Dienstag, 26. Juli 2022

Kindheit von Oskar und Emilie Schindler

Als ich begann, mich mit der Biografie und vor allem auch Kindheit von Oskar Schindler zu befassen, war ich absolut gespannt, ob ich eine ähnliche (Kindheits-)Sozialisation vorfinden würde, wie sie häufig bzgl. JudenretterInnen beschrieben wurde (siehe dazu meine Blogbeiträge hier und hier). Parallel dazu hatte ich ein „vorgefertigtes“ Bild auf Grund von Halbwissen von Schindler im Kopf: „Lebemann“, "einnehmend", "Spaß am Geld haben und verdienen", "enge Kontakte zu hohen Nazis und wichtigen Leuten" usw. In einer Biografie (Crowe 2005) erfuhr ich dann erstmals auch davon, dass Schindler eine Zeit lang als Spion für das NS-Reich tätig war und ihm diese Aufgabe offensichtlich auch lag. Später sollte er fast 1100 Juden und Jüdinnen das Leben retten (vielleicht auch noch mehr). Oskar Schindler, so scheint ist, ist auch eine widersprüchliche Person gewesen. 

Bzgl. seiner Kindheit fand ich leider nur wenige Informationen: 

Bis zur Wirtschaftskrise von 1929 lebte die Familie Schindler in einigem Wohlstand; Hans Schindler betrieb eine Fabrik für landwirtschaftliche Maschinen“ (Crowe 2005, S. 15). 

Sein Vater neigte zur Trinkerei und „notorischen Frauengeschichten“, so dass „das Leben der Schindlers keineswegs nur harmonisch gewesen ist“ (Crowe 2005, S. 15f.). Emilie, die spätere Frau von Oskar Schindler, mochte ihren Schwiegervater nicht sonderlich. „Sie machte ihn für Oskars schlechteste Angewohnheiten verantwortlich, insbesondere für sein exzessives Trinken und seine unentwegten Frauengeschichten. Der Vater sei ein `unverbesserlicher Alkoholiker` gewesen. Im trunkenem Zustand habe er seine Schwägerin vergewaltigt und geschwängert. Eine Tochter, die nach diesem Verbrechen geboren wurde, starb im Alter von vierzehn Jahren“ (Crowe 2005, S. 16; siehe auch Rosenberg 2006, S. 34).
Später kam es auch zum Zerwürfnis mit dem Vater.  Aber: „1941 versuchten einige Freunde eine Versöhnung zwischen Vater und Sohn zu erreichen. Sie wussten, wann Hans in einem Zwittauer Kaffeehaus zu finden war und nahmen Schindler mit dorthin. Oskar trat zu seinem Vater und streckte diesem die Hand entgegen. Hans nahm die Hand seines Sohnes. Von da an besuchte Oskar den Vater, sooft er in Zwittau war; und er schickte bis zu seinem Tod im Jahr 1945 einen monatlichen Wechsel über 1000 Reichsmark" (Crowe 2005, S. 23f.)

Oskar hat seine Mutter sehr geliebt (Crowe 2005, S. 23). Das ist leider die einzige Information, die ich hier bzgl. der Mutter fand und die von Relevanz war.
An anderer Stelle wird noch beschrieben, dass Oskar Schindler Kinder sehr liebte (Crowe 2005, S. 236). Auch diese Information finde ich wichtig, wenn es um eigene Kindheitserfahrungen geht. 

Oskar Schindler selbst hat seine Gründe für die Rettung der Juden und Jüdinnen sehr einfach beschrieben: „Seine Erklärung ist schlicht und einfach: Er hat Juden geholfen, weil das, was die Deutschen taten, Unrecht war.“ (S. 241) Er habe versucht zu tun, was er tun musste.

Solche Erklärungen von JudenretterInnen höre ich nicht zum ersten Mal. Der Drang, etwas zu tun, kommt beinahe wie etwas Selbstverständliches, wie eine „natürliche“ Reaktion im Angesichts von Leid und Hilfsbedürftigkeit.  „Wir waren keine Helden“ hat Eva Fogelman (1998) ihre Arbeit und Forschung über JudenretterInnen betitelt. Im Titel steckt es bereits drin: Man tat einfach, was getan werden musste. Im historischen Rückblick erscheinen diese Taten heldenhaft, weil sie Ausnahmetaten waren (und auch eigene Gefährdung bedeuteten) und weil ganz im Gegenteil gerade viele Deutsche am Leid der Juden mitwirkten. 

Diese „natürliche“ Reaktion hat meiner Auffassung nach vor allem mit Empathie und einem Zugang zur eigenen Gefühlswelt zu tun (was wiederum viel mit der Kindheitssozialisation zu tun hat). Man muss dann einfach helfen, weil man einfach nicht anders kann. Dazu kommen aber auch immer die Möglichkeiten und Mittel zur Rettung. Durch seine Position war Schindler in der Lage zu helfen, wie er es tat. 

