Samstag, 31. Dezember 2022

Das Buch "Tyrannen" und die Kindheit des Sultans Ibrahim (1615-1648).

Das Buch „Tyrannen. Eine Geschichte von Caligula bis Putin“ (Krischer & Stollberg-Rilinger, Hrsg.), das 2022 bei C-H. Beck erschienen ist, brachte für mich nicht wirklich viele neue Erkenntnisse bzgl. Kindheits- und Traumahintergründen von Diktatoren und politischen Führern. 

Was haben diverse "Tyrannen" gemeinsam, wird im Klapptext gefragt. Nun, dass sie Tyrannen sind und sich ähnlich verhalten könnte - dem Buch folgend - die Antwort sein...

Der Blickwinkel im Buch ist stark klassisch historisch: Man erfährt schlicht, was war. 

Psychohistorisch wäre die Antwort auf die Frage nach Gemeinsamkeiten gewesen: "Destruktive Kindheiten". Bzgl. 11 der Akteure, die im Buch „Tyrannen“ besprochen wurden, habe ich bereits entsprechend deutliche Details recherchiert und zwar für: Nero, IvanIV., Napoleon, Franco, Mao, Pinochet, Mugabe, KimIlsung, Erdoğan, Trump und Putin. Für im Buch besprochene Akteure wie Idi Amin, Assad, und Kim Jong Un habe ich in der Vergangenheit Infos über die Kindheit gesucht, aber diese scheint fast gänzlich unbeleuchtet.

Neu für mich und interessant waren die Infos über die Kindheit des Sultans İbrahim (genannt "der Wahnsinnige"), der unter der ständigen Angst aufwuchs, so wie etliche seiner Brüder, umgebracht zu werden. Leider der einzige Akteur im Buch, dessen Kindheit etwas näher beleuchtet wurde. Es bestätigt sich erneut das Bild, dass klassische HistorikerInnen oftmals wenig Interesse für die Folgen von kindlichen Belastungen ihrer „Untersuchungsobjekte“ zeigen. 

Kommen wir aber zurück zur Kindheit von Sultan Ibrahim (1615-1648). Besprochen wird dieser Herrscher von Christine Vogel unter dem Titel „Ibrahim `der Wahnsinnige` - die osmanische Dynastie am Abgrund" (S. 106-120). 

Ibrahim hatte sein Dasein bis zu seinem 24. Lebensjahr im „Kafes, dem Prinzengefängnis, gefristet, einem abgeschlossenen und streng bewachten Bereich im Inneren des Topkapi-Palasts. (…). Im abgeschotteten Bereich des Kafes lebten die osmanischen Prinzen seit dem frühen 17. Jahrhundert (…) abseits von repräsentativem Prunk und weitgehend ohne Kontakte zur Außenwelt. Umgeben von Pagen, Eunuchen und Konkubinen, deren Schwangerschaften konsequent unterbunden wurden, um zu verhindern, dass die potentiellen Thronfolger Nachwuchs zeugten, blieben die Prinzen nahezu unsichtbar, fern von jeglicher politischen Funktion und Verantwortung“ (Vogel 2022, S. 109).

Ibrahim war der der jüngste von neun Söhnen Sultan Ahmeds I. Seit seiner frühsten Kindheit hatte er miterlebt, wie im Laufe der Jahre alle seine Brüder verschwanden. Anlass für das Verschwinden war in zwei Fällen die jeweilige Thronbesteigung. Beide Thronfolger ließen allerdings fünf ihrer Brüder erdrosseln, damit diese nicht den Thron besteigen konnten. Ein weiterer Bruder starb krankheitsbedingt. (Vogel 2022, S. 109). 

Dass im Palast potentielle Thronfolger von ihren jeweiligen Brüdern umgebracht wurden, hatte eine lange Tradition im Herrscherhaus. „Die als legale Maßnahme zur Herrschaftssicherung verstandene Praxis des Brudermords war gewissermaßen die blutige Kehrseite der durch Konkubinat verursachten `Überproduktion` männlicher Nachfahren“ (Vogel 2022, S. 110). Im historischen Verlauf setzte sich später durch, dass der jeweils Älteste Thronfolger wurde, wodurch der Brudermord schließlich obsolet wurde. 

Ibrahim wurde nur deshalb als Einziger am Leben gelassen, weil er als geistesschwach galt und daher nach allgemeiner Auffassung als Konkurrent um die Sultanswürde für Murad IV. keine ernstzunehmende Gefahr darstellte“ (Vogel 2022, S. 110). 

