Oprah Winfrey gab in einer Gesprächsrunde (15.10.2021, Dr. Burke Harris and Oprah Winfrey discuss Adverse Childhood Experiences (ACEs) for NumberStory.org) folgende Begebenheit wieder:
„I remember doing a show once where there was a young black woman who was saying: „Yeah, my father came into pulled me from the choir one day and beat me in front of the church. But, you know, I´m fine, nothing happend as a result of that.“ I said, it`s impossible to be pulled from the church choir and beaten in the church and not be serverely humiliated and damaged by that. It`s impossible.“
Dieses Beispiel ist klassisch und ich habe solche Aussagen in ähnlicher Art und Weise unzählige Male gehört oder gelesen! Erlittene elterliche Gewalt und Demütigungen umzudeuten, auszublenden, zu verharmlosen oder gar gut zu heißen sind psychische Abwehrstrategien des Kindes, um (psychisch) zu überleben. Dies wirkt oft bis ins Erwachsenenalter fort (und kann wiederum Ursache dafür sein, andere Menschen oder auch die eigenen Kinder zu verletzten oder eigene Verletzungen durch andere Menschen lange zu erdulden, weil „das ist ja alles gar nicht schlimm“).
Dabei geht es nicht nur um körperliche Misshandlungen, sondern auch um viele "kleine" Demütigungen und Verletzungen, die Kinder im Alltag erleben (inkl. fehlenden Trost und Schutz durch Elternteile).
Nun ist es so, dass ich (und viele andere ähnlich Aktive) stets das Gefühl habe, gegen Windmühlen zu kämpfen. So erhielt ich kürzlich eine Mitteilung eines Bekannten, der eine große deutsche Zeitung angeschrieben und auf meinen Text „Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror“ hingewiesen hatte. Die Reaktion aus der Redaktion war abwehrend und dies wurde u.a. so begründet: „Zugleich gibt es auch in hoch entwickelten und vermögenden und gut ausgebildeten Gesellschaften Gewalt in Familien und an Kindern. Wenn Sie die komplexen Ereignisse in Afghanistan vor allem mit den vermeintlich gewalttätigen Eltern-Kind-Beziehungen zu erklären suchen, dann fehlen doch (geo-)politische, wirtschaftliche, historische und gesellschaftliche Zusammenhänge.“ (Man achte auch auf das Wort "vermeintlich"!)
Der Hinweis auf weitere Einflussfaktoren ist natürlich nicht falsch. Menschliche Gesellschaften sind hoch komplex, natürlich! Die Reaktion spricht aber Bände bzgl. des Unwissens und vor allem des fehlenden Nachfühlens bzgl. der möglichen Folgen von Kindesmisshandlung und von belastenden Kindheitserfahrungen.
Wer meinen zitierten Text über Afghanistan gelesen hat und meint, dass Kindheit keine große Rolle bzgl. der Situation des Landes spielen würde, hängt meiner Auffassung nach in einer ähnlichen Dynamik fest, wie die durch Oprah Winfrey oben zitierte Frau („alles nicht so schlimm, destruktive Kindheit ohne Folgen“). Dies kann man nicht (nur) mit Wissen und Informationen lösen. Ich habe das schon vor langer Zeit erkannt, obwohl ich trotzdem wie ein Hamster weiter meine Runden drehe und eine Information zum Thema nach der anderen heraushaue.
Wirklich tiefgreifend und nachhaltig lösen könnten wir dies nur, wenn erstens viel mehr Menschen in der Kindheit gewaltfrei, weitgehend unbelastet aufwachsen und dadurch Realitäten und mögliche Folgeschäden von Kindheitserfahrungen nicht ausblenden müssen und zweitens, die als Kind Belasteten an sich arbeiten (z.B. mit Hilfe von Psychotherapie), ihrer Kindheit ins Auge schauen, die Folgen für das eigenen Leben sehen und anerkennen und ein Stück weit heilen. Wer die Folgen für sich selbst sieht, wird auch die gesellschaftlichen Folgen von Kindheitsleid nicht mehr ausblenden.
Ich selbst habe einen solchen Prozess auch durchlaufen und negative Folgen für meine Leben durch meine eigene Kindheit erkannt, gesehen und bearbeitet. Bei mir kam aber noch etwas ganz Wesentliches hinzu: Ich wurde einige Male wie vom Blitz getroffen, als ich massive Folgen von Kindesmisshandlung im Leben mehrerer Erwachsener in meinem Umfeld wahrnahm, inkl. einer ehemaligen Freundin von mir. Gepaart mit dem damals angelesenen Wissen um das Ausmaß von Kindesmisshandlung hat mir dies erst einmal als junger Mann den Boden unter den Füßen weggerissen. Für mich wurde mit einem großen Paukenschlag klar: Gewalt gegen Kinder betrifft mich selbst und uns alle ständig und überall, weil die Folgen UND das Ausmaß so massiv sind.
Was mein Nachbarskind einst erlitten hat, kann später jederzeit auf mich als unbeteiligten Dritten zurückkommen, sei es durch die Höhe meines Krankenversicherungsbeitrags, Sozialbeiträge, durch Kriminalität, Terrorakte, durch das Miterleben von Selbstmorddrohungen oder auch durch toxische Beziehungen und zwischenmenschlich massiv gestörte Kontakte und Kommunikation (sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld).
Von all dem habe ich mich längst erholt. Was mich weiterhin umtreibt ist die fehlende Öffentlichkeit, ist das fehlende öffentliche Bewusstsein. Natürlich hat sich viel bewegt, sind Schranken gefallen und wurde die Öffentlichkeit auch immer sensibler und bewusster mit Blick auf Kindheitsleid. Das Gesamtbild wird aber immer noch kaum erfasst. Vor allem an die politischen Folgen traut sich immer noch kaum jemand heran. Leider schwebt verdeckt immer auch der Satz im gesellschaftlichen Raum:
„But, you know, I´m fine, nothing happend as a result of that!“