Wäre Oskar Schindler ein brutaler Nazi gewesen und ich hätte die oben zitierten spärlichen Infos über seine Kindheit gefunden, ich hätte natürlich sogleich spekuliert, dass sein Vater Zuhause für Traumatisierungen der Familie gesorgt haben wird. Ganz gewiss ist Oskar schwer belastet worden, denn ein Vater, der alkoholsüchtig ist, ist IMMER eine Belastung für die Familie. Allerdings zeigen auch die beiden oben verlinkten Arbeiten über JudenretterInnen, dass diese zwar häufig eine wenig destruktive Kindheit hatten (vor allem im Vergleich zur damaligen Allgemeinbevölkerung), aber es gab durchaus auch unter den Rettern Leute, die als Kind traumatisiert wurden. 

Ich habe nie gesagt, dass eine schlechte Kindheit sehr positives Verhalten und Empathie ausschließt! Ich sage dagegen immer, dass Menschen, die sehr destruktiv agieren, keine liebevolle, unbelastete Kindheit hatten und dass dies das Fundament für ihr Handeln ist. Diesen Unterschied möchte ich hier hervorheben. 

Bzgl. Schindler mag man ihm außerdem seine Mutterliebe glauben, die ein Ausgleich zum Vater gewesen sein könnte. Positive Erfahrungen bieten Kindern Ausgleich und die Chance, auch im Angesicht von schweren Belastungen ein weitgehend gesundes Gefühlsleben zu behalten und zu entwickeln. 

Die für mich überraschendste Entdeckung bei meinen Recherchen war, dass Schindlers Ehefrau Emilie fast exakt eine Kindheit erlebt hat, wie sie Eva Fogelman bzgl. vieler JudenretterInnen beschrieben hat: „ein behütetes, liebevolles Elternhaus; ein altruistischer Elternteil oder ein liebes Kindermädchen, das als Vorbild für altruistisches Verhalten diente; Toleranz gegenüber Menschen, die anders sind; eine schwere Krankheit während der Kindheit oder der Verlust einer nahestehenden Person, wodurch die eigene Widerstandskraft auf die Probe gestellt und besondere Hilfe nötig wurde; eine verständnisvolle und fürsorgliche Erziehung zu Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und Disziplin (…)“ (Fogelman 1998, S. 247f.). 

Emilie wurde 1907 geboren. Die Familie lebte auf einem Gutshof (wohl in einigem Wohlstand). Die Großeltern hatten ein eigenes Haus auf dem Hofgelände und waren dadurch auch für die Kinder erreichbar und da. „Meistens hielt ich mich bei meiner Großmutter auf, die sich sehr um mich kümmerte. Trotz meines Alters sehe ich sie noch vor mir, als ob es gestern gewesen war“ (Rosenberg 2006, S. 25) Sie glaubt, dass sie der Liebling dieser Großmutter gewesen ist.

Ihre Mutter sei sehr geduldig und verständnisvoll gewesen. Außerdem habe sie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn besessen und sie habe ausgegrenzten Menschen geholfen (Rosenberg 2006, S. 26-28). In der Familie sie es immer eine hochgehaltene Tradition gewesen, sich „für Arme, Unterdrückte und Schutzlose einzusetzen. Ich bin sehr dankbar dafür, dies schon in meiner Kindheit gelernt und erfahren zu haben, und ich habe mich bis auf den heutigen Tag daran gehalten“ (Rosenberg 2006, S. 28). Ihre Mutter „war immer verständnisvoll und hatte in jeder Situation ein liebes Wort. Auf sie konnte man sich jederzeit verlassen und das war jedem auf dem Hof bewusst“ (Rosenberg 2006, S. 28). Noch im hohen Alter würde sie sich oft an ihre Mutter erinnern und davon träumen, wie ihre Mutter sie besucht und ihre Wangen streichelt, wenn sie eingeschlafen ist. Offensichtlich hat sie dies oft in ihrer Kindheit so erlebt. 

Die Kinder mussten bei der oft harten Landwirtschaft mithelfen und hatten Verantwortung. Als Emilie sieben Jahre alt war, brach der Erste Weltkrieg aus. Ihr Vater wurde eingezogen. Emilie suchte Trost im Wald und bei den Tieren. Nach dem Krieg war der Vater ein anderer und vor allem schwer krank. Er konnte auf dem Hof nicht mehr mithelfen und war ein Pflegefall. Eine schwere Belastung für alle, insbesondere aber für die Kinder. „Aber trotz der Krankheit meines Vaters erinnere ich mich gerne an meine Kindheit. Ich habe mich immer geboren und beschützt gefühlt, und sei es nur, weil immer jemand in der Küche saß, dem man bei einer Tasse Tee sein Herz ausschütten konnte. Leider sind diese Zeiten für immer vorbei“ (Rosenberg 2006, S. 34). 

Emilie berichtet selbst beispielhaft, wie sie in Plaszow Juden (auch unter Gefahr) half und hängt an:
Ich sah die zu Sklaven erniedrigten und wie Tiere behandelten Juden, denen alles und jedes verboten war. Sie durften nicht einmal Unterwäsche unter der Anstaltskleidung tragen, nicht einmal im Winter. Ich sah sie, ihres gesamten Besitzes, sogar ihrer Familien beraubt, ohne jedes Recht, nicht einmal das auf einen würdigen Tod, und konnte angesichts ihres furchtbaren Schicksals nur Mitleid fühlen. Weder damals noch heute, fast am Ende meines Lebens, kann ich verstehen, was damals vor sich ging. Ich weiß nicht, ob man das überhaupt jemals verstehen kann“ (Rosenberg 2006, S. 105). 

