Peter-Jürgen Boock war das erste (frühere) RAF-Mitglied, mit dem ich mich befasst habe. Ich wurde am 18.10.2007 auf ihn aufmerksam, als ich in dem Sender N-TV eine Dokumentation über den „Terror der RAF“ sah, in der auch Boock interviewt wurde. Er sagte dort aus, dass der Moment der Schleyer-Entführung und nachdem alles so „glatt gelaufen“ wäre, er sich so „lebendig gefühlt“ habe, wie nie zuvor in seinem Leben. Ich hatte damals bereits viel vom dem Psychoanalytiker Arno Gruen gelesen, der immer wieder beschrieben hat, wie sich einige Mörder im Angesicht des Leids anderer Menschen „lebendig“ fühlen. Gruen sah dabei ursächlich einen Zusammenhang zu destruktiven Kindheitserfahrungen. Insofern spekulierte ich alleine auf Grund der o.g. Aussage von Boock schon früh, dass bei Boock wahrscheinlich traumatische Kindheitshintergründe zu finden sind.
Erstmals bestätigt fand ich diese Vermutung Anfang 2015, was ich in einem Blog-Beitrag kurz ausgeführt hatte. Allerdings gab es bis dahin nur oberflächliche Infos über seine Kindheit. Vertiefende Infos fand ich während meiner Recherchen für mein Buch. Auf Seite 189 habe ich darin kurz die destruktive Kindheit von Boock beschrieben: von der frühen Trennung von seinen Eltern, dem häufigen Alkoholkonsum des Vaters, der dann nicht selten grob wurde (was vermutlich auch Gewalt bedeutete) und von der - auf Antrag der Eltern – Unterbringung des 17-Jährigen Peter-Jürgen in einem geschlossen Jugendheim in Glückstadt, wo die Erzieher, wann immer sich die Gelegenheit bot, ihre Zöglinge mit Gummiknüppeln verprügelten.
Nach der Buchveröffentlichung fand ich weitere Informationen. Wuschnik schreibt, dass Boock schon früh versuchte, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen (da war er ca. 16 Jahre alt). 1969, nach dem er auf Grund von Drogendelikten in Jugendarrest kam, unternahm er erneut einen Selbstmordversuch (Wunschik, Tobias (1997): Baader-Meinhofs Kinder: Die Zweite Generation der RAF. Westdeutscher Verlag, Opladen, S. 198). Diese Info alleine deutet auf schwere Belastungen hin. Und sie zeigt auch (ganz nach Arno Gruen), wie sehr Hass auf andere Menschen mit Selbsthass zu tun hat.
Am 19.11.2020 wurde aktuell ein langes und interessantes Interview mit Peter-Jürgen Boock im „ZEIT-Magazin“ (Nr. 48) veröffentlicht. Es tun sich weitere Abgründe bezogen auf die Kindheit von Peter-Jürgen auf. (Ich habe dies, nebenbei bemerkt, schon mehrmals in der Vergangenheit mit Blick auf Massenmörder, Diktatoren oder Terroristen erlebt: Je länger man recherchiert, je mehr man über die Kindheit dieser Leute in Erfahrung bringt, desto schlimmer wird das Gesamtbild, das man erhält. Früher war ich dann immer geradezu platt, weil ich meine Thesen bestätigt fand („Gänsehaut“): „Das gibt es doch gar nicht!“. Heute und beim Fall Boock nehme ich die neuen Infos sehr nüchtern auf: „Natürlich hatte er eine solch schlimme Kindheit! Wie konnte es auch anders sein? Denn als Kind geliebt und geborgen aufgewachsene Menschen werden keine Terroristen!“)
Hier nun die wesentlichen, neuen Infos aus dem o.g. ZEIT-Magazin-Interview:
- Seine frühe Kindheit verbrachte Peter-Jürgen auf der Halbinsel Eiderstedt bei seiner Großmutter. Seine Eltern lebten und arbeiteten in Hamburg und kamen nur alle 2-3 Monate mal vorbei. Boock bezeichnet diese Zeit bei der Großmutter als glücklich. Was er im Rückblick übersieht und wohl sicher auch nicht selbst emotional einordnen könnte ist, dass er als kleines Kind einst von den Eltern verlassen wurde. Dies war ganz sicher eine schwere Belastung für das Kind, auch wenn er danach mit der Großmutter eine gute Zeit hatte.
- Mit 7 Jahren zog er dann zu seinen Eltern nach Hamburg. Dies war wohl ein schwerer Schnitt, nicht nur wegen der Trennung von der Großmutter, denn als Sohn eines Beamten (sein Vater war Berufssoldat) und mit einem von den Eltern aufgezwungenen Anzug, den er tragen musste, wurde er zur Zielscheibe für andere Kinder, die ihn häufig verprügelten oder ihm auflauerten.