Nachdem Murad IV. gestorben war (und keine eigenen Nachkommen hinterlassen hatte) und die politischen Würdenträger seine Gemächer betraten, soll Ibrahim zunächst panisch reagiert haben. Er rechnete wohl damit, umgebracht zu werden und weigerte sich zunächst, das “Prinzengefängnis“ zu verlassen.
Dass die jahrzehntelange Haft unter ständiger Todesangst sich wohl negativ auf Ibrahims ohnehin labilen Geisteszustand ausgewirkt hatte, wird dabei von niemandem bezweifelt (…)“ (Vogel 2022, S. 112). 

Als Herrscher sicherte sich Ibrahim den Ruf eines grausamen Despoten, der zu irrationalen Entscheidungen neigte. Wenn wir auf seine potentiell traumatische Kindheit schauen, wird dies erklärbar. 


Dienstag, 13. Dezember 2022

Trotz viel Empirie: Kindheiten von Extremisten sind oft kein Thema in der Extremismusforschung

Für mich ist immer wieder erstaunlich, dass es kaum Übersichtsarbeiten bzw. fokussierte Fachbeiträge über den speziellen Bereich Kindheit & Extremismus gibt. Ganz im Gegenteil ist es oftmals so, dass entsprechende Handbücher und Sammlungen von Expertisen über Extremismus/Terrorismus keine Schwertpunktbeiträge über Kindheit/Trauma/Familie enthalten. Beispiele dafür sind:

  • Handbuch Extremismusprävention“ (Ben Slama & Kemmesies 2020)
  • Handbook of Terrorism Prevention and Preparedness“ (Schmid 2020)
  • "The Oxford Handbook of Terrorism" (Chenoweth et al. 2019)
  • Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis“ (Jesse & Mannewitz 2018)
  • Handbuch Politische Gewalt: Formen - Ursachen - Legitimation – Begrenzung“ (Enzmann 2013
  • Terrorismusforschung in Deutschland“ (Spencer, Kocks & Harbrich 2011). 

Auch in titelstarken Einzelarbeiten wie z.B. „Extremismus und Radikalisierung - Kriminologisches Handbuch zur aktuellen Sicherheitslage“ (Dienstbühl 2019) findet sich – trotz umfassender und systematischer Struktur und Gliederung - kein eigenes Kapitel über Kindheit/Trauma/Familie und Extremismus. In dem genannten Band taucht nach meiner Suche (per E-Book Suchfunktion) sogar nicht ein einziges Mal das Wort „Kindheit“ auf. 

Im recht komplexen Handbuch über Rechtsextremismus von Armin Pfahl-Traughber (2019). „Rechtsextremismus in Deutschland - Eine kritische Bestandsaufnahme“ gibt es im Kapitel 24 "Erklärungsansätze" kurze Einlassung auf den Autoritarismus, aber Kindheit & Trauma ist wie so oft kein Thema, wenn es um Ursachen geht.

Der Extremismusforscher Matthias Quent (2020) hat eine Art populärwissenschaftliche Handreichung unter dem aussagekräftigen Titel „Rechtsextremismus: 33 Fragen - 33 Antworten“ abgeliefert. Nicht in einer einzigen Frage bzw. Antwort geht er auf Kindheitshintergründe der Extremisten ein, was auch für etliche andere Einzelarbeiten von entsprechend Forschenden gilt. 

Das aktuellste Beispiel (und Auslöser für diesen Blogbeitrag!) ist das Buch Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis“ (Rothenberger, Krause, Jost & Frankenthal 2022), das Mitte diesen Jahres erschienen ist. Im umfassenden Index taucht das Wort „Kindheit“ gar nicht auf, was an sich schon deutlich macht, wie wenig Bedeutung man diesem Bereich zukommen lässt. Dabei hätte der Index das Wort sogar aufnehmen können, denn an einer einzigen Stelle im Buch wird – innerhalb von zwei bis drei Sätzen - eine Verbindung hergestellt:
Eine entwicklungspsychologische Perspektive interessiert sich für die Auswirkungen ungünstiger früher Beziehungserfahrungen auf die spätere Identitätsentwicklung. Wenn in der Kindheit Vernachlässigung und Gewalt eine Rolle spielten, besteht ein erhöhtes Risiko für spätere psychosoziale Probleme (Schulabbrüche, Delinquenz, Substanz- und Alkoholmissbrauch, Risikoverhalten)“ (Sischka 2022, S. 360). Dass Kindheitseinflüsse nebenbei in kurzen Sätzen erwähnt werden und nicht als eine der zentralsten Ursachen hervorgehoben werden, erlebe ich immer wieder. 

