Mich mit der Kindheitsbiografie des früheren US-Präsidenten Jimmy Carter zu befassen, war mal wieder ein Lehrstück der besonderen Art für mich, was ich sogleich erklären werde.
Ich habe für meine Recherche seine Autobiografie durchgesehen: „An Hour Before Daylight: Memoirs of a Rural Boyhood“ (2001, Simon & Schuster, New York)
Zu erwarten ist natürlich, dass Informationen über seine Kindheit im vorderen Teil zu finden sind. Die ersten sechs Kapitel habe ich also gewissenhaft durchgelesen und wollte mich bereits an einen Beitrag setzen. In diesem Beitrag hätte ich folgende zwei Stellen zitiert:
Carter beschreibt zunächst das enge Verhältnis zu seinem besten Freund A. D. und hängt an: „We (…) were punished together if we violated adult rules“ (S. 74). Wie diese Bestrafungen aussahen, beschreibt er nicht. Auch nicht an dieser Stelle:
„Mama was the one who did most of the refereeing at home, and maintained adequate discipline among us three children (…). She did a lot to protect us from more severe punishment from Daddy, and when one of us had violated a rule or abused another child, she would report the infraction and hasten to add, `Earl, I`ve already punished them!` (S. 110). “Earl” ist der Vater von Jimmy Carter und ich hätte an dieser Stelle in meinem ursprünglich geplanten Beitrag deutliche Mutmaßungen in Richtung Körperstrafen geäußert. Neben diesen Aussagen zu Bestrafungen durch den Vater hätte ich die Zeit (Carter wurde 1924 geboren) und die Region (Georgia, Südstaaten) als Begründung für eine hohe Wahrscheinlichkeit von elterlichem Gewaltverhalten herangezogen.
Nun, ich hatte mir seine Autobiografie versehentlich und parallel auch als E-Book besorgt. Abschließend tippte ich also in den Suchindex einige Schlüsselwörter ein, darunter auch „whipping“ (auspeitschen, Prügel mit Gegenständen). Und tatsächlich, zu meiner Überraschung ergab die Suchanfrage Treffer im hinteren Teil des Buches, in dem ich keine Infos mehr über seine Kindheit erwartet hatte.
Carter beschreibt eine Szene als er ca. zwölf Jahre alt war. Die Nachbarn feierten eine laute Party und Jimmy ging nachts nach draußen, weil er nicht schlafen konnte. Er kletterte in sein Baumhaus und schlief ein. Ein paar Stunden später hörte er seinen Vater wütend seinen Namen rufen. Jimmy kletterte zurück in sein Zimmer. Sein Vater kam herein und fragte, wo er die Nacht über gewesen sei und ob er ihn nicht habe rufen hören. „Yes, Sir“ war Jimmys Antwort (ja er hatte ihn gehört).
„I had gotten a number of whippings in my life, but this was the one that hurt most. Later, Mama described to me how worried both of them had been, and how Daddy had not been able to go to sleep. Unlike past times, she didn`t express any regrets for the punishment I had received. But it was the last whipping I ever got from Daddy” (S. 226).
Köperstrafen seitens des Vaters waren also üblich in der Kindheit von Jimmy Carter und konnten auch schwere Formen annehmen! Ohne die E-Book Version des Buches hätte ich diese Infos fast übersehen. Interessant daran ist, dass ich mit meinen ursprünglich geplanten Mutmaßungen auf Grundlage der ersten sechs Kapitel richtig gelegen hätte! Mutmaßungen über mögliches elterliche Gewaltverhalten macht oft Sinn, wenn es Indizien dafür gibt, das lerne ich persönlich (erneut) aus dieser Recherche.
Interessant und hervorzuheben ist, dass Carter in seiner Kindheit eine Besonderheit erlebte: Seine Mutter hatte sich oftmals schützend vor der Gewalt des Vaters für ihre Kinder eingesetzt, was aus den Zitaten deutlich hervorgeht (in dem sie z.B. behauptete, die Kinder seien schon bestraft worden). Nach der wohl schwersten Prügelstrafe, die ihr Sohn erlitten hatte (siehe „Baumhausszene“), hatte sie ausnahmsweise keine Reue artikuliert, aber sie hat die „Gründe“ für die Strafe ausführlich erklärt. Das macht die Gewalt nicht weniger schlimm. Aber es macht einen Unterschied, ob Misshandlungen gegen Kinder einfach aus Launen heraus geschehen (was leider viele Kinder erleben), oder ob ein Stück weit die Kontrolle beim Kind bleibt, in dem es einschätzen kann, durch welches Verhalten Gewalt droht. Der zweite Punkt, den „Begründungen“ liefern, ist psychisch eine andere Möglichkeit, mit dem Gewalterleben umzugehen. Die Chancen, dass das Kind die Gewalt nicht absolut auf seine Person bezieht („Ich bin schlecht!“) sind höher, wenn „Begründungen“ artikuliert werden. Wie gesagt will ich die Gewalt dadurch nicht verharmlosen. Ich denke an dieser Stelle eher an die „Evolution von Kindheit“ und eine schützende Mutter und „Begründungen“ sind dahingehend schon ein Schritt nach vorne.
