Freitag, 3. Februar 2023

Kindheit von Michail Gorbatschow

Michail Gorbatschow wurde am 02.03.1931 in einem Dorf im Nordkaukasus geboren. Er hatte keine einfache Kindheit. Seine erste Kindheitserinnerung war die an eine Suppe, in der Frösche gekocht wurden, weil eine Hungersnot herrschte (Taubman 2018, S. 38).

Während der Hungersnot 1932/1933 kamen zwei seiner Onkel und eine Tante ums Leben. Die Eltern waren zudem arm, die Kinder mussten früh mithelfen und arbeiten. Auch traf Stalins Terror die Familie, beide Großväter wurden zeitweise verhaftet. Als die deutsche Wehrmacht einmarschierte, besetzte diese einige Monate das Heimatdorf der Familie. „Eine schrecklichere Zeit ist kaum vorstellbar“, kommentiert sein Biograf (Taubman 2018, S. 33).
Er hängt dem aber sogleich an, dass Michail Gorbatschow „in einem erstaunlichen Ausmaß“ trotz des Schreckens um ihn herum „eine glückliche Kindheit“ hatte (Taubman 2018, S. 33). Beide Großväter hatten den Gulag überlebt, der Vater den Krieg. Ein Großvater leitete eine Kollektivfarm. Glückliche Umständen ließen größere Belastungen der (kurzen) deutschen Besatzung an der Familie vorüberziehen. Michail habe außerdem ein von Natur aus sonniges und optimistisches Gemüt besessen, schreibt Taubman.
Psychologen haben festgestellt, dass die potentiellen Opfer persönlicher Schicksalsschläge und sich anbahnender Tragödien, wenn diese durch Glück oder eigene Anstrengung ein positives Ende nehmen, von den Ereignissen profitieren und mit erhöhtem Selbstvertrauen, gesteigertem Optimismus und geringerer Anfälligkeit für Depressionen aus ihnen hervorgehen. Außerdem blieb Michail  Gorbatschow nicht nur von den schlimmsten Dingen verschont, sondern wuchs in vieler Hinsicht auch unter Idealbedingungen auf. Sein Vater, Sergej Gorbatschow, war offensichtlich ein wundervoller Mann, geliebt und bewundert von seinem Sohn, der ihm `sehr nahe` stand. (…) Gorbatschows Großvater mütterlicherseits behandelte seinen Enkel mit `Zärtlichkeit`, und Zärtlichkeit ist kein Gefühl, zu dem sich russische Männer gern bekennen“ (Taubman 2018, S. 33f.).

Der Großvater väterlicherseits galt hingegen als autoritär. Dennoch hatte auch dieser „eine Schwäche für den kleinen Michail, und dasselbe galt für beide Großmütter“ (Taubman 2018, S. 35). Dieser Großvater, „(…) der alte Mann, den so viele fürchteten, wurde weich, wenn er es mit seinem Enkel zu tun hatte“ (Taubman 2018, S. 37). Die Großmutter väterlicherseits beschreibt Gorbatschow in seinen Erinnerungen so: Sie war „herzensgut und fürsorglich: Sie hatte mit allen Mitleid, besonders mit den kleinen Kindern. (…). Großmutter Stepanida und ich waren Freunde. Ich hatte Glück“ (Gorbatschow 2013, S. 42f.). 

Michails Mutter „konnte kalt und strafend sein: Sie hatte Sergej eigentlich nicht heiraten wollen und disziplinierte ihren Sohn durch Schläge mit dem Gürtel, bis er dreizehn war“ (Taubman 2018, S. 35). Michail Gorbatschow war demnach, wie die meisten seiner Generation, ein misshandeltes Kind! Dies wird ganz sicher deutliche Spuren in ihm hinterlassen haben.
Trotz des guten Verhältnisses zu seinem Vater wird es für das Kind sicher auch eine Art Schutz vor dieser strengen Mutter gewesen sein, dass er ab dem dritten Lebensjahr mehrere Jahre nicht bei seinen Eltern, sondern bei seinen Großeltern mütterlicherseits lebte. 

Allerdings schreibt Michail Gorbatschow in seinen Erinnerungen auch: „(…) immer war Mutter in der Nähe, immer unterstützte sie uns. Ich liebte sie. Und auch Vater liebte sie bis zu seinem Tod. Sie war eine wunderschöne Frau, sehr stark und zupackend. Vater war stolz auf sie, verzieh ihr ihre hektische Art und half bei allem“ (Gorbatschow 2013, S. 50). Wenn wir ihm glauben wollen, dann hatte seine Mutter also auch durchaus positive Seiten. Das entschuldigt nicht ihre Gewalttätigkeit gegen das Kind, macht das Bild aber rund und detailreicher. Denn positive Ausgleichserfahrungen (auch mit Täter-Elternteilen), können ein Schutzfaktor sein (dagegen stehen z.B. Akteure wie Stalin, der keinerlei positive Ausgleichserfahrungen in seiner Familie machen konnte).

