Montag, 29. Februar 2016

Die Farben der Gewaltfolgen: Kinderbuchautor Janosch.


SPIEGEL-Online (26.02.2016, Janosch-Biografie: "Lieblingsuhrzeit? Nachts, bis vier" - von Kristin Haug) berichtete kürzlich von dem Kinderbuchautor "Janosch". Dieser hatte eine grauenvolle Kindheit. Sein Vater war Alkoholiker und verprügelte seinen Sohn und auch seine Ehefrau u.a. mit einer Lederpeitsche. Aber auch die Mutter schlägt wiederum ihren Sohn. „Daheim schlägt nicht nur der Vater den Sohn, sondern auch die Mutter, die immer grimmig aussieht, weil sie keine Zähne mehr hat. Sie ist ständig gereizt und prügelt so lange auf den Jungen ein, bis er keine Luft mehr bekommt und bewusstlos zusammensackt.“ (ebd.)  Die Mutter habe er lange „wie ein Welt-Unheil“ gehasst, berichtet Janosch.

In einem Interview mit Janosch (welt.de, 24.02.2016, „Kein Gott und kein Schnaps, alles vorbei“ - von Angela Bajorek) las ich folgendes:
Ein Großteil in meinem Gehirn wurde in dieser Kindheit durch den Suff meine Vaters, die Quälerei in der Hitlerjugend und in der Kirche so zerstört, dass es wie ein Ballast tot ist. Mit grenzenloser Furcht zerstört und in diesem Teil immer noch tot. Wie ein Holzbein. Wenn man lange auf seine Hand schlägt, wird sie taub. Und tot. Und stört nur. Ich glaube, das ist eine Notwehr der Natur, damit man den Schmerz nicht mehr fühlt. Furcht vor dem Gott und seiner Hölle. Vor dem Suff des Vaters, der meistens brüllte oder lallte: ´Ich schlag Euch alle tot.`“
Ich habe selten eine solch krasse und offene Aussage von jemandem gelesen, der auf sich selbst und  seine Kindheit schaut...
Dominierend ist ja eher dieses klassische „es hat mir nicht geschadet“ oder das komplette Ausblenden der eigenen Kindheit und deren Folgen. Janosch hat, nach dem was ich las, von beiden Elternteilen (und ergänzend auch in anderen Kontexten) derart massive Gewalt erfahren , dass er auch locker ein Massenmörder hätte werden können. Die meisten als Kind misshandelten Menschen werden allerdings nicht zu Massenmördern. Ich möchte erneut noch einmal deutlich darauf hinweisen, dass ich ganz und gar hinter diesem letzten Satz stehe! Denn mir wurde schon so einige Male vorgeworfen, ich würde durch meine Gedanken der Annahme anhängen, alle misshandelten Kinder würden später zu Gewalttätern. Dem ist aber nicht so.

- Massenmord ist nur eine von vielen möglichen Folgen von Kindesmisshandlung.
- Kindesmisshandlung ist aber die grundlegende Voraussetzung für Massenmord. 
- Und Massenmord an sich ist auch innerhalb eines Menschen nur eine Facette seines Hasses. Ich glaube nicht, dass es Massenmörder gibt, die nicht auch in manch anderer Hinsicht destruktiv gegen sich und andere agieren.

An Janoschs Biografie lässt sich bereits ablesen, dass auch seine Misshandlungsgeschichte nicht ohne Folgen blieb. Er sagte z.B. in dem o.g. welt.de Interview „Ich konnte 40 Jahre lang keinen Tag ohne Alkohol leben.“ Dazu kommen andere Details, die ich hier nicht weiter bewerten möchte. Der zitierte Satz reicht, denke ich, schon aus. Ergänzend half dem Autor vielleicht auch das Schreiben dabei, etwas aus der realen Welt auszusteigen.

Bei der Besprechung der Folgen von Kindesmisshandlung muss man immer komplex sehen und denken.  Menschen sind komplex und verschieden. Die Folgen von Kindesmisshandlung sind komplex und verschieden. Ich finde es mittlerweile fast lächerlich oder auch unaufgeklärt oder sogar naiv, wenn Kritik geübt wird gegenüber der Analyse der Kindheiten von Mördern oder Terroristen. Denn ihre Taten sind nur eine mögliche Farbe der Folgen der Gewalt gegenüber Kindern. Man muss das ganze Bild im Auge haben. Der Autor Janosch ist eines von vielen Beispielen dafür, wie Menschen mit so einer Kindheitsgeschichte umgehen können.


Mittwoch, 24. Februar 2016

Rezension. Joachim Bauer: Schmerzgrenze. Vom Urspung alltäglicher und globaler Gewalt

Am 15.08.2011 hatte ich das genannte Buch von Joachim Bauer bereits besprochen. Meinen damaligen Beitrag lösche ich hiermit und ersetze ihn durch eine aktualisierte Fassung. Grund dafür ist auch, dass meine etwas überarbeitete Buchbesprechung im aktuellen Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 16 veröffentlicht wurde. Nebenbei bemerkt bin ich seit Kurzem auch Mitglied der Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie e.V. (GPPP), was letztlich erst einmal nicht mehr bedeutet, als dass ich den Mitgliedsbeitrag bezahle :-).  Mal sehen, was die Zukunft bringt.