In der Geschichte war es nicht selten so, dass hinter starken und berühmten Männern, die großes geleistet haben, starke und am Erfolg der Männer mitwirkende Ehefrauen standen. Nur wurden und werden diese Frauen oft kaum wahrgenommen. Emilie wird großen Einfluss auf ihren Mann gehabt haben. Und sie unterstützte ganz eindeutig, gezielt und direkt das Bestreben, die "Schindler Juden" zu retten. Wenn wir die Geschichte der Judenrettung durch Oskar Schindler schreiben, sollten wir also seine Ehefrau dabei nicht vergessen!

Erika Rosenberg schreibt in ihrem Vorwort u.a.: "Ich selbst entdeckte Emilie Schindler als Hauptakteurin bei der Rettung der über 1300 `Schindler Juden` - sie ist keine unbedeutende Nebendarstellerin, die keiner Erwähnung bedarf" (Rosenberg 2006, S. 10). 


Quellen

Crowe, D. M. (2005). Oskar Schindler. Die Biographie. Eichborn, Frankfurt am Main. 

Fogelman E. (1998). „Wir waren keine Helden“ - Lebensretter im Angesicht des Holocaust. Motive, Geschichten, Hintergründe. Deutscher Taschenbuchverlag, München.

Rosenberg, E. (Hrsg.) (2006). Ich, Emilie Schindler. Erinnerungen einer Unbeugsamen. Herbig, München. (aktualisierte und erweiterte Neuauflage)


Montag, 11. Juli 2022

Kindheiten von KZ-Kommandanten

Meine hier verwendete Quelle ist: Segev, T. (1992). Die Soldaten des Bösen. Zur Geschichte der KZ-Kommandanten. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg. 

Ich wurde auf dieses Buch durch ein Zitat in einer anderen Arbeit aufmerksam. Das Zitat zeigte deutlich auf Vernachlässigung in der Kindheit von Amon Leopold Göth (siehe dazu unten mehr), dem wollte ich nachgehen. Danach las ich zunächst über die die Kindheit von SS-Obergruppenführer, General der Waffen-SS und zeitweise Kommandant des Konzentrationslagers Dachau Theodor Eicke (1892–1943), die deutlich belastet gewesen zu sein scheint. Tom Segev hat diesem Mann ein eigenes Kapitel gewidmet.
Nachdem ich das Buch Stück für Stück weiter durcharbeitete, wurde mir bewusst, was ich hier eigentlich in den Händen hielt! Der Autor hat für die meisten der von ihm untersuchten KZ-Kommandanten zumindest einen kleinen biografischen Teil verfasst, indem i.d.R. auch etwas über die Kindheit zu finden ist. Natürlich können wir keine ausführlichen Berichte über den Erziehungsstil und den Alltag der Kinder erwarten. Aber: Bei fast allen KZ-Kommandanten finden sich Auffälligkeiten in der Kindheit, wie tote Familienmitglieder, Kriegskindheit, abwesende Väter und/oder strenger Erziehungsrahmen in der Familie oder z.B. im Rahmen einer Kadettenausbildung. 

Diese „Auffälligkeiten“ sehe ich immer auch kumuliert um die routinemäßigen Belastungen einer Kindheit um 1900 im Kaiserreich. Joachim Fest schreibt in seinem Buch „Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft“ (1977, R. Piper Verlag, München) in dem Kapitel über Rudolf Heß: „In seinem unbalancierten Verhältnis zur Autorität gleicht Heß auffallend vielen führenden Nationalsozialisten, die wie er aus sogenannten strengen Elternhäusern stammten. Es spricht denn auch einiges dafür, dass Hitler beträchtlich von den Erziehungsschäden einer Epoche profitierte, die ihre pädagogischen Leitbilder von den Kasernenhöfen holte und ihre Söhne in den Härtekategorien von Kadetten aufzog. In der eigentümlichen Mischung aus Aggressivität und hündischer Geducktheit (…), aber auch der inneren Unselbstständigkeit und Befehlsabhängigkeit, kamen nicht zuletzt die Fixierungen auf die Kommandowelt zum Vorschein, die der bestimmende Erfahrungshintergrund ihrer frühen Entwicklung war" (Fest 1977, S. 260). Und speziell bezogen auf Heß fügte er an, dass der „immer wieder gebrochene Wille“ sich Vater und Vaterersatz suchte, „wo immer er ihn fand: Man muss Führer wollen!“ 

Diese "strengen Elternhäuser" waren damals Alltag und formten eine ganze Generation und Gesellschaft. Wenn sich in den Kindheitsbiografien der KZ-Kommandanten Andeutungen in Richtung konservative oder strenge Erziehung finden, so spricht dies Bände (und schließt meist wohl auch Körperstrafen ein). Wenn diese Hinweise fehlen, so sollten wir die strenge, autoritäre Erziehungsnorm der Zeit immer mitdenken und vor allem nicht als unwahrscheinlich ausschließen. 

