Freitag, 24. Januar 2020

Islamistische Radikalisierung: Religion, Milieu oder doch viel mehr die Kindheit?


Ich habe eine in doppelter Hinsicht interessante Studie zum Thema islamistischer Radikalisierung durchgearbeitet: Aslan, E.,  Akkılıç, E. E. & Hämmerle, M. (2018): Islamistische Radikalisierung: Biografische Verläufe im Kontext der religiösen Sozialisation und des radikalen Milieu (Wiener Beiträge zur Islamforschung). Springer VS, Wiesbaden. 

Ich betone „in doppelter Hinsicht“! Denn der Umgang mit den Ergebnissen und Interviews durch die Forschenden ist auf eine Art schon ein Thema für sich. Die zentrale Forschungsfrage war, wie die Rolle der Religion im Prozess der Radikalisierung ist. Die Autoren schreiben zusammenfassend:
Die vorliegende Studie hat gezeigt, dass es sich bei dieser Form der Radikalisierung um einen aktiven Prozess der Auseinandersetzung des Individuums mit bestimmten religiösen Lehren, Normen und Wertvorstellungen handelt. Dabei radikalisieren sich Individuen nicht isoliert, sondern in direkter Auseinandersetzung mit einem sozialen Umfeld, das in dieser Studie als radikales Milieu bezeichnet wird. Dieses engere soziale Umfeld stellte sich in der Studie als einer der zentralen Punkte für den Radikalisierungsprozess der interviewten Personen dar“ (S. 265).

Nun ist es so, dass ich den Einfluss des radikalen Milieus gar nicht gering reden möchte. Ebenso wenig wie die Suche dieser Akteure nach einem Sinn oder einfach nur der Ausübung einer Religion. Die Ursachenkette ist komplex.
Was mich beim Umgang der Forschenden mit ihren Ergebnisse allerdings gewundert hat ist, dass sie die Kindheitserfahrungen nicht betont und hervorgehoben haben. In anderen Studien (die BKA-Studie „Die Sicht der Anderen“ z.B. ist den Forschenden bekannt) wurde betont, dass destruktive Kindheitserfahrungen und die Suche nach Familienersatz ganz wesentlich den Weg in das radikale Milieu (der „Ersatzfamilie“) begünstigt haben. Daraus leite ich die These ab, dass als Kind weitgehend unbelastet aufgewachsene und geliebte Menschen ein solches Milieu meiden würden, wenn sie durch Zufälle oder Begegnungen darauf stoßen.

Auch das Autorenteam Aslan et al. (2018) (die o.g. Studie) hat ganz deutlich destruktive Kindheitserfahrungen erfasst. Trotzdem wurden wesentlich (ganz im Sinne der Ausgangsforschungsfrage) nur das soziale Umfeld und die Religion hervorgehoben, was erstaunt. Die Studie von Aslan et al. reiht sich letztlich in etliche Extremismusstudien (eine Übersicht hier) ein, die ich hier im Blog oder in meinem Buch bereits besprochen habe. Der rote Faden, der sich auch hier findet, sind belastende Kindheitserfahrungen.

Kommen wir also zu den Ergebnissen der o.g. Studie: 

2016 wurden von dem Forscherteam 29 Interviews durchgeführt, davon 26 in Gefängnissen in Österreich und drei in Jugendeinrichtungen. Diese Befragten standen im Zusammenhang mit der Verübung von terroristischen Straftaten (islamistischen Charakters). Zusätzlich wurden zwei Gruppeninterviews in Gefängnissen geführt. Aus den Befragungen wurden drei Fallbeispiele (Ismail, Givi und Seyidhan) herausgefiltert, die ausführlich besprochen wurden. Am Ende wurden dem noch 11 Fallbeispiele in stark verkürzter Zusammenfassung besprochen. Insgesamt hat man also biografische Einblicke bezogen auf 14 islamistische, männliche Akteure. Für die große Mehrheit der Befragten zeigten sich Belastungen in der Kindheit. Für eine deutliche Minderheit der Fälle wurden zu wenig Angaben gemacht, Belastungen sind aber auch hier somit nicht ausgeschlossen. Der Erziehungsstil der Eltern wurde i.d.R. nicht besprochen. Auch hier bleiben also Fragezeichen. Allerdings kommen die Befragten bzw. ihre Eltern aus Regionen, in denen nachweisbar die Mehrheit der Kinder Gewalt in ihren Familien erlebt. Dies sollte man im Hinterkopf behalten.
Allerdings wird in der Studie sehr deutlich, dass nicht wenige Befragte als Kind traumatisiert wurden (vor allem durch Kriegs- und Fluchterfahrungen). Ich habe die wesentlichen Infos herausgefiltert und nachfolgend dargestellt. Vielleicht wird nach der Durchsicht deutlich, warum ich mich über die Art und Weise der Verarbeitung und die fehlende Hervorhebung von Kindheitserfahrungen durch das Forscherteam wundere:


Ismail

Ismail wurde 1998 in Tschetschenien geboren. Ca. ein Jahr darauf begann der zweite Tschetschenienkrieg. Seine Erinnerungen an diese Zeit haben weitgehend mit dem Kriegsgeschehen zu tun. „Aus seinen Erzählungen geht hervor, dass er bereits früh mit Gewalt konfrontiert wurde. So habe er die meiste Zeit in einem Keller zugebracht, in dem die Familie Schutz vor den Bombenangriffen und den Übergriffen der Kriegsparteien, wie Säuberungsaktionen und Entführungen, suchte“ (S. 98).
Als er sechs Jahre alt war, floh die Familie aus dem Land und siedelte nach Österreich über. An die Flucht kann er sich kaum mehr erinnern. Am Anfang kam die Familie in einer Flüchtlingsunterkunft unter, an die Ismail wenig positive Erinnerungen hat. Als Kind habe er auch in Österreich häufig Angst vor lauten Geräuschen und vor Flugzeugen gehabt. In seiner Kindheit und frühen Jugend sei es ihm schwer gefallen, soziale Kontakte zu knüpfen. Die meiste Zeit habe er mit Computerspielen verbracht.
Die Familie lebte in prekären Verhältnissen, was sich noch zuspitzte, als der Vater an Krebs erkrankte. Nach der dritten Klasse fing der Junge Schlägereien an und kiffte. Eine delinquente Jugenclique, mit der er oft in Parks herumhängte, bekam für ihn zusehends Bedeutung. Aus einem Konflikt mit einer anderen Gruppe heraus, verübte Ismail eine schwere Körperverletzung und wurde angezeigt. Später folgte seine erste Inhaftierung auf Grund von Raubüberfällen. Nach seiner zweiten Inhaftierung bekam er im Gefängnis durch Mitgefangene Interesse für den Islam nach radikaler Auslegung. Dies wird als Wendepunkt beschrieben. Nach seiner Gefängniszeit füllte die Religion das Vakuum, das der Bruch mit seiner delinquenten Clique hinterlassen hatte. Im Umfeld seiner Mosche traf er dann auf islamistische Anwerber und er driftete zusehends ins radikale Milieu ab. Es folgte eine erneute Inhaftierung auf Grund des Verdachts der Straftat der terroristischen Vereinigung.

Givi

Givi wurde Mitte der 1990er Jahre in einem Nachbarland Tschetscheniens geboren. Die Familie war dorthin auf Grund des ersten Tschetschenienkrieges geflohen.  Nach Kriegsende kehrte die Familie wieder in ihre Heimat zurück. Givi war zu der Zeit noch ein Säugling. Als Givi 5 Jahre alt war, verließ der Vater (der vermutlich Alkoholprobleme hatte) die Familie. Givi hat ihn nie wiedergesehen und weiß auch nicht, ob sein Vater noch lebt.
Die Familie kam bei den Großeltern unter. Über seine Großeltern sagt er viel Gutes, sie hätten ihn auch immer vor seiner Mutter „beschützt“, wenn diese „geschimpft hat oder so, ein bisschen Stress gemacht hat“ (S. 139). Was genau seine Mutter tat und was sich hinter dem „Stress“ verbirgt, den er mit ihr hatte, wird nicht klar. Vom fünften bis zum sechsten Lebensjahr erlebte er dann den zweiten Tschetschenienkrieg mit: „Als Kind erlebte er die Gewalt, das Kriegsgeschehen und die Übergriffe gegen Zivilisten waren Teil seines Alltags, und er versuchte sie zu normalisieren, obwohl der Krieg in der Familie der Mutter Opfer forderte“ (S. 140).
2011 floh er mit seiner Mutter nach Österreich. In Österreich intensivierte er dann seine Beschäftigung mit dem Islam vor allem im Rahmen der tschetschenischen Gemeinde. Später bekam er dann Kontakt zur salafistischen Szene Österreichs und radikalisierte sich. Er wurde dann inhaftiert, weil man davon ausging, dass er nach Syrien ausreisen wollte, um sich dort den Terroristen. anzuschließen.