Unter dem Begriff „Trauma“ finden sich im Index zwar sechs Stellen im Buch, aber keine von diesen bezieht sich auf mögliche Traumahintergründe der Terroristen/Extremisten.
Und wo wir gerade dabei sind: In dem Handbuch werden etliche Terroristen besprochen oder erwähnt, von Anders Breivik, Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Osama Bin Laden bis hin zu Timothy McVeigh. All diese genannten Akteure hatten nach meiner Recherche eine traumatische Kindheiten, nur scheint es keinen für das Handbuch gewonnenen Experten zu geben, der/die sich damit befasst hat. 

Ganz im Gegenteil findet sich an einer Stelle (Kapitel: „Prozesse und Faktoren von Radikalisierung: Ein Überblick“ von Daniela Pisoiu) sogar quasi die Negierung von Kindheitseinflüssen. Zunächst geht Pisoiu auf die psychische Situation von Anders Breivik ein und unterstreicht, dass dieser voll für seine Taten zur Rechenschaft gezogen bzw. als voll schuldfähig eingestuft wurde. Sie schließt dem an:
Die `Normalität` von Terroristen bezieht sich jedoch nicht nur auf den Aspekt der psychischen Gesundheit. Denn die Auffälligkeiten, die gegebenenfalls in ihren Lebensläufen auftauchen (z.B. problematische Kindheit, keine abgeschlossene Schulbildung) reichen nicht aus, um einen signifikanten Unterschied zur Gesamtbevölkerung aufzuzeigen und so eine bestimmte Teilmenge der Bevölkerung zu definieren, die für Terrorismus prädestiniert sein könnte – das sogenannte Spezifitätsproblem“ (Pisoiu 2022, S. 344). Einige Zeilen weiter zitiert sie dann noch eine Studie von Donatella della Porta über 29 ehemalige linke Militante, die die „Atmosphäre in ihrer Familie als gut oder sehr gut bezeichneten“ (ebd.).
Diese zitierte Quelle habe ich mir durchgesehen. Donatella della Porta schreibt kurz vor ihrem Hinweis auf die 29 Militanten sogar noch folgendes:  „(…) past research has found no sign of any typical pattern in the primary socialization of militants, no sign of particular family problems or of an authoritarian upbringing. (…)” (della Porta 2012, S. 233).  Die zitierte Studie über die 29 Militanten kann ich leider nicht bzgl. Methodik etc. überprüfen, da sie auf italienisch ist. Schaut man sich den Beitrag von della Porta aber genau an, dann greift sie rein auf Quellen zurück, die alle zwischen 1950 und 1990 veröffentlicht wurden. Für diesen Zeitraum stimmt ihr zuvor zitierter Satz, denn es gab noch viel zu wenig Material über Kindheitshintergründe von Extremisten. Heute sieht dies ganz anders aus und ich kritisiere erneut, dass dies in einem Handbuch aus dem Jahr 2022 über Terrorismus nicht deutlich aufgeführt wurde. Gleichzeitig wundere ich mich darüber, dass della Porta in dem Buch "Terrorism Studies. A Reader", das im Jahr 2012 erschienen ist, einen solchen Satz schreibt. Zwischen 1990 und 2012 liegen schließlich über 20 Jahre! Auch in diesem Zeitraum sind so einige Arbeiten erschienen, in denen es um Kindheiten von Extremisten geht.  

Merkwürdig ist auch - um wieder auf das Handbuch "Terrorismusforschung" zurückzukommen -, dass Pisoiu zusammen mit anderen AutorInnen (Srowig et al. 2018) in dem Heft „Radikalisierung von Individuen: Ein Überblick über mögliche Erklärungsansätze“ vor allem im Kapitel 4.2 Studien besprochen hat, die ein hohes Maß an Belastungen in der Kindheit von Extremisten aufzeigen. Auf diese Veröffentlichung wollte ich innerhalb meines Blogbeitrags hier sogar ursprünglich gesondert hinweisen: Als ein seltenes Positivbeispiel für das Hinsehen auf die Kindheitshintergründe von Extremisten! Erst dann entdeckte ich, dass Pisoiu ja sogar Mitautorin war. Vor diesem Hintergrund verwundert es umso mehr, dass sie nun gerade im Handbuch „Terrorismusforschung“ Kindheitseinflüsse quasi beiseiteschiebt.

