Donnerstag, 21. Oktober 2021

Fehlende Öffentlichkeit: "Kindesmisshandlung betrifft uns alle" versus "all das hat doch keine Folgen"

Oprah Winfrey gab in einer Gesprächsrunde (15.10.2021, Dr. Burke Harris and Oprah Winfrey discuss Adverse Childhood Experiences (ACEs) for NumberStory.org) folgende Begebenheit wieder:
I remember doing a show once where there was a young black woman who was saying: „Yeah, my father came into pulled me from the choir one day and beat me in front of  the church. But, you know, I´m fine, nothing happend as a result of that.“ I said, it`s impossible to be pulled from the church choir and beaten in the church and not be serverely humiliated and damaged by that. It`s impossible.“

Dieses Beispiel ist klassisch und ich habe solche Aussagen in ähnlicher Art und Weise unzählige Male gehört oder gelesen! Erlittene elterliche Gewalt und Demütigungen umzudeuten, auszublenden, zu verharmlosen oder gar gut zu heißen sind psychische Abwehrstrategien des Kindes, um (psychisch) zu überleben. Dies wirkt oft bis ins Erwachsenenalter fort (und kann wiederum Ursache dafür sein, andere Menschen oder auch die eigenen Kinder zu verletzten oder eigene Verletzungen durch andere Menschen lange zu erdulden, weil „das ist ja alles gar nicht schlimm“).

Dabei geht es nicht nur um körperliche Misshandlungen, sondern auch um viele "kleine" Demütigungen und Verletzungen, die Kinder im Alltag erleben (inkl. fehlenden Trost und Schutz durch Elternteile).  

Nun ist es so, dass ich (und viele andere ähnlich Aktive) stets das Gefühl habe, gegen Windmühlen zu kämpfen. So erhielt ich kürzlich eine Mitteilung eines Bekannten, der eine große deutsche Zeitung angeschrieben und auf meinen Text „Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror“ hingewiesen hatte. Die Reaktion aus der Redaktion war abwehrend und dies wurde u.a. so begründet: „Zugleich gibt es auch in hoch entwickelten und vermögenden und gut ausgebildeten Gesellschaften Gewalt in Familien und an Kindern. Wenn Sie die komplexen Ereignisse in Afghanistan vor allem mit den vermeintlich gewalttätigen Eltern-Kind-Beziehungen zu erklären suchen, dann fehlen doch (geo-)politische, wirtschaftliche, historische und gesellschaftliche Zusammenhänge.“ (Man achte auch auf das Wort "vermeintlich"!)

Der Hinweis auf weitere Einflussfaktoren ist natürlich nicht falsch. Menschliche Gesellschaften sind hoch komplex, natürlich! Die Reaktion spricht aber Bände bzgl. des Unwissens und vor allem des fehlenden Nachfühlens bzgl. der möglichen Folgen von Kindesmisshandlung und von belastenden Kindheitserfahrungen. 

Wer meinen zitierten Text über Afghanistan gelesen hat und meint, dass Kindheit keine große Rolle bzgl. der Situation des Landes spielen würde, hängt meiner Auffassung nach in einer ähnlichen Dynamik fest, wie die durch Oprah Winfrey oben zitierte Frau („alles nicht so schlimm, destruktive Kindheit ohne Folgen“). Dies kann man nicht (nur) mit Wissen und Informationen lösen. Ich habe das schon vor langer Zeit erkannt, obwohl ich trotzdem wie ein Hamster weiter meine Runden drehe und eine Information zum Thema nach der anderen heraushaue. 

Wirklich tiefgreifend und nachhaltig  lösen könnten wir dies nur, wenn erstens viel mehr Menschen in der Kindheit gewaltfrei, weitgehend unbelastet aufwachsen und dadurch Realitäten und mögliche Folgeschäden von Kindheitserfahrungen nicht ausblenden müssen und zweitens, die als Kind Belasteten an sich arbeiten (z.B. mit Hilfe von Psychotherapie), ihrer Kindheit ins Auge schauen, die Folgen für das eigenen Leben sehen und anerkennen und ein Stück weit heilen. Wer die Folgen für sich selbst sieht, wird auch die gesellschaftlichen Folgen von Kindheitsleid nicht mehr ausblenden. 