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Rezension
Joachim Bauer: Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. Karl Lessing Verlag, München 2011, 285 S., Preis 18,95 €

Zunächst einmal fand ich es schön, dass der Autor die immer noch weit verbreitete Grundannahme, der Mensch verfüge über einen natürlichen Aggressionstrieb (einer natürlichen „Lust an der Gewalt“), als ein durch heutige Forschungen belegtes unhaltbares Konzept beschreibt. Unser Gehirn sei vielmehr auf Kooperation eingestellt und auf das Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit. Aggressionen gar Gewalt sind – so die Hirnforschung – zunächst einmal keine zentralen menschlichen Handlungsoptionen. Aggressionen sind allerdings etwas Lebenswichtiges. Sie versetzen Lebewesen in die Lage, Schmerz abzuwehren und ihre körperliche Unversehrtheit zu bewahren. Das ist ihre natürliche Aufgabe. Wer sich der Schmerzgrenze eines Lebewesens nähert oder diese überschreitet, wird Aggression ernten.

Das Zentrale an Bauers Buch wird durch folgende zwei Zitate deutlich: „Die Schmerzgrenze wird »aus Sicht des Gehirns« keineswegs nur dann überschritten, wenn Menschen physischer, also körperlicher Schmerz zugefügt wird. Die Schmerzzentren des Gehirns reagieren auch dann, wenn Menschen sozial ausgegrenzt oder gedemütigt werden.“ (S. 58+59)   und
Die Beobachtung, dass soziale Zurückweisung, Ausgrenzung und Verachtung »aus Sicht des Gehirns« wie körperlicher Schmerz wahrgenommen werden, bedeutet einen Durchbruch im Verständnis der menschlichen Aggression. Mit einem Male wird verständlich, warum nicht nur körperlicher Schmerz, sondern auch Ausgrenzung und soziale Demütigungen potente Reize darstellen, die den neurobiologischen Aggressionsapparat aktivieren und Gewalt hervorrufen können.“ (S. 59)

Erfolgreich kommunizierte Aggression ist konstruktiv, so Bauer. Sprich die Menschen, die Verachtung und Ausgrenzung erfahren, müssen dies ausdrücken können und bestenfalls auch eine konstruktive Reaktion bekommen. Aggression, die ihre kommunikative Funktion verloren hat, ist destruktiv. Wichtig fand ich dabei die folgende beiläufige Information im Buch: „Hemmungen und andere Schwierigkeiten, legitime Aggression zu kommunizieren, entstehen vor allem dann, wenn in den Jahren der Kindheit keine sicheren Bindungen zu Bezugspersonen vorhanden waren oder wenn Gewalt erlebt wurde.“ (S. 64) Bauer geht an dieser Stelle, wie auch an anderen Stellen des Buches (siehe unten) immer mal wieder auf die Kindheit ein. Trotzdem hat das Buch die Tendenz, eher soziale Ausgrenzung anzukreiden. Der Autor schreibt: „Armut bedeutet – vor allem für diejenigen, die ihr nicht durch eigenes Verschulden ausgeliefert sind – nicht nur existenzielle Not, sondern ist vor allem eine Ausgrenzungserfahrung. Aus diesem Grunde ist sie auch ein besonders ergiebiger Nährboden der Gewalt.“ (S. 66)  und „Gerechtigkeit ist für eine Gesellschaft die beste Gewaltprävention. (…) Zu den wichtigsten Reizen für Gewalt und kriegerische Auseinandersetzungen auf der internationalen Bühne zählen Armut und der Kampf um knappe Ressourcen.“ (S. 198+199)

Die zentrale These von Bauer ist, dass sich die aus erlittenen Demütigungen und Ausgrenzung erzeugte Aggression oftmals nicht direkt verbal ausdrückt, sondern sich in ein inneres „Aggressionsgedächtnis“ verschiebt (S. 76-79). Gewalt richtet sich dann nicht direkt an die Personen oder Institutionen, die ausgegrenzt haben, sondern an unbeteiligte Dritte. Bauer will so auch brutalste Angriffe und auch Amokläufe erklären. Bzgl. dieses Phänomens geht er auch auf Kindheitserfahrungen ein. „Wer aufgrund früherer, meist in den Kinderjahren erlittener Verletzungen keine tiefe Verbundenheit mit anderen Menschen fühlen kann, hat als Erwachsener bei schwierigen Alltagssituationen schneller als andere das Gefühl, abgelehnt oder verachtet zu werden. Er (oder sie) wird häufiger als andere Menschen eine »gefühlte Zurückweisung« erleben. Entsprechend schneller ist bei solchen Personen die Schmerzgrenze erreicht, und entsprechend steigt das Risiko einer aggressiven Reaktion.“ (S. 70) und „Vernachlässigte oder an Gewalterfahrungen gewöhnte Kinder erleben die Welt als einen gefährlichen Ort. Sie interpretieren, wie Studien zeigen, ihre Umwelt – insbesondere die ihnen begegnenden Menschen - auch dann eher als feindselig, wenn tatsächlich keine Gefahr zu erwarten wäre. Da aggressive Erfahrungen im Gehirn ein Wahrnehmungsschema hinterlassen, gehen von Gewalt betroffene Kinder davon aus, dass auch ihnen unbekannte Menschen feindselige Absichten haben. Die Folge ist eine eingeengte, veränderte Wahrnehmung der Welt.„ (S 83) und „Kinder und Jugendliche, die keine erzieherische Zuwendung erhalten, die vernachlässigt oder mit Gewalt traumatisiert wurden, bleiben hinter dem Entwicklungszeitplan ihres Gehirns in gefährlicher Weise zurück und entwickeln bleibende Hirnreifungsstörungen, die vor allem den Präfrontalen Cortex betreffen und derart schwerwiegend sein können, dass auch spätere Therapien oder andere Korrekturversuche nicht mehr greifen.“ (S. 109)

