Freitag, 31. Januar 2020

Holocaust. "Wann sprechen wir endlich über die Täter?": Offener Brief an Filipp Piatov

Dieser Offene Brief bezieht sich auf den Kommentar von Filipp Piatov in BILD-Online vom 28.01.2020 ( "Wann sprechen wir endlich über die Täter?")

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Lieber Herr Piatov,

mit großem Interesse habe ich Ihren Artikel „Wann sprechen wir endlich über die Täter?“ gelesen.
In vielem sprechen Sie mir aus dem Herzen. Letztlich ist es aber auch so, dass sich Teile der Wissenschaft sehr wohl und ausführlich mit den NS-Tätern befassen und befassten. Nur im öffentlichen Raum und Bewusstsein kommt der Blick auf die Täter viel zu selten vor und darum ging es Ihnen wohl auch.
Nun kommt mein Anliegen bzw. meine Anregung an Sie: Ich teile wie gesagt in fett gedruckten Buchstaben Ihren Satz. „Wann sprechen wir endlich über die Täter?“. Ich persönlich bin darüber hinaus noch einen Schritt weiter. Meine Fragen lauten: „Wann sprechen wir endlich über die wesentlichen Gemeinsamkeiten der Täter? Wann sprechen wir endlich über die Kindheiten der Täter?

Und ja, dies ist ein Bereich, bei dem sich i.d.R. auch die Wissenschaft blind stellt, was erstaunt. Denn mittlerweile kann man viel zu den Kindheitshintergründen der NS-Täter finden.

Ich selbst habe 2019 ein Buch dazu veröffentlicht: „Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen“

Darin habe ich die Kindheiten von Adolf Hitler, Rudolf Heß, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Martin Bormann, Albert Speer, Julius Streicher, Karl Dönitz, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höß, Josef Mengele, Adolf Eichmann, Alfred Filbert, Amon Göth und Reinhard Heydrich analysiert. Die Kindheits-Erfahrungen dieser Akteure reichten von Misshandlungen über Demütigungen, autoritäre Erziehung, emotionaler Kälte, Vernachlässigung, Zwängen, Gehorsamsforderungen, Miterleben von Gewalt, Außenseiterstatus, Ehekrisen der Eltern, Suchtverhalten von Elternteilen, Nahtoderfahrungen bis zu Trennung von der Familie und/oder bis zum Tod von Geschwistern und Elternteilen. Dominierend in der Kindheit der NS-Täter war eine strenge und autoritäre Erziehung. Ich habe ergänzend bisher weitere Kindheiten analysiert, z.B. von Alfred Jodl und Robert Ley. Auch dort wurde ich fündig und fand deutliche Belastungen in der Kindheit. Derzeit arbeite ich weitere Biografien von NS-Tätern durch.

Ergänzend dazu habe ich in meinem Buch das Ausmaß von körperlicher Gewalt gegen Kinder und auch von so etwas wie „elterlicher Zuwendung“ in Deutschland erfasst. Je mehr wir uns den Geburtsjahrgängen um die ca. 1930 annähern, desto mehr Gewalt und desto weniger Zuwendung erlebten nachweisbar die Kinder. Der Psychohistoriker Lloyd deMause hat zwei eindrucksvolle Texte geschrieben, die ich Ihnen – neben meinem Buch – sehr empfehle: „The Childhood Origins of World War II and the Holocaust“ und The Childhood Origins of the Holocaust. Er macht klar, dass die Mehrheits-Kindheit im Deutschen Reich um 1900 ein reiner Alptraum war.

In meinem Buch schließe ich mich seinem Schluss an, dass diese alptraumhaften Kindheiten das Fundament für die NS-Zeit und auch den Holocaust bildeten. Umgekehrt ist es so, dass weit verbreitete alptraumhafte Kindheiten nicht zwangsläufig in einer Gesellschaft zu Auswüchsen führen, die wir ab 1933 sahen. Dazu ist die Welt zu komplex, dazu sind die Einflüsse und Rahmenbedingungen zu unterschiedlich, zu umfassend und auch zu verzahnt. Aber: Die destruktiven Kindheiten bildeten das Fundament! (Nebenbei bemerkt sehen wir dies auch heute noch in Ländern wie z.B. Syrien, Afghanistan, im Irak oder sogar auch in den USA, in diesen Ländern finden wir ein enorm hohes Ausmaß von Gewalt gegen Kinder und weiteren Belastungen von Kindern.)