Ich selbst habe einen solchen Prozess auch durchlaufen und negative Folgen für meine Leben durch meine eigene Kindheit erkannt, gesehen und bearbeitet. Bei mir kam aber noch etwas ganz Wesentliches hinzu: Ich wurde einige Male wie vom Blitz getroffen, als ich massive Folgen von Kindesmisshandlung im Leben mehrerer Erwachsener in meinem Umfeld wahrnahm, inkl. einer ehemaligen Freundin von mir. Gepaart mit dem damals angelesenen Wissen um das Ausmaß von Kindesmisshandlung hat mir dies erst einmal als junger Mann den Boden unter den Füßen weggerissen. Für mich wurde mit einem großen Paukenschlag klar: Gewalt gegen Kinder betrifft mich selbst und uns alle ständig und überall, weil die Folgen UND das Ausmaß so massiv sind. 

Was mein Nachbarskind einst erlitten hat, kann später jederzeit auf mich als unbeteiligten Dritten zurückkommen, sei es durch die Höhe meines Krankenversicherungsbeitrags, Sozialbeiträge, durch Kriminalität, Terrorakte, durch das Miterleben von Selbstmorddrohungen oder auch durch toxische Beziehungen und zwischenmenschlich massiv gestörte Kontakte und Kommunikation (sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld). 

Von all dem habe ich mich längst erholt. Was mich weiterhin umtreibt ist die fehlende Öffentlichkeit, ist das fehlende öffentliche Bewusstsein. Natürlich hat sich viel bewegt, sind Schranken gefallen und wurde die Öffentlichkeit auch immer sensibler und bewusster mit Blick auf Kindheitsleid. Das Gesamtbild wird aber immer noch kaum erfasst.  Vor allem an die politischen Folgen traut sich immer noch kaum jemand heran. Leider schwebt verdeckt immer auch der Satz im gesellschaftlichen Raum:


But, you know, I´m fine, nothing happend as a result of that!“


Montag, 18. Oktober 2021

Kindheiten von rechten Jugendlichen und Hooligans

Ich habe eine weitere Arbeit gefunden, innerhalb der die Kindheiten von rechtsextremen Jugendlichen besprochen wurde:

Bohnsack, R., Loos, P., Schäffer, B., Städtler, K. & Wild, B. (1995): Die Suche nach Gemeinsamkeit und die Gewalt der Gruppe: Hooligans, Musikgruppen und andere Jugendcliquen. Leske + Budrich, Opladen. 

Die Biografien gewaltbereiter Hooligans werden dabei mit denen nicht-gewaltbereiter, anderer Jugendgruppen verglichen. Für mich von Interesse sind die Biografien von vier Hooligans, von denen drei auch in der rechten Szene aktiv waren: 

Bernd (geboren 1973) hat kaum Erinnerungen an seine frühe Kindheit. In der Schule hat er körperliche Gewalt und Demütigungen durch Lehrkräfte erlitten und war weitgehend ein Einzelgänger. „Die Geschichte der Schulzeit von Bernd erscheint als eine Zeit des Erleidens und des Ausgeliefertseins, durch die er sich bis heute verunstaltet fühlt (…) und von deren Auswüchsen und Stigmatisierungen er noch heute `träumt`“ (S. 138).
Der Vater war gewalttätig gegenüber Bernd (inkl. schwerer Prügel oder Angriffen mit einer Schere) (S. 140). Er habe seinen Vater gehasst. Bernd geriet als Jugendlicher in die rechte Skinheadszene, wechselte später dann zu gewaltbereiten Hooligans. „Bernd hat siebzehnmal in Untersuchungshaft gesessen, wobei die Eltern nur in wenigen Fällen (`dreimal`) über seine Aktionen und auch nur selten über die Untersuchungshaft informiert waren, was wiederum Aufschluss über die Art der innerfamilialen Kommunikation gibt“ (S. 147). 

