Lenin (eigentlich Wladimir Iljitsch Uljanow, im Text bleibe ich aber bei "Lenin") wird von verschiedenen Autoren als Diktator bezeichnet, teils auch als Massenmörder und natürlich als Wegbereiter zur stalinistischen Diktatur und Schreckensherrschaft. Vor allem seine Beteiligung am sogenannten „Roten Terror“ sprechen Bände. Ebenso gilt das – von Lenin befohlene - Massaker an der Zarenfamilie im Jahr 1918 „als Symbol für die Grausamkeit des bolschewistischen Regimes“. (von Flocken 2015)
Ich hatte schon vor einiger Zeit vier Biografien über Lenin durchgearbeitet. Dabei sind mir vor allem Widersprüche bzgl. der Schilderungen über seine Kindheit aufgefallen. Die Autoren zeichnen oberflächlich ein scheinbar normales Bild einer „sorglosen Kindheit“ (Ruge 2010, S. 25) Doch stimmt dies so? Meine Grundthese lautet bekanntlich, dass als Kind geliebte Menschen keine Massenmörder und/oder Diktatoren werden. Bei der jetzt erneuten Durchsicht der vier Arbeiten zeigt sich mir, dass es auch in Lenis Kindheit nicht wirklich heiter zuging.
Der Biograf David Shub (1958) beschreibt wenig Erhellendes über Lenis Kindheit. Allerdings erwähnt der Autor beiläufig einiges, was mich aufhorchen ließ. Lenis Vater wird dem Urteil eines Freundes nach als „starker, charakterfester Mensch, der sehr streng gegen seine Untergebenen war“ beschrieben. (Shub 1958, S. 29) In einem Empfehlungsschreiben für die Universität schrieb der Direktor des Gymnasiums und (nach dem Tod des Vaters per Testament bestimmten) Vormund Lenins – Fedor Kerenskij – u.a. „Sowohl in geistiger wie in sittlicher Beziehung wurde er aus sorgfältigste erzogen (…) zuerst von beiden Eltern und nach dem Tod des Vaters von der Mutter, die ihre ganze Fürsorge und Aufmerksamkeit der Erziehung ihrer Kinder widmete. Religion und strenge Zucht bildeten die Grundpfeiler dieser Erziehung, ihnen verdankt Uljanow sein vorbildliches Betragen.“ (ebd., S. 32) Der Biograf Stefan T. Possony beschreibt Lenins Vater allgemein als einen „auf strenge Zucht bedachten Mann“. (Possony 1965, S. 19) Ein paar Seiten weiter schreibt der gleiche Autor widersprüchlicher Weise, Lenis Vater schien gegenüber den Kindern „nicht streng gewesen“ zu sein, „wenn er auch, was keinem Zweifel unterliegt, zurückhaltend und ohne Wärme war.“ (ebd., S. 25)
Was bedeutet in diesen Zitaten das Wort „streng“ oder „Zucht“? Der Vater war streng, die Mutter war streng, gut, aber was für ein Verhalten gegenüber den Kindern und was für Strafen beinhaltete dies? Diese Frage bleibt im Raum, gibt aber begründeten Anlass für Spekulationen (zumal Lenin im Jahr 1870 geboren wurde und wir heute wissen, was sich hinter Worten wie „streng“ und „Zucht“ bzgl. der damaligen Kindererziehung oftmals verbarg.)
Wolfgang Ruge schreibt, dass wenig über das Verhältnis Lenins zu seinem Vater bekannt sei, zu seiner Mutter habe Lenin allerdings stets ein gutes Verhältnis gehabt. (Ruge 2010, S. 26+27) Ebenfalls beschreibt Possony Lenis Mutter als „allen ihren Kindern eine zärtliche Mutter“. (Possony 1965, S. 19) Ob dieses Bild der Mutter der Realität entspricht, werden wir im Textverlauf vielleicht noch klären.
Eindeutig war das eheliche Verhältnis von Lenis Eltern sehr belastet. Lenins Mutter – Maria – bereute bald nach der Eheschließung ihre Wahl, da ihr Mann „außer seiner Arbeit im Institut für Adlige noch mehrere andere Ämter innehatte und nur selten zu Hause war. Er hatte Schwierigkeiten mit einigen seiner Schüler, war übellaunig und fühlte sich von seiner Frau gelangweilt. Die Schwester Anna ging auf Marias Klagen ein und tadelte Ilja wegen der Vernachlässigung seiner Frau und wegen seines mangelnden Interesses an einem Familienleben; aber Maria erkannte, dass es das Los vieler Ehefrauen wäre, einsam zu sein.“ (Possony 1965, S. 21) In der Folge scheint es erhebliche Spannungen in der Familie gegeben zu haben. „Maria war eine Zeitlang ohne Grund eifersüchtig und wurde immer reizbarer und launischer. Sie gab die Musik auf, stand spät auf und vernachlässigte ihren Haushalt. Seit ihrem Umzug nach Nishni-Nowgorod teilte das Ehepaar Uljanow nicht mehr das Schlafzimmer. Ilja schlief in seinem Arbeitszimmer und Maria im Schlafzimmer mit ihrem Kind.“ (Possony 1965, S. 22) In der Folge war Maria zukünftig froh, wenn ihr Mann das Haus verließ, schreibt Possony weiter. Wie mag sich diese Atmosphäre zwischen den Eheleuten auf die Kinder ausgewirkt haben?