Der Vater von Paul Werner Hoppe starb beispielsweise, als Paul zweieinhalb Jahre alt war (sein Fall siehe unten). Er kam bei Verwandten unter und verlor dadurch auch noch seine Mutter. Dies ist an sich eine traumatische Belastung für ein kleines Kind. Über den Erziehungsstil erfahren wir in seinem Fall nichts. Denken wir einen strengen Erziehungsstil auf Grund von Wahrscheinlichkeiten (Normen der Zeit) hinzu, dann wird diese Kindheit zum reinen Alptraum. 

Beginnen wir nun aber mit der Kindheit von Theodor Eicke (der vom Autor am ausführlichsten besprochen wird).
Seine Verwandten hatten seinen Vater als pingeligen und humorlosen Hünen in Erinnerung. Sie sagten, seine Kinder hätten bei ihm eine sehr strenge Erziehung genossen“ (Segev 1992, S. 135). Der Vater war Bahnhofsvorsteher in seinem Heimatort und brachte dadurch sicherlich eine gewisse Autorität auch mit nach Hause.
Was um das Jahr 1900 herum wie schon gesagt unter einer „sehr strengen Erziehung“ zu verstehen ist, können wir uns vorstellen: Körperstrafen, Demütigungen und absolute Gehorsamsforderungen waren damals Erziehungsroutine. Wenn es solche eindeutigen Aussagen über die Kindheit gibt, bestehen meiner Auffassung nach kaum Zweifel daran, dass Theodor entsprechenden schweren Belastungen ausgesetzt war.
Die Verwandten ergänzten ihre Erinnerungen darum, dass Theodor „keine glückliche Kindheit hatte. Erst mit seinem Eintritt ins Militär wurde er der Mann, der er seiner Meinung nach bereits geworden war“ (Segev 1992, S. 135).
Im Alter von siebzehn Jahren ging er von der Schule ab und für zehn Jahre zum Militär. Theodor sei „ganz versessen darauf gewesen, endlich von zu Hause wegzukommen, wo man ihn immer noch wie einen kleinen Jungen behandelte. Er hatte zehn Brüder und Schwestern, die allesamt älter waren als er“ (Segev 1992, S. 135).
Wir wissen heute, dass sich ein strenger, autoritärer Erziehungsstil auch auf die Beziehungen der Geschwister untereinander negativ auswirken kann. Theodor war zudem das jüngste und somit potentiell schwächste Kind der Familie. Die Wahrscheinlichkeit, dass er Belastungen auch seitens mancher Geschwister erlebt hat, halte ich für hoch. Bei einer Familie mit elf Kindern stellt sich mir auch die Frage nach elterlicher Vernachlässigung. Für das einzelne Kind wird kaum Zeit gewesen sein. 

Seine Mutter habe „viel Zeit bei ihren Verwandten in Paris“ verbracht, berichtet Segev (1992, S. 135). Dauer und Zeitpunkt ihrer Abwesenheit werden nicht genannt. Die Frage ob und wie sich ihre Abwesenheit auf die Kinder ausgewirkt hat, sollte zumindest in den Raum gestellt werden. Zumal ihr Gatte ja kein fürsorglicher Kinderbetreuer gewesen zu sein scheint.
In der Familie gab es zudem einen Konflikt zwischen der mütterlichen Bindung an Frankreich und dem ganz auf Deutschland ausgerichteten Patriotismus des Vaters. Die Kinder hätten augenscheinlich darunter gelitten, meint Segev.
1928 trat Eicke in die NSDAP und SA ein.  Ca. zwei Jahre später wurde er Mitglied der SS und sollte später zu einem ihrer führenden Köpfe werden.
Aus heutiger Sicht war er anfangs ein klassischer Extremist auf dem Weg in den Terrorismus. „Im März 1932 wurde Eicke verhaftet und wegen terroristischer Umtriebe vor Gericht gestellt. Die Polizei fand bei ihm einige Dutzend selbstgebastelter Bomben. Seine Verhaftung fiel genau in die Zeit zunehmender politisch motivierter Gewalttaten, denen die deutschen Behörden machtlos gegenüberstanden“ (Segev 1992, S. 139).
Interessant, aber letztlich auch logisch ist, dass Theodor Eicke später von seinen Untergebenen „eiserne militärische Disziplin“ forderte und die Häftlinge im Konzentrationslager „einem grausigen Terror“ unterwarf (Segev 1992, S. 145). „Im Dienst gibt es nur eine rücksichtlose Strenge und Härte“, wird er zitiert (Segev 1992, S. 145). „Gleichzeitig war er gehorsam, stets bereit, sich seinen Vorgesetzten bis zur Kriecherei zu unterwerfen. Wie viele der Lagerkommandanten brauchte er sowohl die Macht als auch den Gehorsam. Die SS gab ihm erstere und verlangte letzteren“ (Segev 1992, S. 145f.).