Es bleibt Fakt, dass es auf der anderen Seite viele Einzelstudien und Arbeiten gibt, die zusammengetragen ein sehr aussagekräftiges Gesamtbild ergeben. Dies sieht man z.B. in meinem Beitrag „Kindheitsursprünge von Rechtsextremismus: DIE gesammelten Studien“ bzw. im Inhaltsverzeichnis meines Blogs.
Man kann auf der einen Seite also nicht sagen, dass sich DIE Extremismusforschung blind gegenüber Kindheitseinflüssen stellt. Sonst hätte ich ja nicht all die Daten und Fakten zusammentragen können, die ich fand. Auf der anderen Seite wird das Thema immer wieder ausgeblendet oder offensichtlich als zu "banal" zur Seite geschoben (was die Inhalte bzw. nicht vorhandenen Inhalte dazu in den kritisierten Übersichtsarbeiten zeigen). Das Missverhältnis zwischen auf der einen Seite viel empirischem Material (durch diverse Einzelarbeiten oder auf Grund von Biografieforschung wie von mir in meinem Blog vielfach gezeigt) und fehlender Zentriertheit vieler Forschender auf Kindheitseinflüsse ist also an sich erklärungsbedürftig. 

Die fehlende Zentriertheit der Extremismusforschung auf Kindheitserfahrungen findet ihren Widerhall auch bei der Bereitstellung von Mitteln für die Prävention. Die Bundesregierung hat beispielsweise am 25.11.2020 den „Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2020) veröffentlicht. Insgesamt werden 89 Maßnahmen aufgeführt, die wiederum verschiedenen Ministerien zugeordnet wurden. Eine Milliarde Euro wurde zur Verfügung gestellt, um die Maßnahmen umzusetzen. In dem Katalog gibt es keine einzige Maßnahme, die in Richtung Kinderschutz als Extremismusprävention geht. Würde Kinderschutz bzgl. der Maßnahmen der Regierung als Extremismusprävention verstanden, dann würde eine Milliarde Euro allerdings wohl kaum ausreichen. Große Investitionen würden sich hier allerdings lohnen und dies nicht nur im Kampf gegen Extremismus. Eine wirkliche und nachhaltige Zentriertheit der Gesellschaft auf den Schutz und die Unterstützung von Kindern hätte insgesamt viele positive Effekte, was der Gesellschaft am Ende eine Menge an Folgekosten für Gesundheit, Jugendhilfe, Sozialhilfe, Polizei, Verfassungsschutz und Justiz sparen würde.

Dass es in der Forschung auch anders gehen kann, zeigt der herausragende und wegweisende Beitrag „From Childhood Trauma to Violent Extremism: Implications for prevention“ von Lundesgaard & Krogh (2018) in dem Handbuch „Violent extremism in the 21st century: International perspectives“. Beiträge wie dieser sind eine Seltenheit. Offensichtlich gibt es kaum etablierte Fachleute, die sich auf den Bereich Kindheit und Extremismus fokussiert haben und überhaupt als BeitragsautorInnen für entsprechende Fachbücher infrage kommen. 

Insofern wünsche ich mir für die kommenden Jahre eine Öffnung der Extremismusforschung für Kindheitseinflüsse beim Thema Extremismus, eine Öffnung für Psychohistorie, Psychoanalyse, Traumaforschung und ganz besonders auch die Adverse Childhood Experiences Forschung. Nur dann werden wir die Ursachen umfassend verstehen und langfristig betrachtet nachhaltige Prävention möglich machen können. 


Quellen:

Ben Slama, B. & Kemmesies, U. (Hrsg.) (2020). Handbuch Extremismusprävention. Gesamtgesellschaftlich. Phänomenübergreifend. (Polizei + Forschung, Band-Nummer 54) Bundeskriminalamt Wiesbaden. 

Chenoweth, E., English, R., Gofas, A. & Kalyvas, S. (Hrsg.) (2019). The Oxford Handbook of Terrorism. Oxford University Press, Oxford.

Della Porta, D. (2012). On individual motivations in underground political organizations. In: Horgan, J. & Braddock, K. (Hrsg.). Terrorism Studies. A Reader. Routledge, London & New York.

Dienstbühl, D. (2019). Extremismus und Radikalisierung - Kriminologisches Handbuch zur aktuellen Sicherheitslage. Richard Boorberg Verlag, Stuttgart. Kindle E-Book Version.

Enzmann, B. (Hrsg.) (2013). Handbuch Politische Gewalt: Formen - Ursachen - Legitimation – Begrenzung. Springer VS, Wiesbaden. Kindle E-Book Version. 

Jesse, E. & Mannewitz, T. (Hrsg.) (2018). Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden.

Lundesgaard, A. & Krogh, K. (2018). From Childhood Trauma to Violent Extremism: Implications for prevention. In: Overland, G., Andersen, A. J., Førde, K. E., Grødum, K. & Salomonsen, J. (Hrsg.). Violent extremism in the 21st century: International perspectives. Cambridge Scholars Publishing, Newcastle-upon-Tyne, S. 180-198.