Der Autor sieht deutlich, wie wichtig Geborgenheit, Anerkennung und Liebe für Kinder ist. Wo diese fehlt, bleiben quasi gespeicherte Aggressionen zurück , die sich zeitlich verschoben destruktiv ausdrücken können. Trotz dieser seiner Erkenntnis nimmt diese gewichtige Grundlage nicht wirklich viel Raum in seinem Buch ein, was verwundert. Armut und soziale Ausgrenzung stehen im Vordergrund. Diesem Themengebiet hat er sogar gleich ein ganzes Kapitel gewidmet: „4. Armut, Ungleichheit und Gewalt“ (S.113-124).
Der Autor geht z.B. auf die Korrelation zwischen Armut bzw. großen Einkommensunterschieden innerhalb von Gesellschaften und Mord-/Todschlagraten ein, um seine These von der Schmerzgrenze zu untermauern. (S. 114-116) Kolumbien belegt einen Spitzenrang, was Mordraten angeht. Die Erniedrigung durch Armut würde das Aggressionspotential steigern, da die psychische Schmerzgrenze überschritten würde. Bauer fragt sich nicht, wie denn eigentlich die dominante Kindererziehungspraxis in Kolumbien aussieht. Der Bericht „Familiäre Gewalt und Kindesmissbrauch in Kolumbien“ (Karnofsky 2005) zeigt auf, dass die Ursachen der Gewalt in den gewaltvollen Kindheiten vor Ort liegen. Ich würde dabei sogar noch weitergehen und die Fragen stellen:

- In wie weit bewirkt eine weite Verbreitung von (schwerer) Gewalt gegen Kinder innerhalb einer Gesellschaft wie Kolumbien, dass sich diese Gesellschaft auch sozial, politisch und ökonomisch nicht wirklich weiterentwickelt und zurück bleibt?

- In wie weit bedingen die gewaltvollen Kindheiten in Kolumbien, dass entsprechend geprägte Menschen, die an Macht kommen, diese nutzen, um andere zu unterdrücken und auszugrenzen und gleichzeitig die Unterdrückten, die einst als Kind gequälten, sich weitgehend in die Opferrolle einfügen, weil sie noch nie anderes erlebt haben?

Aktuell hat auch die weltweit bisher größte Studie (UNICEF 2014) zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder festgehalten, dass in Entwicklungsregionen wie Afrika oder im Nahen Osten das weltweit verglichen höchste Ausmaß von elterlicher Gewalt, dabei auch besonders schwere Formen, gefunden wird. Die Republik Jemen – beispielsweise - ist eines der ärmsten Länder der Welt und das ärmste Land im Nahen Osten. Laut vorgenannter Studie ist es weltweit auf dem ersten Platz bzgl. elterlicher Gewalt gegen Kinder: Innerhalb von 4 Wochen erleben die dortigen Kinder zwischen 2 und 14 Jahren körperliche und/oder psychische Gewalt zu 95 %, nur körperliche Gewalt zu 86 % , besonders schwere körperliche Gewalt zu ca. 43 % und nur psychische Gewalt zu 92 %. (UNICEF 2014, S. 97 + 199) Solche und ähnliche Daten aus älteren Studien, die Bauer hätte verwenden können, fehlen in dem Buch „Schmerzgrenze“.
In seinen Schlussfolgerungen schreibt der Joachim Bauer noch einen wichtigen Satz: „Viele Familien sind, ohne sich dessen bewusst zu sein und ohne dies zu wollen, Brutstätten für eine spätere Gewaltbereitschaft der in ihnen lebenden Kinder. Kinder, die keine zuverlässigen Bindungen zu ihren Bezugspersonen haben, um die sich kaum jemand kümmert und für die niemand Zeit hat, leben im Zustand der Ausgrenzung.“ (S. 194) Trotz dieser Erkenntnis widmet der Autor kein eigenes Kapitel der Kindheit.

Eine enorm wichtige Frage hat sich Joachim Bauer nicht gestellt: Wie gehen Menschen, die als Kind Geborgenheit und Liebe durch mindestens eine elterliche Bezugsperson erlebt haben und bestenfalls keine elterliche Gewalt erlebt haben, später mit erlebter sozialer Ausgrenzung um? Wird die Schmerzgrenze dieser Menschen auch soweit gereizt werden können, dass sie darauf mit Gewalt, Folter, Vergewaltigungen, Krieg und Terror reagieren?

Ich glaube, dass Menschen, die als Kind Geborgenheit und Liebe erfahren haben, nicht gewalttätig auf spätere Konflikte und Ausgrenzungen reagieren werden. Wenn ich damit Recht habe, dann ist Armut und soziale Ausgrenzung nicht der zentrale Punkt, wenn es um die Ursachen von Gewalt geht. Ich glaube allerdings auch, dass Menschen, die als Kind Gewalt, Demütigungen und Missbrauch erlebt haben, wenn sie in ihrem späteren Leben erneute Demütigungen und soziale Ausgrenzungen erleben, ganz besonders reizbar sind und mit enormer Wut und Hass auf diese Dinge reagieren, die sie ja auch schon früh als Kinder erlebten. Sie erleben dann quasi einen Trigger. Kleinste Verletzungen im Alltag können dann zum Auslöser für brutalste Gewalt und Angriffe oder auch eigene Selbstverletzungen werden. Etwas ähnlich hat Bauer es vielleicht auch gesehen. Schade nur, dass er nicht mit aller Deutlichkeit den Ausgangspunkt destruktive Kindheit benannt hat. Entsprechend wurde sein Buch dann auch besprochen. In zwei Beispielen befassen sich die Autoren nicht (Lange, Michael 18.04.2011) oder so gut wie nicht (Lenzen, Manuela 13.04.2011) mit der Kindheit, sondern greifen rein Bauers Konzept von der überschrittenen Schmerzgrenze auf Grund sozialer Ausgrenzungen auf.