In meinem Buch habe ich ein persönliches Nachwort geschrieben. Daraus möchte ich hier zitieren:

Mir selbst haben meine jahrelangen Recherchen und jetzt auch mein Text irgendwie Ruhe und auch Frieden gebracht. Mein Großvater väterlicherseits war ein überzeugter Nazi und bei der SS. Meine anderen Großeltern hielten einfach ihren Mund während der NS-Diktatur. Diese familiäre Geschichte und die NS-Zeit in meinem Heimatland an sich haben mich schon früh sehr aufgewühlt. Die Frage nach dem Warum tauchte auf, aber auch die Frage, ob so etwas hierzulande wieder passieren könnte. Ich selbst habe nach meinen Recherchen für mich Antworten gefunden. Ich kann heute aus meiner Sicht sagen, dass sich die NS-Zeit in dieser Form niemals hierzulande wiederholen könnte, egal wie die Rahmenbedingungen sich entwickeln. Mit der neueren Generation in Deutschland (die im Buch oben ausführlich beschrieben wurde), die weitgehend gewaltfrei, nicht-autoritär und umsorgt aufwachen durfte, wird es weder einen großen Krieg, noch einen Genozid geben. Dies wäre, davon bin ich überzeugt, unmöglich. Diese neue Generation wird ganz selbstverständlich auch später ihre eigenen Kinder ähnlich umsorgt und gewaltfrei erziehen und wahrscheinlich sogar noch weitere Verbesserungen erreichen.“

Steinmeier sagte wörtlich in seiner Rede in der Gedenkstätte Yad Vashem: „Weil ich dankbar bin für das Wunder der Versöhnung, stehe ich vor Ihnen und wünschte, sagen zu können: Unser Erinnern hat uns gegen das Böse immun gemacht. Ja, wir Deutsche erinnern uns. Aber manchmal scheint es mir, als verstünden wir die Vergangenheit besser als die Gegenwart. Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentieren ihr antisemitisches, ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Antwort für die Zukunft, als neue Lösung für die Probleme unserer Zeit. Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt. Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten.“

Natürlich haben wir weiterhin Probleme (Rechtsextremismus, AfD, Antisemitismus usw.) in Teilen unserer Gesellschaft und die werden kurzfristig auch nicht verschwinden. Es war richtig, dass Steinmeier dies angesprochen hat. Was er übersehen und wohl auch gar nicht wirklich darüber nachgedacht hat ist, dass die emotionale Lage der heutigen Nation in Deutschland eine ganz andere ist. Viele Menschen in Deutschland sind heute nicht mehr derart „emotional bewaffnet“ wie Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Kindheiten wurden und werden immer friedlicher in unserem Land. Weitere traumatische Erfahrungen nahmen ergänzend gravierend ab (z.B. sterben Eltern und Geschwister nicht mehr so oft, wie dies um 1900 noch der Fall war; Gewalt durch Lehrer wurde verboten usw.). Und: Seit den 1980er Jahren wurde das psychotherapeutische Angebot in Deutschland stetig und massiv ausgeweitet. Wem es schlecht geht, wer Schlimmes erlebte, wer in Gefahr ist, sich selbst oder Anderen etwas anzutun, der kann auf Hilfen zurückgreifen.

All dies ist ein Modell auch für den Rest der Welt, für Frieden in der Welt. In Deutschland wird es nie wieder so etwas wie Ausschwitz geben, weil die Menschen emotional und psychisch viel weiterentwickelt sind. Und an dieser Entwicklung ist ganz wesentlich die stetige Verbesserung der Kindererziehungspraxis und Kinderfürsorge beteiligt. So etwas in Jerusalem auszusprechen, wäre ganz sicher zu viel gewesen. Es wäre auch einfach unpassend, ja sicher. Aber: Die Medien sollten dieses Thema aufgreifen und darüber debattieren. Darum schreibe ich Sie an. Mein Schreiben veröffentliche ich auch als „Offenen Brief“ in meinem Blog: www.kriegsursachen.blogspot.de.

Viele Grüße

Sven Fuchs

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