Pfahl-Traughber, A. (2019). Rechtsextremismus in Deutschland - Eine kritische Bestandsaufnahme. Springer VS, Wiesbaden.

Pisoiu, D. (2022). Prozesse und Faktoren von Radikalisierung: Ein Überblick. In: Rothenberger, L., Krause, J., Jost, J. & Frankenthal, K. (Hrsg.). Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos, Baden-Baden. S. 343-350.

Presse und Informationsamt der Bundesregierung (2020, 25. Nov.). Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus

Quent, M. (2020). Rechtsextremismus: 33 Fragen - 33 Antworten. Piper Verlag, München. 

Rothenberger, L., Krause, J., Jost, J. & Frankenthal, K. (Hrsg.) (2022). Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos, Baden-Baden.

Schmid, A. P. (Hrsg.) (2020). Handbook of Terrorism Prevention and Preparedness. ICCT Press, Den Haag. (freie Onlineversion), https://icct.nl/handbook-of-terrorism-prevention-and-preparedness/.

Sischka, K. (2022). Identitätsprozesse und Radikalisierung. In: Rothenberger, L., Krause, J., Jost, J. & Frankenthal, K. (Hrsg.). Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos, Baden-Baden. S. 359-366.

Spencer, A., Kocks, A. & Harbrich, K. (Hrsg.) (2011). Terrorismusforschung in Deutschland. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Sonderheft 1.

Srowig, F., Roth, V., Pisoiu, D., Seewald, K. & Zick, A. (2018). Radikalisierung von Individuen: Ein Überblick über mögliche Erklärungsansätze. PRIF Report 6/2018. Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) & Peace Rresearch Institute Frankfurt (PRIF), Frankfurt am Main. https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_publikationen/prif0618.pdf

Wahl, K. & Wahl, M. R. (2013). Biotische, psychische und soziale Bedingungen für Aggression und Gewalt. In: Enzmann, B. (Hrsg.). Handbuch Politische Gewalt: Formen - Ursachen - Legitimation – Begrenzung. Springer VS, Wiesbaden. Kindle E-Book Version. 





Sonntag, 11. Dezember 2022

Fallstudie über den Nazi "Tom"

Ich habe erneut eine Fallstudie über einen Nazi gefunden:

Smith, A. F. & Sullivan, C. R. (2022). Exiting far-right extremism: a case study in applying the developmental core need framework. Behavioral Sciences of Terrorism and Political Aggression. Onlineveröffentlichung vom 13.06.2022. https://doi.org/10.1080/19434472.2022.2076718

Tom war fast 20 Jahre Teil einer sehr bekannten und gewalttätigen Neo-Nazi Organisation in den USA. Die Forschenden trafen ihn für ein langes Interview. Fragen waren vorbereitet, das Gespräch verlief aber auch offen. In dem Forschungsbericht werden auch einige Details aus seiner Kindheit erwähnt.

Tom traf im Alter von elf Jahren erstmals auf die rechtsextreme Gruppe, genau zu der Zeit, als sein Vater gestorben war. Was ihn an der Gruppe sofort beeindruckte, war der – wie er sagt – „Respekt“, den die Gruppe durch ihr Auftreten bekam. Man könnte auch einfach sagen: Die Leute hatten Angst vor ihnen. „I liked that people feared me … I liked it when people saw me coming, they crossed the street” (S. 8)

Tom wuchs in einer Nachbarschaft auf, wo er und seine Familie die einzigen „Weißen“ waren. Als Kind hatte er zunächst viele „Schwarze“ als Freunde. Mit den Jahren fühlte er sich aber als „Weißer“ nicht gleich und auch rassistisch behandelt. „In addition to his feelings of social and racial alienation, Tom’s home life was characterized by conflict. He described his biological father as hard-working but largely absent. Tom noted, ‘ … there wasn’t a lot of communication with him [his father], except for when we [Tom and his brother] got in trouble.’ Tom described his father as a former Navy-man, who was a physically abusive disciplinarian. (Tom described being given ‘twenty-five to thirty spanks with a big-ass leather belt’ by his father for relatively minor infractions and childhood pranks.)” (S. 9).
Er entschuldigte seinen Vater sogleich für dessen Gewalt und Verhalten, weil dieser ganz ähnlich aufgewachsen sei (sprich mit Gewalt).