Schließlich bleibt mir noch anzumerken, dass Gewalt und Terror in der Geschichte oftmals von Menschen ausging, die alles andere als unterprivilegiert, ausgegrenzt oder arm waren. Der Terrorchef Osama Bin Laden stammte aus einer wohlhabenden saudischen Unternehmerfamilie. Diktatoren im Nahen Osten verfügen oft über ein Milliardenvermögen.  Präsidentenfamilie Bush aus den USA war reich, ebenso wie all die kriegerischen Könige und Kaiser in der Geschichte die Reichsten der Reichen, die Mächtigsten der Mächtigen waren. Das Konzept „Schmerzgrenze überschritten auf Grund soziale Ausgrenzung“ greift zu kurz, wenn es um die ursächliche Erklärung von Gewalt geht.
Trotzdem halte ich das Buch für lesenswert und gedanklich anregend. Es stützt zudem in manchen Punkten psychohistorische Annahmen. Letztlich sind es doch insbesondere Kinder, denen es fast unmöglich ist, ihren Schmerz über erlittene elterliche Gewalt und Demütigungen auszudrücken, weil sie existenziell von ihren Eltern abhängig sind. Und das hat Folgen, auch politisch. Joachim Bauer hat den Zusammenhang von destruktiven Kindheitserlebnissen und Gewaltverhalten wissenschaftlich gut belegt, aber, das bleibt meine Grundkritik, nicht angemessen gewichtet.


Literaturangaben:

Karnofsky, Eva  (2005): Familiäre Gewalt und Kindesmissbrauch in Kolumbien. In: Brennpunkt Lateinamerika 4, Hamburg. S. 34-44

Lenzen, Manuela 13.04.2011: Diesseits der Schmerzgrenze. Faz.net

Lange, Michael 18.04.2011: Angst macht böse, Deutschlandradio Kultur.

UNICEF - United Nations Children’s Fund (2014): Hidden in Plain Sight: A statistical analysis of violence against children. New York. .

Donnerstag, 18. Februar 2016

Wandel der Kindererziehung: Das selbstständige Kind

Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat kürzlich ein interessantes Papier veröffentlicht:
Henry-Huthmacher, Christine  & Hoffmann, Elisabeth  (Hrsg.) (2016). Das selbstständige Kind. Das Kinderbild in Erziehung und Bildung. Sankt Augustin/Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

Die aussagekräftige Inhaltsangabe übernehme ich hier: 
Das Bild vom Kind und die Kindererziehung wurden über Jahrhunderte angepasst an gesellschaftliche Entwicklungen: Das Leitbild des angepassten und braven Kindes ist heute aus der Mode gekommen. Die heutige partnerschaftliche Erziehung berücksichtigt die Interessen und Bedürfnisse des Kindes. Das aktuelle Kinderbild spiegelt sich nicht nur in der Kindererziehung und im Wandel der Kindheit wider. Die Publikation spannt den Bogen über die Bildungspläne in den Kitas, die unterschiedlichen Ausprägungen in den unterschiedlichen Kulturen und Schichten bis hin zum Kindeswohl und den Medien.“

Hierbei muss ich gleich anmerken, dass ich den ersten Satz so nicht stehen lassen kann. Ich gehe eher davon aus, dass beides wirkt. Also zum Einen führen neue Anforderungen und Veränderungen von Gesellschaften sicherlich dazu, dass sich auch „Kindheit“ verändert. (Wenn man ein Negativbeispiel nimmt, passte z.B. der NS-Staat die Erziehung der Kinder seinen Bedürfnissen an.)
Was der o.g. Satz außen vor lässt ist, dass sich positiv entwickelnde Kindererziehungspraktiken ihrerseits die Gesellschaft verändern (dies ist eine zentrale These der Psychohistorie) und diese veränderte Gesellschaft wiederum rück auf „Kindheit“ wirkt. 

Das o.g. Papier ist übersichtlich und verständlich geschrieben. Die Beiträge durchzieht die Grundbeobachtung, dass Kindheit seit Ende der 1960er Jahre stark im Wandel ist und Kinder heute in Deutschland so sicher und „kindgerecht“ aufwachsen, wie noch nie zuvor. Christine Henry-Huthmacher schreibt beispielsweise am Ende ihres Beitrages „Das selbstständige Kind – zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ auf Seite 6: „Kindern geht es heute so gut wie kaum zuvor. Noch nie wachsen Kinder und Jugendliche so sicher umsorgt, gesund, zufrieden, gebildet und wohlhabend auf wie heute.“ Jürgen Oelkers schreibt an einer Stelle in seinem Beitrag „Das öffentliche Kinderbild in modernen Medien“:  „Die Stellung der Kinder in der Gesellschaft hat sich grundlegend geändert, Kinder erleben keinen militärischen Drill mehr, die Kinderarbeit ist abgeschafft worden, der typische Schulmeister ist verschwunden und die Lehrerinnen haben die Schulen erobert. Bildquellen können das gut illustrieren, der Abstand zur Vergangenheit wächst mit jeder neuen Kindergeneration und einen Weg zurück gibt es nicht, auch wenn die „gute, alte Zeit” der Erziehung noch so sehr beschworen wird.“ (Oelkers 2016, S. 19)