Über die Erziehungsstile der Eltern von Benno (geboren 1970) erfährt man im Grunde kaum etwas. Allerdings berichtet er von einer schweren traumatischen Erfahrung. Nach der Scheidung der Eltern fing der Vater an zu trinken. Angetrunken geriet er unter eine U-Bahn und starb, als Benno 14 Jahre alt war. Durch anderen Personen liegt die Vermutung im Raum, dass der Vater sich vor die U-Bahn geworfen hätte, was Benno nicht glauben will. Weitere Problemlagen kamen hinzu: „Die Nachbarn  beschuldigen die Mutter, den Vater in den Tod getrieben zu haben und wollen Benno und seine Geschwister adoptieren. In der damaligen schwierigen Situation, in der Ehe und Familie in doppelter Weise (Scheidung der Ehe und Tod des Vaters) zerbrochen sind, zerbricht zugleich auch die Einbindung in die dörfliche Gemeinschaft (…). Von Seiten der Nachbarschaft wird nicht nur die moralische Degradierung der Mutter betrieben, sondern ihr wird die Erziehungsfähigkeit abgesprochen (…)“ (S. 152f.) Die Mutter habe laut Benno all dies seelisch nicht verkraftet und sei ein paar Mal „umgefallen“ (S. 152).
Die Mutter reagierte schließlich mit Flucht aus dem Dorf und zog mit ihrem Sohn um. In dieser Phase schloss sich Benno der Skinheadszene an. Mit dem Einstieg in die Gruppe fing für Benno „das Leben erst richtig an“ (S. 155). Die Gruppe war für ihn eine „riesengroße Familie“ (S. 156). Mit seiner Mutter geriet Benno in der Folge zunehmend in Konflikt und Streitigkeiten (S. 158f.) Später veränderte sich sie Skinheadszene und Benno wurde offenbar zum Hooligan. 

Falko (1973 geboren) war ebenfalls Teil der Hooliganszene, allerdings war er im Gegensatz zu den anderen Fallbeispielen nicht vorher in der rechten Szene aktiv. Der Vater wendete häufig körperliche Gewalt an (S. 173). Als Falko 14 Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden. Allerdings verschwiegen sie dies ihren Kindern. Die Kinder bekamen dies zufällig heraus, als sie entsprechende Unterlagen einsahen. „Falko reagiert (…) auf die Scheidung der Eltern mit dem Wunsch nach einer Kur, also mit einer Flucht“ (S. 175). Nach der Scheidung sah Falko seinen Vater nur noch selten (S. 178f.). 

Arno (geboren 1968) war zunächst Teil der rechten Skinheadszene in der DDR. Das Verhältnis zu seinen Eltern beschreibt er als gut, die Eltern seien tolerant gewesen. Seine Kindheit sei normal verlaufen. Ich bin bei solchen Schilderungen immer sehr misstrauisch, vor allem wenn ich mir das Verhalten von Arno anschaue, der sehr gewaltbereit war. Die Forschenden konnten seine Schilderungen nicht abgleichen (Befragungen anderer Familienmitglieder). Im Alter von 16 Jahren war Arno an einer Schlägerei beteiligt, bei der ein Polizist verletzt wurde. Nach bevor Arno volljährig war, kam er in den Erwachsenstrafvollzug. Auch später geriet er immer wieder in Konflikt zum DDR-Staat und kam auch erneut in Haft. Durch seine erste Haftzeit kam er in Kontakt mit der rechten Skinheadszene. Später orientierte er sich in Richtung Fußball und wurde Teil der Hooligans. 

Hier liegen genau genommen also nur drei Biografien vor, die sich auf rechte Jugendliche beziehen. In zwei von drei dieser Biografien (wenn man - bei einer so kleinen Untersuchungsgruppe - so will also bei der deutlichen Mehrheit der untersuchten Fälle) lassen sich schwere Belastungen in der Kindheit ausmachen. Die Kindheitsbiografie von Arno bleibt für mich mit Fragezeichen behaftet.  



Dienstag, 12. Oktober 2021

The Childhood Origins of Political Violence and Extremism

I have translated the main results of my research into English. I hope that through this I can reach more people. I would be happy if you share the text:

The Childhood Origins of Political Violence and Extremism 

Included in the factsheet:

  • Extent of violence against children in the world
  • Possible consequences of adverse childhood experiences (ACEs) / child abuse
  • Experiences of violence and own violent behavior
  • Global costs of violence and adverse childhood experiences
  • Trauma, adversity, and violent extremism/terrorism
  • Childhood Analysis of 17 RAF terrorists
  • Childhood backgrounds of right-wing extremists
  • Childhood and youth of 25 Nazi leaders / Nazi perpetrators
  • Analysis of the childhood of 14 Dictators of the 20th Century
  • Childhood backgrounds of US presidents