Seyidhan

Seyidhan lebte den Großteil seiner Kindheit in einer Großstadt in der Türkei. Er hatte vier Brüder und drei Schwestern. Der Vater war LKW-Fahrer und oft abwesend. Die Mutter musste sich weitgehend alleine um die 8 Kinder kümmern. An seine frühe Kindheit hat er kaum Erinnerungen. Als Seyidhan 12 Jahre alt war, schickte ihn sein Vater in eine andere Stadt in eine von der Außenwelt weitgehend abgeschottete religiöse Einrichtung (eine Art Internat), da die Kriminalität in seinem Heimat-Viertel sehr hoch war und der Vater auch eine religiöse Ausbildung für seinen Sohn wünschte. Seyidhan konnte von da an seine Familie lange Zeit nicht mehr sehen, nur im Sommer besuchte er seine Familie Zuhause. Wie der Alltag in der religiösen Einrichtung aussah, erschließt sich nicht. Erst im Alter von ca. 19 Jahren kam er zurück in die Stadt, in der seine Familie lebte. Nach seiner Heirat zog er nach Österreich, wo die Eltern seiner Frau lebten. Seyidhan hat ein sehr fundamentalistisches Religionsverständnis, das er in dem Internat vermittelt bekommen hatte und pflegte dies auch in Österreich. Die Bildung eines „Islamischen Staates“ betrachtet er als Ideal.

Amir

Fast keine Angaben über seine Kindheit, der er schlicht als "harmonisch" bezeichnet.

Imran

Fast keine Angaben über seine Kindheit, die er als normal und vom sowjetischen System geprägt beschreibt.

Islam

Erlebte beide Tschetschenienkriege mit. Als der erste Krieg begann, war er sechs Jahre alt. Mehrere Familienmitglieder wurden getötet. Sein Vater - zu dem er ein distanziertes Verhältnis hat und der weitgehend abwesend war - und auch seine Mutter seien streng und sehr traditionell gewesen. Mit 17 Jahren flüchtet er mit Verwandten nach Österreich. Im Rahmen einer Jugendclique wurde er kriminell. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet er sich in Haft, weil im vorgeworfen wurde, dass er nach Syrien zum IS ausreisen wollte.

Jamal

Er flüchtete im Alter von 3 Jahren mit seiner Familie aus Afghanistan nach Österreich. Ansonsten keine vertiefenden Infos über seine Kindheit.

Karim

Stammt aus Ägypten. Keine Infos über seine Kindheit.

Khalid

Floh im Alter von 12 Jahren mit seiner Familie nach Österreich. Sein Vater wurde im Tschetschenienkrieg getötet. Später stieß Khalid im Internet auf ein Video, in dem zu sehen ist, wie sein Vater umgebracht wird. Ab dem Zeitpunkt habe er sich verstärkt mit dem Islam befasst.

Magomed

Im Alter von 4 Jahren flüchtete er mit seiner Familie aus Tschetschenien nach Österreich. Er erinnert sich an den Krieg, u.a. daran, wie das Haus der Familie zerstört wurde. Seine Erziehung zu Hause sei „normal“ verlauf, was auch immer dies bedeuten mag. Als Kind besuchte er den islamischen Religionsunterricht. Seine Lehrer dort seien sehr streng gewesen und hätten die Kinder geschlagen, wenn diese Fehler machten. Ab der 8. Klasse wurde er kriminell. Später im Gefängnis bekam er Kontakt zu Islamisten.

Selim

Im Alter von 3 Jahren zog er mit seiner Familie aus einer armen Region in der Türkei nach Österreich. Den konservativen Eltern war eine religiöse Ausbildung wichtig. Er wurde sowohl in den islamischen Religionsunterricht als auch in Kurse der Moschee geschickt. In diesen Institutionen wurde Gewalt als Erziehungsmethode ausgeübt und Selim machte auch Gewalterfahrungen. Später bekam er Kontakt zu Salafisten. Er wurde auch inhaftiert.

Serkan

Fast keine Infos über seine Kindheit. Im Alter von 6 Jahren zog die Familie von Istanbul nach Österreich. Sein Vater bekam Probleme mit der Polizei und wurde abgeschoben. Seine Mutter blieb mit den Kindern. Von Lehrern sei Serkan diskriminiert worden und kam auf eine Sonderschule.

Rustam

Wuchs in Tschetschenien auf. Seine Erinnerungen an diese Zeit sind von den damaligen Konflikten, die sich in dem Land abspielten, geprägt. Der Vater verließ die Familie (Zeitpunkt unklar).

Yusuf

Wurde in Tschetschenien geboren. Im Krieg verlor er mehrere Verwandte, darunter zwei Brüder. Er selbst erlitt schwere Verletzungen und war fortan invalide. 2004 flüchtete die Familie nach Österreich.

                             

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