Später trat noch ein Stiefvater in Toms Leben. Tom spricht bewundernd von seiner Mutter. Die Beziehung zu ihr oder ihr Erziehungsverhalten wird aber nicht deutlich. An einer Stelle wird erwähnt, dass seine Mutter Brustkrebs hatte und behandelt werden musste. Es wird leider nicht deutlich, ob diese Situation noch in Toms Kindheit eintraf (was eine weitere schwere Belastung für das Kind bedeuten würde, das ja bereits seinen Vater früh verloren hatte).

Als er der Nazi-Szene beitrat wurde er innerhalb seiner Familie zum Außenseiter. Da er bereits ab dem 11. Lebensjahr in Kontakt mit der Szene kam, wird es – so meine Vermutung - zu etlichen Konflikten mit Mutter und Stiefvater gekommen sein.

Schwere traumatische Erlebnisse (väterliche Misshandlungen, Tod des Vaters) sind deutlich belegt, weitere Belastungen sind nicht ausgeschlossen. 

Innerhalb der Nazi Gruppe machte Tom dann sowohl als Täter als auch als Opfer weitere traumatische Erfahrungen. 


Sonntag, 4. Dezember 2022

Childhood is political!

This text (slightly updated version) is the English translation of:

Fuchs, Sven (2021). Die Kindheit ist politisch! Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Interdisziplinäre Fachzeitschrift für Prävention und Intervention (DGfPI), Jahrgang 24, Heft 1, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 80-85.


Abstract: Do childhood experiences have consequences? If this question is put into relation to politics and society or even to collective things such as war, extremism, terrorism or social developments towards dictatorial regimes, then quite a few people would respond, “No, childhood has nothing to do with it!” People answer in this direct way quite promptly, but most of the time they don’t engage or really get involved to talk about these connections. I will use among other things biographies to show that childhood is indeed political and that childhood experiences itself can have political consequences.


Please imagine, dear reader, that you are a psychotherapist. In the following, I present five individual cases, anonymized at first. You will learn the real names of the “patients” afterwards. Patients come to your practice, we imagine, because of a range of mental and health conditions (addictions, mood disorders, sleep disorders, suicidal thoughts, self-loathing, etc.). In the course of anamnesis and therapy, their childhood backgrounds become clear, which I will present briefly: 

Case A: A was the first surviving child after two miscarriages; at the age of five he almost died of smallpox; after an accident suffered in childhood, his left arm was also injured and remained crippled; the father was a violent alcoholic who beat his wife and children; A’s father beat him almost every day (after one assault the child had blood in his urine for days); one day the father even tried to strangle A’s mother; when A was 11 or 12 years old, his parents separated; the father later became a vagrant; A’s mother also abused her son and she forced him into training to become a priest; A spent five years of his adolescence in a seminary which was characterized by rituals of submission to authority, humiliation by the clergy, powerlessness and punishment.

Case B: The mother had originally wanted to abort the fetus; during pregnancy, she already perceived the fetus as a difficult child who was restless and kicked her; for the infant, the mother did only what was necessary and was uncaring; early separation of parents; single mother was overwhelmed early on and asked the authorities for help; as a two-year-old, B was therefore accommodated in out-of-home care at the weekends for some time; the mother neglected and beat her son + emotional abuse; the mother behaved in a “sexualized” manner toward her son; the mother told her son she wished he were dead; the mother probably suffered from borderline personality disorder; three-week inpatient admission to a psychiatric facility as a four-year-old (along with his single mother); psychiatric team was extremely concerned after the assessment and demanded that the mother and son be separated; the father then attempted to gain custody, but failed. 

Case C and D: This is about two brothers; the father was physically violent towards the children and died early of cancer; the now single mother neglected the children, who also grew up in poverty and appeared neglected; finally, the mother became seriously ill, she asked the authorities for help, whereupon the two sons were placed in a children’s home; however, the home chosen by the authorities was very far away, which meant that neither the mother nor the other siblings could visit the brothers, they could only phone them; a few month after being placed in the home, the mother died, presumably of a drug overdose. 

Case E: E was rejected as a fetus, his mother tried to abort him, but this failed; E lost his father early and went to live with an uncle who regularly beat him and called him the “son of a cur”; the uncle was considered an argumentative and moody person and an obstinate admirer of Adolf Hitler; the uncle was eventually imprisoned for his veneration of the Nazis and E had to go back and live with his mother who had found a new husband in the meantime; he was not welcomed; the new stepfather was also brutal and beat E; in the family home there was neither running water nor electricity, and humans and animals lived together under one roof; at night, the family slept crowded together on the dirt floor to keep each other warm; since E was fatherless and an outsider, he was also teased mercilessly by the other children in the village and often beaten up.

