Zar Alexander II. ist der Sohn von Nikolaus I. und Enkel von Paul I. Dies ist in diesem Kontext besonders interessant, weil ich sowohl die Kindheit seines Vaters als auch seines Großvaters hier im Blog bereits besprochen habe. Beide Vorfahren mussten sehr destruktive Kindheitserfahrungen machen und wurden in meinen Augen traumatisiert. Die Vermutung liegt entsprechend nahe, dass sich dies auch auf den Umgang mit Alexander II. ausgewirkt hat, was wir sogleich prüfen werden.
Meine Quelle: „Alexander II. The Last Great Tsar” von Edvard Radzinsky (2005, Free Press, New York)
Alexander II. erlebte im Alter von sieben Jahren eine erste kurze Staatskrise. Die so genannten Dekabristen wagten nach dem Tod von Zar Alexander I. Ende Dezember 1825 den Aufstand, der allerdings schnell scheiterte. Die Familie rechnete damals mit dem Schlimmsten:
"Alexander´s mother and grandmother were terrified. (…) His grandmother was now fully informed. Twenty-four years earlier she had seen the mutilated body of her husband, the emperor. Now she might have to look upon the corpse of her son, the emperor. Sitting with her was Nicholas`s wife, worried to death, knowing the names of all the Russian tsars killed by the guards. Alexander`s mother developed a lifelong nervous tic over that day`s event” (S. 31). Wie der junge Alexander die damalige Krise aufnahm und verarbeitete, scheint nicht überliefert.
Alexander neigte in jungen Jahren zu Tränen und Weinen, wenn es Anlass dazu gab. Sein Vater hasste dies: „Nikolas hated the tears, and the boy was often punished for them” (S. 52). Wie genau diese Strafen aussahen, wird vom Biografen nicht beschrieben.
Schon früh sollte Alexanders Interesse fürs Militär geweckt werden. Sein Vater schickte den damals 10-Jährigen „to study at the Cadet Corps, where he would be taught soldiering and become a junior officer so that he could become a staff captain at thirteen and take part in his father`s beloved parades” (s. 53f.).
Sein Vater hasste nichts mehr als Ungehorsam. “Whenever the boy dared to be disobedient, he had to bear his father`s wrath, which all of Russia feared” (S. 54). “I can forgive anything except disobedience!”, sagte sein Vater einst (S. 54). Auch hier bleibt wieder unklar, welche Strafen auf Grund von Ungehorsam drohten.
Der Vater wird weiter als oft abwesend und allgemein streng beschrieben. Außerdem zählte eiserne Disziplin für ihn über alles (S. 54, 65). Es bleibt unserer Fantasie überlassen, was alles an Belastungen durch diesen Vater bezogen auf seinen Sohn ausgegangen sein könnten.
Wie eingangs beschrieben zeigte die Kindheit von Nikolaus deutliche Schatten und war u.a. von Strenge und auch Körperstrafen bestimmt. Seine eigenen autoritären Verhaltensweisen und Charakterzüge scheinen hier ihren Ursprung zu haben.
Die Ehe der Eltern wird als harmonisch beschrieben. In unserem heutigen Verständnis konnte dies kaum stimmen. Denn Niokolaus hatte offensichtlich ständig Liebschaften. Er konnte sogar Interesse an verheirateten Frauen anmelden oder den Vätern von Töchtern die „Ehre“ der Auswahl ihrer Töchter mitteilen lassen (S. 55f.). Alexander blieb dies wohl nicht ganz verborgen und es scheint ihn auch belastet zu haben. Bzgl. einer Geliebten des Vaters schreibt der Biograf: „It was horrible for him to find that his father kept her under the same roof as his adored mother” (S. 55).
Die Informationen über die Kindheit von Alexander II. sind dürftig. Eine unbelastete Kindheit scheint dies allerdings nicht gewesen zu sein, so viel lässt sich zumindest aus dem Material ablesen.
2 Kommentare:
https://taz.de/Erziehung-in-Russland/!5862350/
Wichtiger Artikel, Danke!
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