Eicke neigte zudem zu plötzlichen Wutausbrüchen, pedantischere Streitlust, Arroganz und auch melodramatischen Anwandlungen. Er wird als Patriarch beschrieben, als strenger Vater, eifersüchtiger Ehemann und Haustyrann (Segev 1992, S. 119, 147, 150, 152). „Seine Männer seien ihm, so seine Haushälterin später, lieber gewesen als Frau und Familie“. Sie hätten ihm „etwas gegeben, was er zu Hause nicht habe finden können. Sie hätten ihn gern gehabt, und ihre Zuneigung habe ihm alles bedeutet“ (Segev 1992, S. 146).
O-Ton Eicke: „Wenn mich meine Männer auf ihren Stuben Vater nennen, dann ist dies der schönste Ausdruck für eine Herzensgemeinschaft, wie ihn nur der Vorgesetzte findet, der stets mit seinen Männern in Führung bleibt, von dem die Männer überzeugt sind, dass er sie nicht nur kommandiert, sondern auch für sie sorgt“ (Segev 1992, S. 146).
Die Schatten seiner Kindheit tauchen hier wieder auf: Autoritäres und strenges Verhalten, Gehorsam, fehlende emotionale Bindungen in der eigenen Familie und Suche nach Ersatzfamilie. 

Gerne und immer wieder wird verwundert die Frage in den Raum gestellt, warum aus (angeblich!) normalen, liebevollen Familienvätern und Ehemännern in der NS-Zeit grausame Sadisten und Täter hatten werden können. Der Fall Eicke zeigt erneut, dass diese Vorstellung eine Illusion ist! Zuhause verhielten sich diese Akteure ganz ähnlich, wie auf den Schlachtfeldern oder in den Konzentrationslagern. Ihre Familien hatten nichts zu lachen. 

Hilmar Wäckerle, der erste Kommandant des Lagers Dachau, war vierzehn Jahre alt, als sein Vater ihn ins Königlich Bayerische Kadettenkorps schickte (Segev 1992, S. 81). „Man unterwarf die Kadetten einer strengen Disziplin, der sie sich anstandslos zu fügen hatten. Das Maß des Erlaubten zu überschreiten, konnte, unter anderen Strafen, auch die Prügelstrafe nach sich ziehen. Von dem Tag an, an dem sie in der Schule eintrafen, erwartete man von ihnen, sich ganz im Geiste der Offiziersethik wie Männer, Soldaten und Patrioten zu verhalten, sowohl innerhalb der Schule wie außerhalb. Sie wohnten in großen Schlafsälen und wuchsen dort auf, stets in Uniform, immer Teil einer Gruppe. Es herrschte ein steter Wettbewerb“ (Segev 1992, S. 83).
Auch Alfred Jodl hatte, neben diversen anderen hohen Militärs, laut Segev diese Kadettenschule durchlaufen. Für eine entsprechende Beschreibung der dortigen Abläufe und des Erziehungsrahmens siehe auch meinen Beitrag über Jodls Kindheit.

Karl Künstler war einer der Kommandanten des Lagers Flossenbürg. Er wurde 1901 geboren. Im Alter von vierzehn Jahren ging er gegen den Willen der Eltern von Zuhause fort und begann in einem Postamt zu arbeiten (Segev 1992, S. 88). Was für Hintergründe in der Familie mögen einen so jungen Menschen dazu gebracht haben, sich unbedingt unabhängig von den Eltern machen zu wollen? Künstler wurde außerdem später zum Trinker, wie Segev ausführt. Suchtverhalten hat Ursachen!

Adam Grünewald war Kommandant des KZ Herzogenbusch. „Sein Vater starb, als Grünewald acht Jahre alt war; als der Krieg ausbrach, war er zwölf“ (Segev 1992, S. 89). Den Vater so früh zu verlieren, ist eine schwere traumatische Erfahrung. Eine Gesellschaft im Kriegszustand zu erleben, ist ein weiteres prägendes Ereignis für ein Kind. 

Arthur Rödl war Kommandant des KZ Groß-Rosen. Als er zehn Jahre alt war, musste der Zeitungs- und Tabakkiosk seiner Mutter schließen. „Rödl wurde in dem Glauben aufgezogen, der Grund dafür sei die erbarmungslose Konkurrenz des benachbarten Kiosk gewesen – der einem Juden gehört hatte“ (Segev 1992, S, 164). Die Familie sei streng katholisch gewesen. Nach der Grundschule entschloss sich Arthur, Schmied zu werden. Noch während seiner Lehrzeit schloss er sich einer paramilitärischen nationalistischen Organisation an. Als der Krieg ausbrach, eilte der Sechzehnjährige zur nächsten Rekrutierungsstelle. Er fälschte seine Papiere und gab sich als Achtzehnjähriger aus. „Die nächsten vier Jahre verbrachte er in verschiedenen Kampfeinheiten an der Front“ (Segev 1992, 165). Das selbst gewählte Schicksal, ein Kindersoldat zu werden, ist schon bemerkenswert. 

Egon Zill war Kommandant verschiedener Konzentrationslager. „Egon Zill war acht Jahre alt, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Der Krieg war das zentrale Ereignis seiner Kindheit. Sein Vater wurde sofort bei Kriegsbeginn eingezogen, war die ganzen vier Jahre über weg und kehrte schwerverwundet zurück“ (Segev 1992, S. 168). Außerdem wird berichtet, dass ein Bruder von Egon im Alter von acht Monaten starb. Ob Egon dies miterlebt hat, ist nicht klar. Bereits im Alter von Siebzehn schloss sich Egon Zill der SA an. 