In der Tat gilt Carter als erster Präsident, der nach dem Zweiten Weltkrieg keinen direkten Krieg führte. Wohl aber drohte er im Rahmen der „Carter-Doktrin“ mit militärischen „Abstrafungen“, sollten die Interessen der USA im Persischen Golf verletzt werden (“Let our position be absolutely clear: An attempt by any outside force to gain control of the Persian Gulf region will be regarded as an assault on the vital interests of the United States of America, and such an assault will be repelled by any means necessary, including military force”, Quelle siehe hier).
Auffällig ist allerdings auch, dass Carter keinerlei Kritik gegen die Bestrafungen durch seinen Vater äußert (was klassisch für misshandelte Kinder ist). Im Gegenteil wird sein Vater sogar stark verehrt: „(…) my Father was the center of my life and the focus of my admiration when I was a child” (S. 122) Carter untermalt dies auch mit Zeiten, in denen er viel mit seinem Vater unternahm, sowohl in Freizeit als auch im Rahmen der Arbeit auf dem Hof. Insofern kann in der Tat angenommen werden, dass der Vater beides für ihn war: Angstfigur (vor Strafen) und Vorbild (bzgl. Arbeit und Freizeitgestaltung).
Zum Abschluss des Kapitels „My Mama and Daddy“ beschreibt Carter eine Szene, als er fischen war und sich auf dem Rückweg verlaufen hatte. Er fand schließlich doch den Weg zu dem Hause von Bekannten, wo sein Vater bereits wartete. Als sie Zuhause ankamen sagte sein Vater: „`I thought you knew better than to get lost in the woods`. I began to cry, and he reached out to me. Just being there enfolded in my fathers`s arms was one of the most unforgettable moments of my life” (S. 128).
Dass er diese Szene nie vergessen hat und derart hervorhebt, zeigt auch die tragische Seite des Ganzen. Oftmals hatte der Vater bei Fehlverhalten mit Körperstrafen reagiert. Aber er konnte auch anders und seinen Sohn in den Arm nehmen. Wir dürfen vermuten, dass letzteres eher selten der Fall war. Auch hier sehen wir im Rahmen der "Evolution von Kindheit" einen gewissen Fortschritt.
Kommen wir nun zurück zu Carters Kindheit und Jugend. Nicht nur Zuhause wurde er geschlagen, sondern auch in der Schule. Besonders gefürchtet war der Lehrer Mr. Sheffield, der für schwere Körperstrafen bekannt war. Drei bis sieben schwere Schläge mit einem Gegenstand auf das Gesäß waren übliche Strafen vor allem für männliche Schüler. Jimmys Vater ergänzte diese Schulstrafen üblicher Weise durch Beschränkungen bzgl. Radiohören, Ausgang usw. für einige Tage oder Wochen (S. 212f.). Er hatte also offensichtlich nichts gegen die Körperstrafe an der Schule einzuwenden.
Carter beschreibt aber auch eine Szene in der Schule, in der er und seine Freunde einfach die Schule für einen Ausflug verlassen hatten. Bei ihrer Rückkehrt warteten bereits die Väter und Lehrer auf die Jungs. Maximal sieben Schläge und eine Sechs in allen Kursen wurden als Strafe angeordnet. Auf dem Rückweg sagte sein Vater:
„Are you prepared to take your punishemt at school?”
“Yes Sir.”
“You won`t get the same thing at home this time, but, except for going to school, you´ll not leave our yard and fields for a month.”
“Yes, sir, Daddy.” (S. 219).
In dieser Szene wird deutlich, dass der Vater manchmal auch Zuhause ergänzend zur Schule Körperstrafen vorgenommen hatte („You won`t get the same thing at home this time“), entgegen der oben geschilderten Schilderungen, dass der Vater nur nicht-gewaltförmige Strafen als Ergänzung zur Schule anwandte. Hier widerspricht sich Carter also selbst.
Abschließend muss noch darauf hingewiesen werden, dass die Kinder oft ohne ihre Eltern auskommen mussten. Der Vater betrieb eine Farm und war entsprechend oft abwesend und eingespannt. Die Mutter arbeitete ergänzend als Krankenschwester. „Most of the time we didn`t expect Mama to be at home when we returned from school, but she would usually leave us a note on a little black table against the wall in the front room. It would let us know when she would be back home, and contain instructions concerning extra work, in addition to our regular chores. Later, my sister Gloria and I would tease Mama by claiming that we always thought the little black table was our real mother” (S. 111).
Abschließender Hinweis: Fast alle US-Präsidenten der letzten Jahrzehnte wurden als Kind körperlich misshandelt (dazu kamen oft weitere Belastungen). Jimmy Carter fügt sich hier ein. Gerald Fort und Joe Biden habe ich bisher nicht untersucht. Einzig bzgl. Obama fand ich keine Belege für körperliche Gewalt in der Kindheit, aber auch keine Belege dagegen.
4 Kommentare:
Lieber Herr Fuchs,
ist Ihnen der Seite 3 Artikel der SZ vom 10.12.2002 bekannt.
Darin wird geschildert, wie JC seine Kinder mit einer Rute oder einem Lineal schlug.
Es gab je nach Vergehen eine bestimmte Anzahl Schläge -- allerdings erst nach 24 Stunden...
Beste Grüße
Interessant, wissen Sie noch den Titel des Artikels?
"Der Gandhi im blauen Blazer" von Wolfgang Koydl, SZ vom 10.12.2002, S.3
Danke!
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