Nichts desto trotz bekam das Paar acht Kinder, wovon allerdings zwei im Säuglingsalter verstarben. (Service 2000, S. 49) Da der Vater oft abwesend war und die Mutter so viele Kinder zu versorgen hatte, ist zu vermuten, dass die Kinder auch alleine auf Grund der Rahmenbedingungen vernachlässigt wurden.
Dass die Mutter sehr gefordert war zeigt auch ein weiterer Sachverhalt. Um die Zeit der Geburt Lenins nahm die Familie eine Bäuerin bei sich auf und in ihre Dienste. Sie zog den kleinen Lenin auf, schreibt Passony. (Possony 1965, S. 25) Über die Art und Weise des Umgangs mit dem Kind erfährt man leider nichts von dem Biografen, obwohl der Einfluss dieser Frau sicher bedeutsam war. Sie blieb bis zu ihrem Tod im Jahr 1890 in der Familie.
Über den Stand des Vaters in der Familie gibt es eine weitere, sehr aufschlussreiche Textstelle. Am 12.01.1886 starb Lenis Vater unerwartet während des Mittagsessens; Lenin war zu der Zeit 16 Jahre alt. „Die Hinterbliebenen waren nur wenig betroffen, da Iljas Tod keine bedeutenden Veränderungen im Leben seiner Familie zur Folge hatte.“ (Passony 1965, S. 26)
Auch der Biograf Robert Service berichtet widersprüchliches: „Die warme Geborgenheit in der Familie hielt Vladimir nicht davon ab, sich asozial gegen seine Geschwister zu verhalten. Es gab immer eine Spur von Bosheit in seinem Charakter.“ (Service 2000, S. 62) Ebenso passt nicht wirklich zu einer „warmen Geborgenheit“, dass die Erfolgserwartungen der Eltern „gewaltig waren“, wie Service schreibt. (ebd., S. 63) Der junge Lenin wurde einige Jahre lang von diversen Privatlehrern auf die Schule vorbereitet. (ebd., S. 64) Die Zeit auf dem Gymnasium wird für Lenin prägend gewesen sein. „Disziplin wurde rigoros durchgesetzt. Wie andere Schuldirektoren jener Zeit arbeitete Kerenskij mit Prügel, Arrest, Strafaufgaben und vielen Moralpredigten, auch wurden die Schüler am Simbirsker Gymnasium – wie an allen übrigen zaristischen Schulen – von den Lehrern zur Denunziation ihrer straffällig gewordenen Kameraden angehalten. Eine solche Schule war für die meisten Schüler unerfreulich. Die Disziplin war lästig, mitunter brutal, die Arbeitsbelastung enorm, der Stoff ohne jeden Bezug zum täglichen Leben. Zwar blieben Vladimir die schlimmsten disziplinarischen Maßnahmen erspart, doch ist kaum anzunehmen, dass das Schulerlebnis keine negativen Spuren in seinem Bewusstsein hinterlassen haben sollte.“ (Service 2000, S. 66)
Wie ich oben im Text beschrieben habe, wurde dieser strenge Schuldirektor später - nach dem Tod des Vaters – der Vormund von Lenin. Lenins Eltern hielten offensichtlich sehr viel von diesem Mann und seinen Methoden. Vielleicht erzählt dieser Sachverhalt auch ein wenig davon, was im Hause Lenin unter „Strenge“ und „Zucht“ verstanden wurde. Dies bleibt natürlich Spekulation. Anders als bei anderen Diktatoren und Massenmördern finden sich keine genauen Informationen über elterliche (körperliche) Gewalt gegen die Kinder. Aber es finden sich auch – trotz mancher Deutungsausbrüche der Biografen - keine Hinweise darauf, dass in Lenins Familie liebevoll und gewaltfrei erzogen wurde. Die oben zusammengetragenen Informationen sind eindeutige Indizien für eine wenig freiheitliche und emotional eng verbundene Familie.