Karl Fritzsch war u.a. stellvertretender Kommandant in Auschwitz. Er wurde 1903 geboren. Sein Vater war Kachelofenbauer und häufig auf Auslandsreise, wobei er seine Familie häufig mitnahm. Karl musste deswegen immer wieder die Schule wechseln. „Eine richtige Schulbildung hat er nie genossen; und er sollte zeit seines Lebens Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben. Später erzählte er seiner Frau, er hätte nie ein richtiges Zuhause und Freunde gehabt; er sei ein stilles, äußerst sensibles Kind gewesen, das sich vor allem zur Mutter hingezogen fühlte“ (Segev 1992, S. 171). „Mehr als einmal erzählte er seiner Frau, wenn sie Kinder hätten, würde er alles tun, damit sie eine glücklichere Kindheit hätten als er, und dass sie in eben jenem richtigen Zuhause aufwachsen müssten, das ihm als Kind gefehlt habe“ (Segev 1992, S. 172). Was genau er alles an Belastungen in seiner Kindheit erfahren hat, bleibt unserer Fantasie überlassen. Seine Aussagen zeigen in eine deutliche Richtung.
Als der Krieg ausbrach, wurde sein Vater sofort eingezogen und kam bis Kriegsende nicht mehr nach Hause. Als er zurückkam, war Karl fünfzehn Jahre alt. Auch dies waren ganz sicher prägende Ereignisse. 

Karl Koch war Kommandant verschiedener Konzentrationslager. „Der Schlimmste aller Lagerkommandanten war zweifelsohne Karl Koch. In seinem Leben vermischt sich Grausamkeit mit Leidenschaft und Korruption (…)“ (Segev 1992, S. 175). Als Karl acht Jahre alt war, starb sein Vater. Seine Mutter heiratete später erneut, der Stiefvater brachte drei Söhne mit in die Ehe, die alle älter waren als Karl. Als Siebzehnjähriger wollte er freiwillig in den Ersten Weltkrieg ziehen, seine Mutter verhinderte dies. „Allem Anschein nach war er über die Maßen versessen darauf, endlich von zu Hause fortzukommen. Von Zeit zu Zeit meldete er sich bei der Armee, und jedesmal verlangte seine Mutter, dass man ihn wieder nach Hause schickte“ (Segev 1992,. 183f.). Als Achtzehnjähriger schaffte er es schließlich doch, an die Front zu kommen.
Dieser Wille zur Flucht von Zuhause macht nachdenklich. Er war das jüngste Kind dieser Patchworkfamilie und Halbwaise. Was war in dieser Familie los?

Der Autor befasst sich auch mit Amon Leopold Göth, dessen Wirken im KZ Płaszów weltweit durch den Film „Schindlers Liste“ bekannt wurde. Mit der Kindheit von Göth habe ich mich bereits in meinem Buch befasst. Es gab deutliche Hinweise für Vernachlässigung, aber auch Belastungen in einem strengen Internat. Segev unterstreicht diese Erkenntnisse nochmals sehr deutlich: „Amon Göth erzählte seiner Frau später, seine Eltern hätten ihn als Kind vernachlässigt und dass er den bürgerlichen Werten, zu denen sie ihn zu erziehen hofften, den Rücken zugewandt hätte. Sein Vater, so erzählte Göth, sei oft auf Geschäftsreisen durch ganz Europa und in den Vereinigten Staaten gewesen; seine Mutter habe die Druckerei geleitet und Hausarbeit und Kinderpflege ihrer Schwägerin, Göths Tante Kathy, überlassen. So weit er zurückdenken könne, sagte Göth später, hätten sie ihm das Gefühl gegeben, er sei dazu verpflichtet, sich darauf vorzubereiten, die Firma zu übernehmen (…)“ (Segev 1992, S. 186). Das Thema Kindesvernachlässigung kann somit eindeutig als erwiesen abgehakt werden. 

Franz Xaver Ziereis war Kommandant des KZ Mauthausen. Er wurde 1905 geboren. Sein Vater starb im Krieg, als Franz elf Jahre alt war. "Es lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen, wie sich das auf Ziereis auswirkte, jedenfalls sprach er immer wieder davon. Vielleicht bildete diese Erfahrung den Grundstein für die unerbittliche Härte, die er im Laufe der Jahre entwickelte" (Segev 1992, S. 191).

Hermann Baranowski war u.a. Kommandant im KZ Sachsenhausen. Er wurde 1884 geboren. Als Hermann sieben Jahre alt war, starb sein Vater. Als er sechzehn Jahre alt war, entschloss er sich, Elternhaus und Schule zu verlassen. Er ging zur Marine und verpflichtete sich gleich für zwölf Jahre. Der Autor führt aus, dass die Marine mit Härte und Disziplin geführt wurde. Nicht selten wurden Untergebene grausam misshandelt und erniedrigt. "Baranowski begann als gemeiner Matrose und diente sich langsam nach oben. Mit seiner Beförderung zum Obermaat schließlich gab man ihm eine fast unbegrenzte Macht an die Hand, jüngere Untergebene genauso zu behandeln, wie man ihn behandelt hatte" (Segev 1992, S. 200f.)