Das gehorsame Kind, das sich in ein hierarchisches (Familien-)System einfügen muss und notfalls durch Strafen dazu gezwungen wird, ist nicht mehr Leitbild der Gesellschaft (dies trifft vor allem auf die Mittelschicht zu). In Teilen der unteren sozialen Schichten, wie auch in Teilen von Migrantenfamilien herrscht allerdings immer noch ein anderes Bild von Kindheit.
In dem Band hat Heidi Keller unter dem Titel „Multikulturelle Kinderbilder in Deutschland“ auf diese Gegensätzlichkeit hingewiesen. Bzgl. Teilen von Migrantenfamilien schreibt sie:
Familie wird hier definiert durch ein hierarchisches System von Rollen und Verpflichtungen, das die Beziehungen festlegt. Beziehungen sind verpflichtend, verbindlich und lebenslang. Entsprechend ist das Bild vom Kind das eines Lehrlings, der schnell lernen muss, seinen Platz in dem hierarchischen Sozialsystem einzunehmen und seinen Beitrag zu leisten. (…) Hierarchische Verbundenheit erfordert Anpassung mit Gehorsam und Respekt. Damit wird Bescheidenheit als soziale Haltung erforderlich. Einfügen und nicht Auffallen sind das Leitprinzip, das emotionale Zurückhaltung und Neutralität impliziert und die Gesprächsbeiträge von Kindern an Unterhaltungen auf ein Minimum, meist als Bestätigung dessen, was Ältere sagen, reduziert. Dabei wird viel non verbale, scheinbar bei-läufige Regulation ausgeübt.“ (Keller 2016, S. 16)

Demgegenüber stehen Kinderbilder der deutschen Mittelschicht, die unter dem Oberbegriff Psychologische Autonomie auf folgenden drei Säulen stünden: Individualität, Selbstbestimmung und Selbstreflexion. (Keller 2016, S. 15) Das Konzept von psychologischer Autonomie würde auch pädagogische Institutionen bestimmen, was wiederum zu Konflikten mit Migrantenfamilien führen würde. Teile der Migrantenfamilien „befürchten schädliche Einflüsse auf Entwicklung und Wohlbefinden ihrer Kinder. Entsprechend nehmen sie die Möglichkeiten der Tagesbetreuung und die damit verbundenen Angebote wie das Erlernen der deutschen Sprache nicht in dem Umfang in Anspruch, wie das gesellschaftlich erwünscht und erforderlich wäre, um allen Kindern die gleichen Bildungschancen zu ermöglichen. Umgekehrt wird das kulturelle Modell der hierarchischen Relationalität aus der Perspektive der psychologischen Autonomie häufig als rückständig und defizitär bewertet, was Erziehungspartnerschaften zwischen Familie und Institution zusätzlich belastet.“ (Keller 2016, S. 17)
Und sie fügt weiter an: „Wichtig für multikulturelle Gesellschaften ist es, unterschiedliche Bilder vom Kind als gleichberechtigt und gleichwertig zu betrachten. Jedes Modell hat Vorzüge und Nach­teile, der Vergleich der Vorzüge des einen Modells mit den Nachteilen des anderen Modells ist jedoch keine seriöse Option. Um Kindern faire Chancen in der Gesellschaft zu ermöglichen, muss es möglich sein, unterschiedliche Bilder vom Kind in einer Institution zu leben.“ (ebd.)

Ich glaube, dass die Autorin hier ein Kernproblem beschrieben hat, das uns – gerade auf Grund des Zustroms hundertausender Flüchtlinge – in den nächsten Jahrzehnten stark beschäftigen wird. Ich sehe es nicht so wertneutral wie die Autorin. Ich glaube, dass die Zukunft der Menschheit nur durch ein modernes Familienleben, wie auch besonderer Fürsorge gegenüber Kindern (was natürlich auch Gewaltfreiheit beinhaltet)  gesichert werden kann. Hierarchische Familiensysteme, die den Gehorsm von Kindern voraussetzen und auch erzwingen müssen langfristig abgeschafft werden. Das moderne Familiensystem hat nebenbei den Effekt, dass die Anzahl der Kinder begrenzt werden, weil der Aufwand der psychologischen Autonomie einfach so groß ist, dass mehrere Kinder gar nicht machbar wären. Weniger Kinder würden unserem Planeten gut tun, denn eine weitere Bevölkerungsexplosion ist langfristig nicht verkraftbar.

Um auf den vorgenannten zitierten Teil zurückzukommen: Langfristig muss das Ziel sein, dass Migranten in Deutschland ihre Erziehungsstile anpassen, natürlich mit Unterstützung wie auch mit Druck. (siehe zu dem Thema auch meinen Beitrag  "Islamistischer Terror und Gewalt. Die notwendige Modernisierung der muslimischen Familie") Es ist unrealistisch zu glauben, Institutionen wie Kita und Schule könnten sich hierzulande so flexibel anpassen, dass Kinder, die zu Hause auf Gehorsam getrimmt werden, sich in ihnen gut und konfliktfrei zurechtfinden. Ebenso strukturiert sich der Arbeitsmarkt in Deutschland derartig um, dass freies und flexibles Denken immer wichtiger wird.  Hierarchische Systeme sind langfristig auch in der Berufswelt "out". Nun, das Ganze ist sicher noch mal ein Thema für sich.

