Mittwoch, 12. Juni 2019

„Arabien ist die traurigste Region der Welt“ und die tieferen Ursachen dafür


Immer wieder fallen mir in Berichten Zusammenhänge zu Kindheitserfahrungen auf. Ein aktueller Bericht sticht dabei besonders heraus, insofern muss ich jetzt etwas dazu schreiben.

 Mehrere Studien und Experteneinschätzungen legen einem Bericht der Wirtschaftszeitung brand eins (04/2019, "Trauriges Arabien" von Mareike Enghusen) nahe: „Arabien ist die traurigste Region der Welt.“ Die Raten von Depressionen und anderen psychischen Leiden würde in der arabischen Region deutlich über dem Durchschnitt der Welt liegen. In Ägypten beispielsweise leidet jeder vierte Mensch unter seelischen Problemen, meist Depressionen und Angstzuständen. In Palästina gehen dortige Psychiater von einer Depressionsrate zwischen 30 und 40 Prozent aus. Der Artikel ist deutlich ausführlicher und ich verweise entsprechend darauf. Trotz dieser Ausführlichkeit taucht in dem Artikel nicht ein einziges Mal das Wort „Kindheit“ auf.
Kulturelle und religiöse Normen, Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, auch Kriegs- und Terrorerfahrungen werden u.a. als Ursachen für seelisches Leid genannt. Aber Kindheitserfahrungen? Kein Wort davon!

Der Autorin kann man dabei kaum einen Vorwurf machen. Das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder und von weiteren kindlichen Belastungsfaktoren im arabischen Raum ist im öffentlichen Bewusstsein noch nicht angekommen. Die große UNICEF-Studie aus dem Jahr 2014 wurde zwar in (kleinen) Artikeln hier und da besprochen, aber das reichte nicht aus, um ein bleibendes Bewusstsein für das enorme Ausmaß der Gewalt zu schaffen. Der arabische und auch afrikanische Raum ist weltweit führend, was die Misshandlung von Kindern angeht...

Hier noch einmal die Zahlen für Ägypten und Palästina aus der UNICEF-Studie (Zahlen gelten für Gewalterleben von Kindern im Alter von 2 - 14 Jahren innerhalb eines Monats vor der Befragung, das Gewalterleben für die gesamte Kindheit dürfte entsprechend höher sein):

Ägypten
körperliche und/oder psychische Gewalt: 91 %
körperliche Gewalt:  82 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 42 %
psychische Gewalt: 83 %

Staat Palästina
körperliche und/oder psychische Gewalt: 93 %
körperliche Gewalt:  76 %
besonders schwere körperliche Gewalt: ca. 27 %
psychische Gewalt: 90 %

Im Falle von Ägypten kommt eine weitere Besonderheit hinzu: Noch in unserer heutigen Zeit ist die Genitalienverstümmelung in Ägypten sehr weit verbreitet; 91 % aller ägyptischen Frauen zwischen 15 und 49 Jahren wurden genital verstümmelt (UNICEF – United Nations Children´s Fund. (2013): Female Genital Mutilation/Cutting: A statistical overview and exploration of the dynamics of change. New York. , S. 26).

Diese Daten muss man zusammendenken mit den bekannten möglichen Folgen von Kindesmisshandlung und dabei besonders den massiv erhöhten Wahrscheinlichkeiten für Suizid, Depressionen und psychische Krankheiten wie sie in den ACE-Studien (Verknüpfung von belastenden Kindheitserfahrungen mit dem Gesundheitszustand von Erwachsenen) festgehalten wurden.
Befragte mit einem ACE-Wert von vier und mehr (also mehrere erlittene belastende Kindheitserfahrungen) haben beispielsweise ein um 460% erhöhtes Risiko an einer Depression zu erkranken und ein um 1.220 % erhöhte Wahrscheinlichkeit eines Suizidversuches, als jemand mit einem ACE Wert von null (Felitti, V. J. (2002): Belastungen in der Kindheit und Gesundheit im Erwachsenenalter: die Verwandlung von Gold in Blei. In: Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Jg. 48, Nr. 4, S. S. 365+366).
Ab einem ACE Wert von sechs und höher ist die Wahrscheinlichkeit für einen Suizidversuch sogar um 3.000 bis 5.100 % erhöht (Felitti, V. J., Fink, P. J., Fishkin, R. E. & Anda, R. F. (2007): Ergebnisse der Adverse Childhood Experiences (ACE) – Studie zu Kindheitstrauma und Gewalt. In: Trauma & Gewalt. Jahrgang 1, Heft 2. S. 26).

Es braucht viel mehr Aufklärung über Ausmaß und mögliche Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen. Nur dann können gesellschaftliche Phänomene richtig und umfassend erklärt werden. Nur dann kann auch eine nachhaltige Prävention stattfinden. Wer wundert sich im Angesicht der aufgezeigten Daten ernsthaft darüber, dass die Menschen vor Ort psychisch krank werden? Und wer wundert sich ernsthaft darüber, dass Demokratisierungsprozesse in der arabischen und afrikanischen Region derart schwierig vorankommen bzw. oft sogar noch Rückschritte gemacht werden?

(Übrigens: Suizid ist im Islam eine große Sünde. Dagegen wird jemand, der als Märtyrer stirbt, oft hoch verehrt. Ich frage mich nicht das erste Mal, ob nicht die selbstdestruktiven Prozesse im arabischen Raum, dabei vor allem auch die Terrorwellen, einfach nur Ausdruck einer kollektiven Suizidalität sind. Da der Suizid religiös ein Tabu ist, werden andere Wege gefunden, damit massenhaft Menschen in den Tod gehen. Ein ehemaliger, ernüchterter Kämpfer des IS sagte beispielsweise in einem ZEIT-Interview: "Der IS ist ein gottloser Geheimdienststaat unter dem Deckmantel der Religion. Die Ideologen haben uns unseren Krieg gestohlen. Sie sind radikal. Sie kommen, um zu sterben. Sie wollen nicht siegen, sie wollen zu Gott.")

1 Kommentar:

Peter J. hat gesagt…

Sehr interessant! Danke für den Hinweis! LG Peter