Über die Großeltern mütterlicherseits sagte Gorbatschow: Bei ihnen „genoss ich völlige Freiheit (…) denn sie liebten mich abgöttisch. Bei ihnen hatte ich das Gefühl, das ich es sei, der die Hosen anhatte. Wie oft man daher auch versuchte, mich bei den Eltern wohnen zu lassen, und sei es nur für kurze Zeit, es gelang kein einziges Mal. Am Ende waren alle mit diesem Zustand sehr zufrieden“ (Taubman 2018, S. 40). Die Großeltern waren relativ wohlhabend (was den Jungen offensichtlich auch gut durch die Hungernot brachte) und noch jung: die Großmutter war damals erst achtunddreißig Jahre alt. Sie prägten ganz wesentlich die frühen Jahre von Michail. 

Als Michail zehn Jahre alt war, begann der Krieg. Sein Vater wurde eingezogen und die Kinder mussten fortan die Männer ersetzen, arbeiten und ihre Kindheit überspringen, wie es Michail Gorbatschow später formulierte (Taubman 2018, S. 47). 

Er selbst bezeichnet sich als Kriegskind:  „Meine Generation ist die Generation der Kriegskinder. Wir sind gebrannte Kinder, der Krieg hat auch unseren Charakter und unserer ganzen Weltanschauung den Stempel aufgedrückt. Was wir in unserer Kindheit durchgemacht haben, ist wohl die Erklärung dafür, warum gerade wir Kriegskinder die Lebensweise von Grund auf ändern wollen“ (Gorbatschow 2013, S. 46). 

Der Vater kam wie bereits beschrieben lebend zurück. Eine Besonderheit sticht ins Auge. Der Vater hat nicht – wie so viele seiner Generation – über seine schrecklichen Kriegserlebnisse geschwiegen und diese in sich vergraben. Er erzählte häufig davon, auch und gerade gegenüber seinem Sohn Michail (Taubman 2018, S. 53). Das Grauen fand also Ausdruck in dieser Familie und sein Sohn hatte – dies ist meine Deutung – die Möglichkeit, seinen Vater dadurch besser nachzuvollziehen (denn die Kriegserlebnisse werden ganz sicher psychische Spuren hinterlassen haben). 

Ab 1946 arbeitete Michail fünf Sommer hintereinander schwer und lange Tage mit seinem Vater auf dem Feld zusammen. Sie hatten dabei Gelegenheit für zahlreiche Gespräche. „Wir redeten über Gott und die Welt, über unsere Angelegenheiten, über das Leben. Das war keine Vater-Sohn-Beziehung im alten Sinne mehr, sondern ein Verhältnis zwischen Männern, die gemeinsam arbeiteten, und der Vater verhielt sich mit gegenüber respektvoll. Wir wurden jetzt noch etwas anderes, nämlich Freunde“ (Taubman 2018, S. 62).

Ich habe nach dem Kriegsbeginn Russlands gegen die Ukraine damit begonnen, etliche Kindheiten von politischen Führern bzw. Zaren in Russland zu beschreiben (siehe das Inhaltsverzeichnis). Die Kindheiten von historischen russischen Führungspersonen waren alle samt schwer belastet. Dies gilt auch für Michail Gorbatschow. Den wesentlichen Unterschied hat sein Biograf William Taubman deutlich hervorgehoben: Michail Gorbatschow hat während seiner Kindheit und Jugend gleichzeitig auch eine Fülle von positiven Erfahrungen mit nahen Bezugspersonen gemacht. Das ist genau das, was Resilienz bedingt, wie wir heute wissen. Das Center on the Developing Child der Harvard Universität schreibt dazu: "The single most common factor for children who develop resilience is at least one stable and committed relationship with a supportive parent, caregiver, or other adult.
Das ist auch ein Unterschied im Vergleich zu Putin, in dessen Kindheit ich keinerlei Lichtblicke ausmachen konnte. 

Michail Gorbatschow war ohne Frage ein ganz außergewöhnlicher Mensch und Politiker. Er sticht unter allen bisherigen politischen Führern seines Landes hervor. Seine außergewöhnliche Kindheit wird ihren Anteil daran haben. Kindheit ist politisch!


Quellen:

Gorbatschow, M. (2013). Alles zu seiner Zeit. Mein Leben. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg. 

Taubman, W. (2018). Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit. C. H. Beck, München. 


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