Der o.g. Band unterstreicht den massiven Wandel der Kindererziehung in Deutschland. Deswegen finde ich ihn auch besonders wertvoll. Dieser Wandel wird nicht ohne Folgen bleiben, ebenfalls wird auch nicht ohne Folgen bleiben, dass veraltete Erziehungsmethoden und entsprechende Persönlichkeitstypen immer mehr unter Druck geraten. Die Zukunft bleibt spannend.



- siehe ergänzend auch zum Thema bahnbrechende Abnahme von körperlicher Elterngewalt gegen Kinder in Deutschland: "Gewalt gegen Kinder in Deutschland in Zahlen. 1910 bis heute"

Freitag, 12. Februar 2016

Krieg als ein selbstmörderischer Akt

Ich habe in diesem Blog ansatzweise schon hier und da über die selbstzerstörrerische Seite von Kriegen geschrieben, aber diesem Thema bisher noch keinen eigenen Beitrag gewidmet. Das möchte ich hiermit ändern.

Für viele junge kurdische Kämpferinnen sei Arin Mirkan ein Vorbild, sagt Sprecher Ashwin Ramander in der erschütternden ARD-Dokumention „Im Nebel des Krieges“ vom 01.02.2016.
(Die junge Frau und Mutter von zwei Kindern hatte sich 2014 in die Luft gesprengt und mehrere IS-Kämpfer mit in den Tod gerissen. Siehe z.B. einen Bericht von SPIEGEL Online)
Eine junge Kämpferin sagt in der Doku ab ca. Minute 41:30: „Arin Mirkan ist eine Heldin. Auch ich bin bereit mein Leben für unser Land zu opfern. Wir warten alle darauf. Wir haben keine Angst.“. (Hinweis: Hervorhebung durch mich) Und der Sprecher fügt an:„Den Wunsch zu sterben, für die Heimat, für die Freiheit, wie oft habe ich ihn schon auf dieser Reise gehört.“
Der Kriegsreporter Ashwin Raman hat im Sommer 2015 verschiedene Fronten im Nahen Osten aufgesucht und blickt mit diesem Satz zurück auf ein Kapitel des Krieges, das in der Forschung – außerhalb der Psychohistorie – weitgehend ausgeblendet wird: Den selbstzerstörerischen Aspekt oder geradezu die Suizidalität des Krieges.

Kaum ein Forschender fragt sich, ob nicht die furchtbaren Folgen des Krieges die eigentlichen Ziele sind. Man geht davon aus, es gehe vor allem um Gewinn, um einen Sieg, um ein Sich-Durchsetzen, um rationale Entscheidungen. 

Ergänzend möchte ich erneut auf einen Artikel in der ZEIT hinweisen. (03.12.2015, „Aus Sicht der Täter“ 03.12.2015).  Zwei ehemalige IS-Kämpfer kamen in dem Artikel direkt zu Wort. Einer sagte wörtlich: „Der IS ist ein gottloser Geheimdienststaat unter dem Deckmantel der Religion. Die Ideologen haben uns unseren Krieg gestohlen. Sie sind radikal. Sie kommen, um zu sterben. Sie wollen nicht siegen, sie wollen zu Gott.“ Forschende sollten genau solchen und ähnlichen Aussagen einmal systematisch nachgehen.

Eine der für mich eindrucksvollsten Thesen von Lloyd deMause ist genau die, das Kriege eine Art  Opferritual oder ein Akt von Selbstmord darstellen (neben den mörderischen Aspekten, die natürlich auch gelten.). DeMause hat in einem Kurzbeitrag auf youtube die Dinge auf den Punkt gebracht. Der Beitrag steht seit Ende 2007 online und ist bisher gerade einmal 6.350 mal angeklickt worden. Dabei ist sein Inhalt brisant. Er nennt das Beispiel Hitler-Deutschland. Glaubt ernsthaft jemand, Hitler habe den größten und mächtigsten Länder der Welt den Krieg erklärt, um etwas zu bekommen?, fragt deMause. Seine Antwort: Nein, er war suizidal, ebenfalls war Deutschland zu der Zeit suizidal.
Das Offensichtliche scheint hier die Antwort zu sein. Das kleine Deutschland hätte niemals die Welt beherrschen können. Ebenfalls wird der IS in absehbarer Zeit in sich zusammenfallen. Übrig bleibt Leid und Zerstörung, die eigentlichen Ziele von Kriegen.

Donnerstag, 11. Februar 2016

Psychohistorische Einordnung weltweiter Ängste und destruktiver Prozesse

Ich mache mir derzeit viel Gedanken über die Entwicklungen in der Welt. Ich versuche die Dinge zu ordnen und in einen größeren Zusammenhang zu bringen. Dabei kann ich hier nicht all zu sehr auf wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreifen, ausgenommen natürlich die der Psychohistorie. Insofern schreibe ich einfach mal frei drauf los.

Heute las ich im Stern (Nr. 7, 11.02.2016, S. 8) das Ergebnis einer Umfrage bzgl. der Angst vor Zika-Viren (die Medien berichten derzeit stark darüber). 16 % der Deutschen machen sich große oder sehr große Sorgen bzgl. des Virus. Interessant war dabei für mich die Aufteilung nach Altersgruppen:
Die jüngste Gruppe der 18 bis 29 Jährigen machte sich nur zu 9 % Sorgen. Die 30 – 44 Jährigen zu 12 %, die 45-59 Jährigen zu 16 % und die 60+ Generation zu 20 %.