Case F: War childhood (including escape from Jena from the Red Army), orphan: The father died when F was five, the mother died when she was 14, severe conflict and marital crisis in the parental home after mother's affair, then suicidal moods of the mother; abandonment by the mother on several occasions (children's home + relatives); the first time, F’s mother passed her to the children’s home at the age of six for about half a year (later, F wrote the screenplay for the German film “Bambule”, which depicted the hardship and attempted resistance of female adolescents in institutions); the mother had fallen in love with a fellow female student and seems to have devoted herself entirely to this relationship and her university education; after the mother's death, the whole world died for her, F later said; the mother's girlfriend became a foster mother but neglected the adolescent.  

Please remember that you are still imagining that you “are” a psychotherapist. Do you see a connection between these childhoods and the patients’ suffering and mental state, or do you rule it out? I can imagine that you recognize a connection and you are also quite right with regard to the general research situation.

Internationally, since the pioneering work of Dr. Vincent Felitti in the late 1990s, research into so-called Adverse Childhood Experiences (ACEs) has expanded tremendously. ACEs typically include stress factors such as sexual, physical and emotional abuse; neglect; parental separation; witnessing domestic violence; growing up with mentally ill or addicted family members; and witnessing the incarceration of family members. 789 professional articles that focused on various consequences of adverse childhood experiences (ACEs) were published between 1998 and 2018 (Struck et al. 2021). In addition, a full 38,411 English-language professional articles thematically related to child maltreatment emerged between the years 2000 and 2018 (Tran et al. 2018). The large meta-study by Gershoff & Grogan-Kaylor (2016) is worth highlighting: 111 studies were evaluated. The studies evaluated included data for a total of 160,927 children. 99 % of studies found harmful effects of physical violence against children and no positive effects. 17 negative effects were recorded, including, for example, aggression, antisocial behavior, mental health problems, low self-esteem, lower cognitive ability, lower internalized morals, alcohol and drug abuse, and approval of corporal punishment against children. 

Analysis of ACEs (review and meta-analysis; 253,719 respondents from 37 international studies) has found that adults who were exposed to four or more ACEs were seven to eight times more likely to be involved in interpersonal violence (violence victimization or perpetration), and 30 times more likely to attempt suicide than adults with no ACE exposure (Hughes et al. 2017). 

Adverse Childhood Experiences were also found to a strikingly high extent in the particular population of (violent) offenders (Baglivio et al. 2021, Cannon et al. 2016, Dermody et al. 2020, Graf et al. 2021, Messina & Grella 2006, Reavis et al. 2013). In one study, particularly young murderers (N = 25, mean age = 14.7) were also found to have clearly destructive childhood backgrounds: dysfunctional family (96 %), emotionally abused at home (83 %), physically abused (55 %), sexually abused (10 %); in addition, 52 % of these children/murderers had suicidal thoughts (Myers et al. 1995).

Meanwhile, the costs associated with adverse childhood experiences are also coming into focus. A 2019 study, funded by WHO, calculates the annual cost due to adverse childhood experiences (ACEs) to be US$ 581 billion in Europe and US$ 748 billion in North America (Bellis et al. 2019). “How Much More Data Do We Need? Making the Case for Investing in Our Children” is the title of a recent specialist article that makes the case that the consequences of child maltreatment are finally extensively researched and that it is time to invest heavily in children (Berger et al. 2021). 

I believe that you are a good “psychotherapist” if you recognize the connections and do long-term trauma therapy with your above-mentioned patients. However, my experience is that these relationships are often faded out or even denied when it comes to the political realm, when it comes to dictatorial/authoritarian forms of government, extremism, terrorism, war and hostile/destructive politics. All these things are most rarely associated with adverse childhood experiences. 

But now we come to the resolution (sources for each of the childhoods discussed above are in parentheses): Patient A is the mass murderer and dictator Josef Stalin (Fuchs 2019), patient B is the Norwegian right-wing terrorist and mass murderer Anders Breivik (Borchgrevink 2013, Fuchs 2019), patients C and D are the Islamist terrorists Chérif and Saïd Kouachi (Fuchs 2019, Smith 2019) who carried out the attack on the editorial office of the satirical magazine Charlie Hebdo on January 7, 2015. Patient E is the Iraqi mass murderer and dictator Saddam Hussein (Fuchs 2019) and patient F is Red Army Faction (RAF) founding member and German far-left terrorist Ulrike Meinhof (Fuchs 2019).  