- Mit ca. 10 oder 12 Jahren suchte er sich dann Freunde, die seinen Eltern nicht genehm waren, darunter auch der spätere Chef der Hamburger Hells Angels. Stück für Stück scheint er dann seinen Eltern entglitten zu sein. Auf die Frage, ob er einen brutalen Vater hatte, antwortete Boock: „Ja.“ Ich gehe insofern davon aus, dass der Vater auch Gewalt gegen seinen Sohn anwandte (was sich schon bei meinen vorherigen Recherchen andeutete – siehe oben).
- Ein extremes Trauma erlebte er im Alter von 12 Jahren. Er besuchte einen Onkel und dessen Bekannter vergewaltigte Peter-Jürgen. Nachdem Peter-Jürgen seinem Onkel alles erzählt hatte, verprügelte dieser den Bekannten. Der Onkel rief auch die Eltern an und erzählte ihnen alles. Seine Eltern, so sagt Boock, reagierten zu Hause im Grunde gar nicht. Die Vergewaltigung und die Folgen daraus wurden totgeschwiegen. Daraufhin wollte Peter-Jürgen nur noch fliehen, was er auch immer wieder tat.
- Seine Eltern ließen ihn dann zur Fahndung ausschreiben und er kam, nachdem er aufgegriffen worden war, nach Glückstadt in das Jugendheim (wie oben bereits geschildert). Dass in dem Heim Gewalt vorherrschend war, hatte ich ebenfalls bereits berichtet. Neu war für mich noch einmal der blanke Sadismus der Erzieher (laut Boock aggressive, ehemalige Kriegsversehrte und invalide Heringsfischer). Boock bezeichnet die dortigen Methoden als Folter. Die Erzieher stellten sich in zwei Reihen auf und die durchlaufenden Zöglinge wurden dann von beiden Seiten verprügelt. Besonders krass fand ich die Schilderungen über das „Mumienmachen“. Boock dazu: „Man wurde eingewickelt in so Leinenzeug, aus dem Segel gemacht wurde. Das wurde eingepinselt mit so einem Kalkzeug, das wir Zahnpasta nannten. Das zog sich dann langsam zusammen, bis man das Gefühl hatte zu ersticken. Es war grauenhaft. Es ging langsam, 20, 30 Minuten“ (ZEIT-Magazin, 19.11.2020, Nr 48, S. 20)
- Später kam Peter-Jürgen dann in ein anderes Heim in Rengshausen und wurde auch dort gleich in einen Strafbunker gesteckt. Aus diesem Heim heraus wurde er dann von Baader, Ensslin und Proll quasi "rekrutiert".
An dieser Stelle wird auch noch einmal die Bedeutung des Zufalls deutlich, etwas, was ich in meinem Buch bei der Genese von Tätern oder auch Terroristen sehr betont habe. Boock selbst sagt in dem Interview, dass er, wenn seine Eltern ihn nicht zur Fahndung ausgeschrieben hätten und er folglich nicht im Heim gelandet wäre, evtl. Konzertveranstalter geworden wäre, wie so viele der jungen Ausreißer, mit denen er damals in Holland in einer Kommune lebte.
Natürlich wird nicht aus jedem misshandelten und traumatisierten Kind später ein Terrorist! Bei Boock kam der Zufall bzw. die Begegnung mit Baader & Co. dazu, ebenso der Zeitgeist und die damalige Stimmung im Land. Der Fall Boock zeigt aber, wie so viele andere auch (inkl. Boock habe ich mittlerweile die destruktiven Kindheiten von 16 RAF-TerroristInnen skizziert: siehe dazu in Dynamische Psychiatrie, Vol. 53 (2020), Heft 2-3 bzw. in meinem Buch und hier im Blog), dass destruktive Kindheitshintergründe die Wurzeln des Übels sind. Mit Blick auf seinen Fall kann man auch zugespitzt sagen, dass die Gesellschaft erntet, was sie sät. Die Gesellschaft steht in der Verantwortung, Kinder vor Gewalt und Übergriffen zu schützen und Hilfen anzubieten, wenn dieser Schutz nicht gelingen konnte. Wer wundert sich ernsthaft, wenn solch traumatisierte Menschen später Unheil bringen können?
Boocks Kindheit soll und kann trotz allem nichts entschuldigen! Das werde ich nicht müde zu betonen. Wenn man das ganze Interview im ZEIT-Magazin ließt, wird allerdings auch deutlich, dass dieser Mensch auch durch seine Taten sich selbst und sein Leben bestraft und schwer belastet hat. Eigene Taten können weitere Traumatisierungen auch für die Täter bedeuten. Im Fall Boock wird dies mehr als deutlich.
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