Ich finde Stimmungen und Ängste bzgl. Viren und Krankheiten besonders interessant, wenn sie – nach meiner Wahrnehmung – 1. mehr irrational sind, als rational und sie 2. kurz vor oder während gesellschaftlicher Krisen  oder Kriegen auftauchen. (siehe dazu z.B. meinen früheren Beitrag „Der aktuelle Feind ist ein Keim namens EHEC“)
Die o.g. Ängste scheinen mir deutlich irrationaler Natur. Denn schwerwiegende mögliche Folgen werden laut den Berichten vor allem für Schwangere und deren Fötus erwartet. Diejenigen, die davon am meisten betroffen wären, sofern der Virus überhaupt in Deutschland Fuss fassen würde, wäre die junge Generation, die potentiell Nachwuchs erwarten könnte. Diese hat aber am wenigsten Sorgen. Mir ist bisher keine Studie bekannt, die einmal belastende Kindheitserfahrungen in einen Zusammenhang mit Ängsten vor Viren und Krankheiten gebracht hätte. Dabei wäre dies ganz einfach quantitativ abfragbar. Nun wissen wir ja, dass belastende Kindheitserfahrungen und vor allem auch Gewalt gegen Kinder in Deutschland stetig abgenommen hat und weiter abnimmt. Die 20 % der besonders Besorgten über 60 Jährigen sind also auch statistisch am meisten von Gewalt in der Kindheit betroffen. Ist das jetzt Zufall oder besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und irrationalen Ängsten? Ich persönlich würde auf Letzteres tippen. (Zudem regt der aktuelle Virus ja auch Fantasien und Ängste bzgl. des Fötus an!, was ja an sich schon ein Faden zur Kindheit bildet)

Ich glaube, dass solche Ängste wie die genannten nur ein Part eines Puzzles sind. Speziell in Deutschland kommt u.a. das Erstarken der AFD, Pegida & Co., so wie  fremdenfeindliche Übergriffe und Anschläge hinzu. Bzgl. zu paranoidem Denken neigende einzelnen Menschen aus meinem Umfeld (keine Freunde oder Bekannte !!) ist mir aufgefallen, dass eine Ablehnung von seriösen Medien wie auch des deutschen Staates und der EU an sich sich seit einiger Zeit verstärkt, obwohl diese Leute nicht politisch sind oder waren. Sie fühlen sich verfolgt, ausgebeutet, nicht gesehen und wollen dem Staat so wenig wie möglich geben. (Nebenbei bemerkt finde ich zwei Ausschläge bei googel-Trends interessant. Einmal bzgl. des Begriffs "Feind" gibt es ab 2015 starke Ausschläge nach oben und im Englischen gibt es ebenfalls einen großen Ausschlag bzgl. des Begriffs "fear" (Angst) im Jahr 2015. Ich weiß nur nicht, wie ich das genau einordnen soll und ob dies Zufall ist, möchte es aber hier erwähnen.)

Dazu kommen ähnliche Entwicklungen in Europa mit dem Erstarken rechter/nationalistischer Parteien (Frankreich, Polen, Ungarn, Niederlande usw.), die alle samt Ängste schüren wie auch einfangen und für sich nutzen. In den USA erleben wir seit Monaten das „Phänomen Donald Trump“, das sprachlos macht. Trumps deutliche Hasssprache ist unüberhörbar und mündet neben dem Gutheißen von Folter in dem Satz „Ich könnte wen erschießen und würde trotzdem keine Wähler verlieren.“. Trump spricht vor allem die niederen Emotionen der Menschen oder besser gesagt das Opfer in den Menschen an, das sich klein, verunsichert und gedemütigt fühlt und sich wieder sicher und stark fühlen möchte + einen äußeren Feind braucht.
Diese abenteuerlichen Entwicklungen in der westlichen Welt können meiner Meinung nach nicht getrennt gesehen werden von den kriegerischen und terroristischen Entwicklungen vor allem in Afrika und im Nahen Osten.

DeMause (in anderem Wortlaut auch jemand wie Arno Gruen) hat eindrücklich viel über „Wachstumspanik“ geschrieben, auf die ich hier gar nicht zu tief eingehen möchte sondern auf einen Beitrag von mir verweise, in dem ich dieses Thema bereits besprochen habe. Mein damaliger Beitrag erscheint mir heute wieder aktueller denn je zu sein: „9. Der gesellschaftstheoretische „Hamburger Ansatz“ der Kriegsursachenforschung und die fehlende Verknüpfung mit der Psychohistorie
Die Geschwindigkeit, mit der sich unsere Welt verändert, nimmt immer mehr zu. Digitale und technische Revolutionen finden nicht mehr als ein „Großereignis“ statt, sondern schleichen sich beständig in den Alltag. Und über die digitalen Medien werden auch Menschen in entlegenen Regionen der Welt mit der Modernisierung und auch westlicher Lebenswelt konfrontiert, die noch vor 10 Jahren nichts davon mitbekommen haben. Der Kampf um Rechte von Frauen, Kindern oder Homosexuellen verbreitete sich bis in die letzten Winkel der Welt (u.a. die UN erhöht mit ihren Zielformulierungen den Druck). Gleichzeitig müssen die Menschen immer flexibler werden. U.a. auch bzgl. ihrer Zugehörigkeit zu einer scheinbar homogenen Gruppe. Gerade in Deutschland erleben wir, dass die Welten und Kulturen sich mischen. Wenn ich Berichte über nordafrikanische Länder sehe, wird mir persönlich auch immer bewusster, wie auch dort sich die Extreme und Widersprüche zuspitzen. Vor allem in Bezug auf Geschlechtsrollen. Mittelalterliche Weltbilder bestehen in der selben Stadt, der selben Straße neben modernen, neben z.B. jungen Frauen die sich schminken und nachts Party machen oder jungen arabischen Männern, die Hardrock-Musik live spielen. Das alles ist schwer mit Worten zusammenzufassen. Ich denke aber, dass der geneigte Leser, die geneigte Leserin versteht, was ich grundsätzlich meine.