Franz Stangl war Kommandant der Lager Sobibor und Treblinka. Er wurde 1908 geboren. Sein Vater habe die Familie "mit eiserner Faust nach Regimentsgrundsätzen" geführt (Segev 1992, S. 247). O-Ton Stangl: "Ich hatte eine Todesangst vor ihm (...). Ich wusste seitdem ich ganz klein war, ich erinnere mich nicht genau wann, dass mein Vater mich nicht wirklich gewollt hatte. Ich hörte sie darüber reden. Er glaubte, ich sei nicht von ihm" (Segev 1992, S. 247). "Zu seinen frühesten Kindheitserinnerungen gehörte die, dass ihn sein Vater einmal wegen eines kleinen Vergehens `irrsinnig` verdrosch" (Segev 19992, S. 247f.). Als Franz acht Jahre alt war (während des Ersten Weltkriegs), starb sein Vater an Unterernährung. Als er zehn Jahre alt war, heiratete seine Mutter erneut. Stangls Ehefrau berichtete später, ihr Mann hätte eine unglückliche Kindheit gehabt.

Paul Werner Hoppe war Kommandant der Konzentrationslager Stutthof und Wöbbelin. Er wurde 1910 geboren. Sein Vater starb, als Paul zweieinhalb Jahre alt war. „Als Waise schickte man Hoppe zu Verwandten seiner Mutter, wo er bis 1919 blieb“ (Segev 1992, S. 205). Warum die Mutter nicht bei ihrem Sohn blieb, wird nicht beschrieben. Jedenfalls verlor das Kleinkind somit beide Elternteile.
Nach dem Krieg kehrte Paul in das Haus seines Onkels in Berlin zurück. Er wuchs in gehobenen Verhältnissen auf. Onkel und Tante, die keine eigenen Kinder hatten, adoptierten noch ein Mädchen. 

Johannes Hassebrock war Lagerkommandant des Konzentrationslagers Groß-Rosen. Er wurde 1910 geboren. In seiner Familie herrschte eine „konservative, patriotische Erziehung“ (Segev 1992, S. 216). Sein Vater war Gefängniswärter. Man mag angesichts dieser Tatsache spekulieren, ob ein Gefängniswärter des Kaiserreichs auch Zuhause zu starker Autoritätshörigkeit aufforderte.
Als Johannes drei Jahre alt war, starb eines seiner Geschwister im Alter von einem Jahr, was eine schwere Belastung für Johannes bedeutet haben wird. Ebenfalls im Alter von drei Jahren erlebte er den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Sein Vater wurde sofort eingezogen und kam erst vier Jahre später wieder zurück. Nach dem Krieg schloss sich der Vater dem „Stahlhelm“ an, der größten legalen paramilitärischen Veteranenorganisation. Seinen Sohn schickte der Vater zum „Bismarckbund“, einer konservativen, paramilitärischen Organisation auf dem rechten Flügel. Johannes wird dort entsprechenden Prägungen ausgesetzt gewesen ein. 

Max Kögel (oder Koegel) war Kommandant verschiedener KZs. Er wurde 1895 geboren. Als er fünf Jahre alt war, starb seine Mutter bei der Geburt ihres fünften Kindes. Als Max zwölf Jahre alt war, starb auch sein Vater. Eine Bauernfamilie nahm den Jungen auf (Segev 1992, S. 226). Wo seine Geschwister unterkamen, wird nicht beschrieben. Offensichtlich wurde er auch von ihnen getrennt. Als der Erste Weltkrieg ausbrach war Max achtzehn Jahre alt und meldete sich sofort als Freiwilliger zur Armee, nach drei Monaten Ausbildung schickte man ihn an die Front. 

Hans Hüttig war Kommandant der Konzentrationslager Natzweiler-Struthof und Herzogenbusch. Er wurde 1894 geboren. Die Familie war sehr religiös und lebte streng nach dem evangelischen Glauben. „Der Vater züchtigte die Kinder häufig, wie es damals üblich war. `Das machte einen Mann aus mir`, meinte Hüttig dazu“ (Segev 1992, S. 230). Letzteres spricht für eine starke Identifikation mit dem Aggressor. Sein Vater träumte von einer Offizierskarriere seines Sohnes. Seinen jugendlichen Sohn schickte er zunächst auf ein Internat, das die Schüler auf den Armeedienst vorbereitete. Entsprechend war Hans von seiner Familie getrennt. Als Siebzehnjähriger flog er allerdings durch die Prüfung und musste wieder zu seiner Familie ziehen. Ein oder zwei Jahre später verließ er das Elternhaus. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, meldete er sich sofort freiwillig für das Ostafrikakorps. 

Auch die schwer belastete Kindheit von Rudolf Höß wird vom Autor ausführlich beschrieben. Da ich hier keine mir neuen Informationen fand und ich die Kindheit von Höß bereits in meinem Buch besprochen habe, spare ich mir diesen Teil an dieser Stelle.