Eine Textstelle ist für mich ganz besonders zentral! Sie beginnt erneut mit einem Widerspruch seitens des Biografen. Service schreibt zunächst bzgl. der Erziehung in Lenis Familie: „Strafen wurden selten für nötig erachtet.“ (ebd., S. 60) Um dann anzuschließen, Lenis Vater hatte „ein aufbrausendes Temperament, und seine Kinder fürchteten seine Missbilligung auch dann, wenn sein Beruf ihn zu langen Reisen durch das Gouvernement Simbirsk entführte. In solchen Zeiten bestrafte Maria Alexandrovna ein unartiges Kind damit, dass sie es auf einen Stuhl im Arbeitszimmer des Vaters verbannte, wo es mucksmäuschenstill sitzen musste. Dieser Stuhl hieß ´der schwarze Stuhl`. In Erinnerung blieb der Familie die Episode, wie Volodja (Anmerkung: Rufname für den kleinen Lenin), nachdem er irgend etwas angestellt hatte, auf den schwarzen Stuhl geschickt wurde, wo ihn die Mutter dann stundenlang vergaß. Bei allem Mutwillen wagte er nicht, aufzustehen oder sich zu rühren, bis die Mutter ihn wiederholte.“ (Service 2000, S. 60)
Ein Kind, das so viel Angst davor hat, sich vom angewiesen Platz stundenlang nicht zu rühren, muss vorher „etwas“ erlebt haben. Es muss Strafen, Drohungen oder anderes in der Familie erlebt haben, ansonsten ist diese enorme Angst nicht erklärbar. Das vorgenannte Zitat zeigt auch, dass Lenins Mutter eine für das Kind bedrohliche Rolle eingenommen hat und psychische Gewalt ausübte, entgegen den idealisierenden Schilderungen der Biografen.
Außer den oben genannten Kernereignissen ist ein weiteres Ereignis in Lenins Jugend von Bedeutung. Nachdem Lenis Bruder Alexander ein Attentat auf den Zaren geplant hatte, wurde er am 08.05.1887 hingerichtet. Dies traf den jungen Lenin nachhaltig und er schwur Rache. Nachdem Lenin die Nachricht vom Tod seines Bruders erhalten hatte, schrie er: „Das sollen sie büßen, das schwöre ich.“ (Shub 1958, S. 10) Später sollte er – wie oben bereits erwähnt – die Ermordung von Zar Nikolai II. und dessen Familie befehlen. Dieser war der Sohn von Alexander III., auf den Lenins Bruder Alexander ein Attentat geplant hatte. Nachdem ihr Sohn hingerichtet worden war, dachte Lenins Mutter zunächst an Selbstmord. (Service 2000, S. 90) Für die Familie war dies Ereignis offensichtlich traumatisch.
Die Kindheit und Jugend von Lenin ist nicht so gut beleuchtet wie die anderer Diktatoren. Ich denke allerdings, dass ich oben herausstellen konnte, dass der junge Lenin schwer belastet war, in mehrfacher Hinsicht. Am Ende dieses Textes stelle ich dies noch mal zusammenfassend dar:
- Strenge Eltern, die hohe Ziele für ihre Kinder hatten und entsprechenden Leistungsdruck ausübten
- Ein emotional enorm gespanntes Verhältnis zwischen beiden Eltern
- Ein abwesender und desinteressierter Vater, der zudem früh verstarb. (Wobei unklar ist, ob und wie sein Tod Lenin belastete)
- Eine Art Weggabe des Säuglings Lenin an eine Bäuerin, die im Haus wohnte und ihn großzog.
- Psychische Gewalt und Strafen
- Miterleben einer kalten und strafenden Schule
- Traumatisches Ereignis: Hinrichtung des Bruders
Dazu kommt, dass ich persönlich vermute, dass es auch Körperstrafen gab (vor allem seitens des Vaters, der als streng und aufbrausend beschrieben wurde, ggf. auch durch die Bäuerin, die Lenin aufzog) und dass psychische Drohungen und Gewalt keine Seltenheit in der Familie waren, ansonsten wäre die starke Verängstigung des jungen Lenin wie oben beschrieben auf dem „schwarzen Stuhl“ nicht zu erklären. Auch spricht das grausame Verhalten von dem erwachsenen Lenin dafür, dass die Belastungen als Kind enorm waren und entsprechend folgenreich.
Quellen:
Possony, Stefan T. (1965). Lenin. Eine Biographie. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik.
Ruge, Wolfgang (2010). Lenin. Vorgänger Stalins. Berlin: Matthes & Seitz Verlag.
Service, Robert (2000). Lenin. Eine Biographie. München: Deutscher Taschenbuchverlag.
Shub, David (1958). Lenin. Wiesbaden: Limes Verlag.
von Flocken, Jan (2015, 17.07.). Grausamkeit trieb Lenin zur Ermordung des Zaren. welt.de
Montag, 23. Mai 2016
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