Dienstag, 17. Mai 2022

Sind naturnahe Völker "im Grunde gut"?

 „Bei den naturnahen Völkern helfen Kinder öfter, teilen mehr und wirken auch sonst glücklicher. Was können wir von deren Erziehungsgeheimnissen lernen?“ fragt Saara von Alten für einen Artikel im Tagesspiegel (15.05.2022: „Erziehungsgeheimnisse indigener Kulturen: Wie Kinder freiwillig im Haushalt helfen und teilen lernen“)

Ausgangspunkt ihrer Recherche ist das neue Buch „Kindern mehr zutrauen: Erziehungsgeheimnisse indigener Kulturen. Stressfrei – gelassen – liebevoll“ von Michaeleen Douclef. 

Ich bin kein Ethnologe und ich schließe nie aus, dass ich mich bei diesem Themenfeld auch irre. Aber ich musste einige Mal schwer durchatmen, als ich den Artikel las. Die Idealisierung von indigenen Kulturen ist mir schon oft begegnet. Meine Recherchen zeigten dagegen ein anderes Bild und auch viele dunkle Seiten, die sich bei diesen einfachen Kulturen offenbaren. Siehe dazu das Kapitel „Es gab kein Paradies! Gewalt in vorzivilisatorischen Gesellschaften“ in meinem Buch

Neben Doucleff verweist die Autorin auch auf die Arbeit von Jean Liedloff („Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“), die ich wiederum in meinem Buch kritisiert habe. 

Der Schlussteil des genannten Tagesspiegel-Artikels macht dann aber noch eine Wendung, die ich richtig und wichtig fand. Sie schreibt: „Sicherlich kann man den beiden Autorinnen entgegenhalten, dass sie die Yequana oder Mayas sehr idealisieren. So erwähnen sie nicht, dass der hohe Gemeinschaftssinn in naturnahen Völkern oft zulasten der Individualität geht, weshalb einige Indigene aus ihren Stämmen ausbrechen und in die Städte ziehen. Ebenso haben Mayas oder Yequana in ihrer Vergangenheit wie westliche Nationen Kriege geführt. Auch zum Thema Gleichberechtigung gibt es je nach Region unterschiedliche Beobachtungen: In einigen Jäger- und Sammlervölkern war beispielsweise Frauenraub ein legitimes Mittel zur Stammeserhaltung.“
Ich würde dem noch Stichwörter wie Kindes-/Säuglingstötungen, hohe Kindersterblichkeit, schmerzhafte bis traumatisierende Initiationsriten, Aussetzen oder Töten von kranken oder alten Mitgliedern des Stammes, hoher Konformitätsdruck und andere Formen der Kontrolle von Kindern (z.B. stark verängstigende Gruselgeschichten, „Lernen“ durch Verletzung/Unfälle z.B. unkontrolliertes Spielen am Feuer, mit Messern usw. oder Ausschluss aus der Gruppe) anhängen. 

Wenn es darum geht, positive Aspekte der Kindererziehung in indigenen Kulturen zu übernehmen (z.B. lange Stillzeit, viel Körperkontakt, keine getrennten Schlafräume für Babys usw.), dann bin ich sofort dabei! Auch dies betont die Autorin des Artikels, was ich wunderbar finde. 

Insofern möchte ich den Artikel auch gar nicht zu sehr kritisieren, weil er eine gewisse Ausgewogenheit erreicht. Etwas widersprüchlich wurde es dann aber noch an einer Stelle: „Auch nach einem cholerischen Wutanfall à la Klaus Kinski“ (siehe seinen Ausraster hier) könne man in indigenen Gemeinschaften lange suchen, so die Autorin. In diesem Zusammenhang fällt das Wort „Gelassenheit“. Allerdings erwähnt die Autorin in diesem Kontext auch, dass bei den damaligen Dreharbeiten im lateinamerikanischen Dschungel die Amazonas-Bewohner dem Regisseur angeblich anboten, Klaus Kinski nach dessen langem Wutanfall zu töten. Traditionelle Art von „Gelassenheit“ halt…, wenn ich das so anmerken darf.

Ähnlich argumentierte auch Rutger Bregman (2020) in seinem Buch „Im Grunde gut“. Er kritisiert in seinem Buch das schlechte Bild über Jäger- und Sammlerkulturen. Er betont dagegen den Zusammenhalt, die häufige Friedfertigkeit und die innere Ausgeglichenheit dieser Völker. An einer Stelle erzählt er dazu eine Geschichte, um seine Thesen zu untermauern: 

Natürlich hat es immer Menschen gegeben, die sich nicht an diese Ehrlich-teilen-Etikette gehalten haben. Aber damit gingen sie ein großes Risiko ein, denn wer sich arrogant oder gierig verhielt, konnte verbannt werden. Und wenn selbst das nicht half, gab es ein letztes Mittel: Nehmen Sie einen Vorfall, der sich unter den !Kung ereignete. Die Hauptperson war /Twi, ein Mitglied des Stammes, das zuvor zwei Menschen getötet hatte und sich immer untolerierbarer aufführte. Die Gruppe hatte genug davon: `Und dann feuerten sie giftige Pfeile auf ihn, bis er wie ein Stachelschwein aussah. Er lag still da. Alle traten näher heran, Männer und Frauen, und durchbohrten ihn mit Speeren, bis er tot war.` Anthropologen zufolge müssen sich solche Szenarien in prähistorischen Tagen von Zeit zu Zeit ereignet haben. Wenn jemand die Nase über den anderen rümpfte, rechnete die Gruppe mit ihm ab. So domestizierte der Mensch sich selbst“ (Bregman 2020, S. 120).
Die Aussage hier ist klar: Die Kultur ist im Grunde harmonisch und gut! Sie duldet keine Disharmonie und Destruktivität innerhalb der Gruppe. Man löst dies in diesen einfachen Kulturen durch Verbannung (was dem Tod gleichbedeutend ist) oder durch kollektiven (grausamen) Mord. Bleibt mir noch anzufügen, dass im kleinen Rahmen dieser Gruppen auch die Kinder Zeugen dieses Gemeinschaftsmordes geworden sein werden, eine höchst traumatische Erfahrung. 
Schauen wir abschließend auch auf die drei Morde aus diesem o.g. Fallbeispiel und setzen sie in Relation zu den oft sehr kleinen Gruppen: Die Mordrate bei dieser !Kung Gruppe wäre entsprechend hoch


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