Schlussbemerkung 

Schade ist, dass der Autor Tom Segev in seinem Schlusswort nicht zentral auf die Gemeinsamkeit „Kindheitsbelastungen“ hingewiesen hat. Und dies, obwohl er sogar explizit die Arbeiten der „Psychohistory“ erwähnt (was an sich selten ist!) bzw. auf die Ergänzungen für die Geschichtswissenschaften aus dem Bereich der Psychologie/Psychoanalyse verweist (Segev 1992, S. 261f,). Dass Kindheitsbelastungen ein wichtiger Ursachenfaktor sein können, hat er wohl wahrgenommen, bleibt aber zögerlich und skeptisch. Zusammenfassend schreibt er kritisch: "Einige psychohistorische Arbeiten erweitern den Horizont des Lesers, aber letzten Endes versprach die psychohistory doch mehr, als sie halten konnte. Im Grunde ging sie nie über den theoretischen Ansatz, über Spekulationen und Vermutungen, hinaus" (Segev 1992, S. 262).
In der Tat standen der Psychohistory damals noch nicht so viele Daten zur Verfügung wie heute. Leider hat der Autor wie gesagt selbst verpasst, die Kindheitshintergründe auf Grund seiner eigenen Recherchen herauszustellen, was eigentlich naheliegend gewesen wäre. Er stand vor den Ergebnissen, vor der Empirie und hat daran vorbeigesehen... 

Mittwoch, 6. Juli 2022

Kindheit von Alexander II. (Russland, 1818 - 1881)

Zar Alexander II. ist der Sohn von Nikolaus I. und Enkel von Paul I. Dies ist in diesem Kontext besonders interessant, weil ich sowohl die Kindheit seines Vaters als auch seines Großvaters hier im Blog bereits besprochen habe. Beide Vorfahren mussten sehr destruktive Kindheitserfahrungen machen und wurden in meinen Augen traumatisiert. Die Vermutung liegt entsprechend nahe, dass sich dies auch auf den Umgang mit Alexander II. ausgewirkt hat, was wir sogleich prüfen werden. 

Meine Quelle: „Alexander II. The Last Great Tsar” von Edvard Radzinsky (2005, Free Press, New York)

Alexander II. erlebte im Alter von sieben Jahren eine erste kurze Staatskrise. Die so genannten Dekabristen wagten nach dem Tod von Zar Alexander I.  Ende Dezember 1825 den Aufstand, der allerdings schnell scheiterte. Die Familie rechnete damals mit dem Schlimmsten:
"Alexander´s mother and grandmother were terrified. (…) His grandmother was now fully informed. Twenty-four years earlier she had seen the mutilated body of her husband, the emperor. Now she might have to look upon the corpse of her son, the emperor. Sitting with her was Nicholas`s wife, worried to death, knowing the names of all the Russian tsars killed by the guards. Alexander`s mother developed a lifelong nervous tic over that day`s event” (S. 31). Wie der junge Alexander die damalige Krise aufnahm und verarbeitete, scheint nicht überliefert. 

Alexander neigte in jungen Jahren zu Tränen und Weinen, wenn es Anlass dazu gab. Sein Vater hasste dies: „Nikolas hated the tears, and the boy was often punished for them” (S. 52). Wie genau diese Strafen aussahen, wird vom Biografen nicht beschrieben. 

Schon früh sollte Alexanders Interesse fürs Militär geweckt werden. Sein Vater schickte den damals 10-Jährigen „to study at the Cadet Corps, where he would be taught soldiering and become a junior officer so that he could become a staff captain at thirteen and take part in his father`s beloved parades” (s. 53f.). 

Sein Vater hasste nichts mehr als Ungehorsam. “Whenever the boy dared to be disobedient, he had to bear his father`s wrath, which all of Russia feared” (S. 54). “I can forgive anything except disobedience!”, sagte sein Vater einst (S. 54). Auch hier bleibt wieder unklar, welche Strafen auf Grund von Ungehorsam drohten. 

Der Vater wird weiter als oft abwesend und allgemein streng beschrieben. Außerdem zählte eiserne Disziplin für ihn über alles (S. 54, 65). Es bleibt unserer Fantasie überlassen, was alles an Belastungen durch diesen Vater bezogen auf seinen Sohn ausgegangen sein könnten.
Wie eingangs beschrieben zeigte die Kindheit von Nikolaus deutliche Schatten und war u.a. von Strenge und auch Körperstrafen bestimmt. Seine eigenen autoritären Verhaltensweisen und Charakterzüge scheinen hier ihren Ursprung zu haben. 

Die Ehe der Eltern wird als harmonisch beschrieben. In unserem heutigen Verständnis konnte dies kaum stimmen. Denn Niokolaus hatte offensichtlich ständig Liebschaften. Er konnte sogar Interesse an verheirateten Frauen anmelden oder den Vätern von Töchtern die „Ehre“ der Auswahl ihrer Töchter mitteilen lassen (S. 55f.). Alexander blieb dies wohl nicht ganz verborgen und es scheint ihn auch belastet zu haben. Bzgl. einer Geliebten des Vaters schreibt der Biograf: „It was horrible for him to find that his father kept her under the same roof as his adored mother” (S. 55). 

Die Informationen über die Kindheit von Alexander II. sind dürftig. Eine unbelastete Kindheit scheint dies allerdings nicht gewesen zu sein, so viel lässt sich zumindest aus dem Material ablesen.