auch so erziehen. (Stichwort: Identifikation mit dem Aggressor“)
3. Das besondere Tabu der sexuellen Gewalt gegen Jungen/Männer. Dazu: „Ich will gar nicht schätzen, wie viele Häftlinge mir gestanden haben, dass sie sexuell misshandelt wurden – und hinzuzufügten, dass ich der erste Mensch sei, dem sie das sagen. Solche Zwischenfälle hat es besonders in den letzten acht Jahren gegeben, nach der Veröffentlichung meines ersten Buches.“
4. Besonders ungewöhnliche Misshandlungsformen (z.B. knien auf scharfen Steinen, heißes abduschen) oder Täterpersonenkreise außerhalb von Eltern/Stiefeltern (Geschwister, Jugendliche in Heimen oder Jugendarrest)
Ich möchte an dieser Stelle ergänzend an den Fall Anders Breivik erinnern. Wäre dieser Massenmörder als Kleinkind nicht ca. 3 Wochen stationär psychiatrisch begutachtet worden, die ganze Welt würde heute glauben, er sei ein ganz normales Kind der höheren Mittelschicht gewesen, obwohl er schwer traumatisiert wurde.
Im Blog habe ich ja bereits die Arbeit von Jonathan H. Pincus besprochen, der im Lauf der Zeit über 150 Mörder in den USA untersucht hat. Pincus berichtet, dass von allen Mördern, die er befragt hat, zunächst zwei Drittel sagten, dass sie keine Kindesmisshandlung erlebt hätten. Wenn er diese Fälle nicht weiter untersucht hätte (z.B. durch Befragung von Anwälten und Familienmitgliedern), so Pincus, wäre er wohl nicht darauf gekommen, dass Misshandlungserfahrungen besonders weit unter Gewalttätern verbreitet sind. Er erklärt sich die ersten Antworten der Befragten damit, dass viele sich nicht an die erlebte Gewalt erinnern können oder wollen und zusätzlich auch weiterhin Angst haben, darüber zu sprechen. Er fand schließlich bei fast allen langjährige und besonders schwere Gewalterfahrungen in der Kindheit; Täter waren meist Eltern und Elternfiguren. Er fast an einer Stelle eindrücklich zusammen: „It has been amazing to discover that the quality and the amount of „discipline“ these individuals have experienced are more like that of a prisoner in a concentration camp than a child at home.“
All dies muss zum Basiswissen für alle werden, die sich mit Straftätern/Mördern befassen!
Ein Kerngedanke ist dabei besonders wichtig und dabei leider gleichzeitig unwissenschaftlich:
Wenn die Kindheit von Mördern unauffällig erscheint und alle - inkl. der Familie - beteuern, sie wüssten nicht, wie der Junge zum grausamen Mörder werden konnte, ihm hätte es doch an nichts gefehlt, dann heißt das nicht, dass nicht unglaubliche Abgründe hinter dieser Fassade lauern können. All das oben Aufgezeigte zeigt, dass man mit einem gesunden Misstrauen Schilderungen von Mördern entgegen muss, falls sie - so wie Anders Breivik in seinem "Manifest" - behaupten: "I haven´t really had any negative experiences in my childhood in any way."
Ergänzend:
- Kindliche Gewalterfahrungen von Sexualstraftätern (und von asiatischen Männern im Allgemeinen)
- James Gilligan: Gewalt. (und die tieferen Ursachen)
Samstag, 9. Januar 2016
Basiswissen für die Kriminologie direkt aus dem Gefängnis: Das Kindheitsleid der Täter
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4 Kommentare:
Heißt das nicht, dass unser gesamtes System zur rehabilitation minderjähriger Straftäter nicht funktionert, und diese eher krimineller macht? Belegt dieser Artikel nicht in gewisser Weise vollkommenes Staatsversagen?
Der Staat will ja, dass diese Kinder vom Vebrechen weg kommen und nicht noch schlimmere Verbrecher werden. Also löst die "Rehabilitation" genau das Gegenteil vom Intendierten aus.
Hallo Sven,
das freut mich aber, dass Dich die Erkenntnisse von Jens so inspiriert haben. Ich habe dem Freundeskreis von Jens Söring einen Link zu Deinem Beitrag geschickt.
Viele Grüße
Heike
Ein schönes Beispiel für das Phänomen, dass die Opfer sich selbst beschuldigen, ist das Lied von Merle Haggard "Mama Tried". Hier der Text:
The first thing I remember knowing
Was a lonesome whistle blowing
And a young'un's dream of growing up to ride
On a freight train leaving town
Not knowing where I'm bound
And no one could change my mind but Mama tried
One and only rebel child
From a family meek and mild
My mama seemed to know what lay in store
Despite all my Sunday learning
Towards the bad I kept on turning
Till Mama couldn't hold me anymore
And I turned twenty-one in prison doing life without parole
No one could steer me right but Mama tried, Mama tried
Mama tried to raise me better, but her pleading I denied
That leaves only me to blame 'cause Mama tried
Dear old Daddy, rest his soul
Left my mom a heavy load
She tried so very hard to fill his shoes
Working hours without rest
Wanted me to have the best
She tried to raise me right but I refused
And I turned twenty-one in prison doing life without parole
No one could steer me right but Mama tried, Mama tried
Mama tried to raise me better, but her pleading I denied
That leaves only me to blame 'cause Mama tried
Ist das nicht unendlich traurig? Man hat es auch Stockholm-Syndrom genannt. Meine Lieblingsversion kann man sich hier anhören:
https://www.youtube.com/watch?v=3FNE2J81Cso
Prof. Jennifer Freyd hat hierzu viel geforscht. Ich kann das Buch sehr empfehlen:
http://www.amazon.de/Betrayal-Trauma-Logic-Forgetting-Childhood/dp/0674068068
Sie selbst hat erst als fortschrittene Forscherin gemerkt, dass sie selbst Opfer sexueller Gewalt war. Sie hat also auch persönlich mit dem Thema zu tun.
Hallo Sven und alle, die das lesen,
der Freundeskreis von Jens Spring hat eine Briefwelle gestartet, vielleicht wollt ihr dabei mitmachen.
http://www.jenssoering.de/briefwelle_heusgen
LG, Heike
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