I could imagine that your assessment of these personalities might now change somewhat. There is a danger, you may think, that the actions of these people would be excused if we relate them to correspondingly destructive childhoods. There is an equal danger of losing sight of the victims of the perpetrators when we focus on the victim that these perpetrators once were. An essential thought may also be that most people abused and traumatized as children do not become mass murderers and terrorists (however, I assume that you as a “psychotherapist” would not hold against your “patients” that, after all, many other people with similar childhood backgrounds do not have an addiction problem or suicidal thoughts, just a thought). The influences that must come together for a person to become a perpetrator, even a mass murderer, are undoubtedly always complex and not just dependent on childhood. And yes, certainly the step to commit the crime is also a decision of the respective perpetrator and these people have to answer for this, no matter what their childhood was like. We do not have to excuse their actions, but we should understand so that prevention can take effect. 

The much more essential and central question for me is: Would these personalities have become this kind of perpetrator if they had experienced a largely loving and violence-free childhood? Or also: with the horrors of childhood remaining the same, would they have become these perpetrators if they had received help, support, positive compensatory experiences and psychotherapy early on? 

In 2019, I published my book, “Die Kindheit ist politisch!“ (Childhood is Political!”) (Fuchs 2019; the book was reviewed in English by Peter Petschauer (2020) ). In it, I showed that the countries and regions (e.g. Iraq, Syria, Afghanistan, Egypt, Palestine, Cambodia, El Salvador, but also the USA) that strike us as “problem children” in terms of world politics (or that represent this in a shorter historical retrospect) and that represent severe political conflicts, social imbalances, war, terror and/or recruitment regions for terrorists, at the same time show an enormously high level of violence against children in various forms and, in addition, often other stress factors for children. I have conducted extensive studies and case analyses/biographies on extremists/terrorists (e.g. Andreas Baader, Zacarias Moussaoui, Osama Bin Laden), (violent) criminals, dictators (e.g. Adolf Hitler, Benito Mussolini, Francisco Franco, Nicolae Ceauşescu, Slobodan Milosevic, Josip Broz Tito, Mao Zedong, Augusto Pinochet, Manuel Noriega, Fidel Castro), belligerent politicians (e.g. Lyndon B. Johnson, Ronald Reagan, George W. Bush, Bill Clinton, Recep Tayyip Erdoğan, Wladimir Putin) NS perpetrators (including Rudolf Hess, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Rudolf Höß, Adolf Eichmann) and soldiers. The conclusions from all my research come to a head in the title of the book. What all of the named personalities have in common is that their childhoods were often anything but free of violence, loving and happy. In the overall picture, it becomes clear that the above-mentioned case studies are not isolated cases or outliers. 

After the book was published, I also compiled all the studies/individual papers I could find in which right-wing perpetrators of violence / right-wing extremists had been interviewed about their childhoods. To date, I have found a total of 37 papers for which a minimum of one and a maximum of 115 right-wing personalities were interviewed. It turns out that right-wing perpetrators of violence or right-wing extremists usually had a very destructive childhood. I refer here to my abstract, which can be viewed online (Fuchs 2021). In my opinion, the empirical data is almost overwhelming and it is surprising that child protection as an essential branch of prevention of extremism has not been / is not widely discussed. 

One of these works is presented here as an example. 91 (70 male, 21 female) former US extremists / racists (from Ku Klux Klan, Christian Identity, neo-Nazi, racist skinheads groups) were interviewed. Results regarding ACE values (experiences before the age of 18): 48 % experienced physical abuse in the home, 46 % experienced emotional neglect in the home, 46 % experienced emotional abuse in the home, 23 % experienced sexual abuse in the home, 15 % experienced physical neglect in the home; 68 % experienced parent abandonment, 66 % reported parental substance abuse, 47 % witnessed domestic violence, 47 % reported parent/caregiver mental illness, and 32 % reported parent incarceration (Windisch et al. 2020). 

I advocate that we look at the possible political consequences of childhood without blinkers and that the prevention of child abuse or ACEs is also communicated as the prevention of violence, terrorism and extremism.  If this view succeeds across society as a whole, then this would subsequently necessitate one thing above all: more worldwide child protection.  

I would like to add my favorite quote (from the former director of the Clinic for Child and Adolescent Psychiatry at the University Medical Center Hamburg-Eppendorf and expert in psychotraumatology Prof. Peter Riedesser): “The more children here and around the world are neglected, beaten, humiliated and slide into hopelessness and hatred, the higher the destructive potential in our own country and worldwide. Against this background, child protection has become a question of survival. Worldwide child protection is the ideal way to prevent not only mental suffering, but also crime, militarism and terrorism. It ensures democracy and peaceful cultural and economic exchange. It takes all of our creativity and determination to make this happen. If we all wanted this in a unique act of solidarity, we would also have the knowledge and the means” (Riedesser 2002, p. 32). 


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