Dieser steigende Druck, der durch gesellschaftliche Prozesse entsteht (und nicht aufzuhalten ist), wirkt sich allerdings regional unterschiedlich aus. Und zwar je nach der Verteilung von Kindererziehungspraktiken. In West/Nordeuropa haben wir die weltweit verglichen größten Schritte   bzgl. der Kindererziehung gemacht. Bevölkerungsteile, die z.B. besonders schwere elterliche Gewalt häufig erlebt haben, sind hierzulande vergleichsweise selten, während in Afrika oder im Nahen Osten weltweit verglichen am meisten Kinder misshandelt werden. 

Ich glaube, dass Pegida & Co. hierzulande vor allem von Menschen getragen wird, die als Kind sehr viel Destruktivität erlebt haben. (Nur hat das noch keiner abgefragt.) Sicherlich müssen weitere Faktoren einbezogen werden, aber die Kindheit wird leider bisher stark unterschätzt beim Wirken innerhalb solcher Bewegungen. Diese Bewegungen sind aber nur Ausläufer der weltweiten „Wachstumspanik“, die ihr Zentrum derzeit in der arabischen Welt hat. Das alles muss eingeordnet  werden, ist aber auch schwer zu fassen. Deutschland wird dieses „Aufflammen“ verschütteter Kindheitsängste und von Paranoia verkraften. Die Kindheit ist hierzulande zu weit entwickelt, als das sich dieser Trend zu sehr entflammen könnte, trotz derzeitigen Umfragehochs der AFD.

Die Traumatherapeutin und Vorsitzende der Deutsche Gesellschaft für Trauma und Dissoziation hat in ihrem Buch „Der Feind im Inneren. Psychotherapie mit Täterintrojekten.“ (2013 erschienen in
Junfermannsche Verlagsbuchhandlung, Kindle Version) folgendes geschrieben:
„(…) Täterintrojekte werden nicht nur durch Situationen auf den Plan gerufen, die dem ursprünglichem Trauma ähneln; und nicht nur, indem die Original-Täterinnen sie `rufen`. Sondern Täterintrojekte melden sich sehr nachdrücklich auch dann, wenn die Persönlichkeit Fort-Schritte macht. Nämliche Schritte fort von dem, was die Original-TäterIn akzeptabel fände. Nehmen wir als Beispiel eine KlientIn, deren Täter ihr nie erlaubt hätte, eine eigene Wohnung, ein eigenes Auto oder andere Formen von Unabhängigkeit zu haben. Dann sind im Inneren prompt die Täterintrojekte zur Stelle, sobald die Persönlichkeit ernsthafte Anstrengungen unternimmt, eine eigene Wohnung, ein eigenes Auto … zu bekommen.“ (Position 2077 – 2084, Kapitel 9.2.2)
(Täterintrojekte sind verkürzt gesagt Persönlichkeits-Anteile, die in einem Mensch (vor allem wenn Kinder Opfer werden) verborgen wirken und vom ursprünglichen Täter/Täterin (in großer persönlichen Not des Opfers) übernommen wurden, ohne dass den Betroffenen dies bewusst ist. Es gibt verschiedene Arten, diese Wirkung von traumatischen Erfahrungen zu beschreiben. Arno Gruen hat z.B. vom „Fremden ins uns“ gesprochen und von der „Identifikation mit dem Aggressor“.  )
Menschen, die durch Fortschritte und starke gesellschaftliche Veränderungen (die ihnen auch von Außen aufgezwungen werden oder sie gefühlt bedrohen) "getriggert" werden, unternehmen mehr oder weniger unbewusst alles (bzw. ihr Täterintrojekt übernimmt das Ruder), damit es wieder Rückschläge gibt, damit Fortschritt ausgebremst, Wachstum reduziert wird. Das gilt für den (noch verhältnismäßig harmlosen) Pegida-Demonstranten in Deutschland genauso wie für den Kämpfer und Mörder in Syrien.

Jemand wie DeMause hat diese Erkenntnis aus dem vorgenannten Zitat aus der Traumatologie auch politisch gedeutet und mit gesellschaftlichen Veränderungen und Fortschritt verknüpft.
Der Großteil der Welt ist immer noch am Sprung in die Moderne, wird gerade erst frei, demokratisch und wohlhabend, ist aber hinsichtlich Kindererziehung noch nicht modern – insofern durchlaufen diese Nationen nun den gleichen schweren Wachstumspanikprozess, den Deutschland in der Mitte des 20. Jahrhunderts durchmachte. Wir können deshalb in den kommenden Jahrzehnten höhere Todesraten durch Krieg und Demozid in den sich entwickelnden Ländern erwarten.“ (DeMause 2005., S. 164ff) Genau das erleben wir gerade.