Mittwoch, 24. Januar 2024

Kindheit von Pol Pot

Die Familie lebte im Vergleich zu den Leuten in ihrer Umgebung im Wohlstand (Short 2004, S.28).

Pol Pot (eigentlicher Name ist „Saloth Sâr“, ich bleibe im Textverlauf aber bei Pol Pot) hatte insgesamt fünf Geschwister, wovon drei deutlich älter waren. Drei weitere Geschwister waren gestorben, wobei in der verwendeten Quelle nicht der genaue Zeitpunkt ihres Todes genannt wird (Short 2004, S. 28). Insofern ist auch nicht klar, ob Pol Pot ihren Tod miterlebt hat oder nicht (was ein sehr schwerer Belastungsfaktor für ein Kind wäre). Bei insgesamt drei toten Kindern halte ich es zumindest für wahrscheinlich, dass er den Tod von mindestens einem Geschwisterkind miterlebt haben könnte.

Über die Säuglingszeit von Pol Pot fand ich keine Informationen. Allerdings sei an dieser Stelle auf den im ländlichen Raum der Region traditionell verbreiteten Glauben an „Geister-Mütter“ aus dem vorherigen Leben erinnert.
In Kambodscha gab und gibt es vor allem im ländlichen Raum traditionelle Vorstellungen bezogen auf das neugeborene Kind, die von wesentlicher Bedeutung sind. Ein zentraler Glaube ist, dass das Neugeborene durch seine Mutter aus dem früheren Leben (Glaube an Wiedergeburt) stark beeinflusst werden kann. Sobald das Neugeborene seinen ersten Atemzug tut, muss die Verbindung zur früheren Mutter abgetrennt werden, wofür es einige Rituale gibt. Trotzdem bleibt die Angst groß, dass die frühere Mutter eifersüchtig oder wütend werden könnte, wie die neue Mutter mit dem Kind umgeht und es aufzieht. Passiert dem Kind irgendetwas, könnte dies durch die frühere Mutter beeinflusst sein und wirft ein schlechtes Licht auf die neue Mutter. Aus diesem Grund sind viele Mütter bemüht, nicht allzu herzlich und liebevoll, aber auch nicht all zu aggressiv mit dem Kind umzugehen. „(…) many mothers, for example, are encouraged not to be seen to be either too affectionate or too aggressive towards the child in case it creates jealousy or anger in the previous birth mother. If a child smiles before 3 months old it can be interpreted as a signal that it can see its preceding mother. Where she is jealous or angry she might again try to 'take the child back'.” (Miles & Varin 2006, S. 15).
Ein Baby, das lächelt, wird demnach also nicht auf Freude stoßen, sondern auf Angst. Dass dieser Glaube den gesamten Umgang mit Säuglingen und Kindern negativ beeinflusst, liegt nahe. Die Folgen dieses Glaubens für die Entwicklung eines Kindes sollten nicht unterschätzt werden. Was bedeutet es für ein Kind, wenn es auf die Welt kommt und die eigene Mutter voller Ängste ist, weil da noch die andere Mutter aus dem „vorherigen“ Leben im Hintergrund steht? Symbolisch steht etwas Grundlegendes zwischen Mutter und Kind: eine andere Mutter. Wie kann so eine emotional gesunde Entwicklung glücken?

Der Biograf Philip Short schreibt mit Blick auf die Kindheit von Pol Pot: „Cambodians, at that time even more than today, lived parallel sets of lives: one in the natural world, among the laws of reason; the other, mired in superstition, peopled by monsters and ghosts, a prey to witches and the fear of sorcery. In this sense Cambodia was, and to some extent is still, a medieval country, where even the King takes no important decision without first consulting the court astrologer.” (Short 2004, S. 28).
Ich halte es entsprechend für hoch wahrscheinlich, dass auch Pol Pot als Säugling so behandelt wurde, wie zuvor oben beschrieben (auffällig ist in diesem Kontext auch, dass der Vater von Pol Pot als sehr „neutral“ in seinem Verhalten beschrieben wird und nicht mit seinen Kindern lachte – siehe unten).  

Das jüngste Kind der Familie, Neph, erinnert sich an die Eltern, beginnend mit dem Vater, wie folgt: „He never joked with us, or with anyone else. If he was angry, he didn’t show his feelings or become violent. He always remained calm. Our mother was the same, and I think that’s why they got on so well” (Short 2004, S. 31) Der Vater “was a disciplinarian, like most Cambodian fathers, but by the standards of the time the chastisement he meted out was mild.” (Short 2004, S. 31). 

Wir bekommen hier ein Bild gezeichnet, das grundsätzlich mit Vorsicht zu beurteilen ist. Denn das Bild kommt von einem Kind (Neph) der Familie, negative Episoden mit den Eltern können ausgeblendet und/oder ein idealisierendes Bild der Eltern gezeichnet worden sein. Wir wissen heute, dass Menschen grundsätzlich dazu neigen, Eltern im Rückblick eher milde zu beurteilen. Das ist das Eine. 

Dennoch bekommen wir in diesen Zeilen einige aufschlussreiche Informationen. Die Eltern hätten sich relativ neutral gegenüber den Kindern verhalten. Außerdem wird trotz der Zeichnung des Vaters als nicht gewalttätig dennoch darauf verwiesen, dass er auch der Strafende war, wie bei den meisten Vätern der Region, wenn auch in milderen Formen. Wir können nicht ausschließen, dass dies auch Gewalt beinhaltete. 

Bis zum heutigen Tag sind Körperstrafen in der Familie in Kambodscha erlaubt (Global Partnership to End Violence Against Children 2023). Das Ausmaß von (schwerer) Gewalt gegen Kinder in den Familien ist extrem hoch: „One in two of Cambodia’s children have experienced severe physical discipline, and one in four has experienced emotional abuse” (Global Partnership to End Violence Against Children 2020). (Siehe ergänzende zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in dem Land auch einen älteren Blogbeitrag von mir!)

Pol Pot wurde je nach Quelle 1925 oder 1928 geboren, damals werden Körperstrafen noch weitaus mehr als legitime Erziehungs-Norm verinnerlich und zur Routine gehört haben, als heute. Körperstrafen werden dann dem Zeitgeist nach oftmals nicht als Gewalt definiert, auch nicht von den Menschen, die dies („notwendige“ Erziehung) seitens der Eltern erlebt haben.

Interessant ist auch, dass der Biograf Short in diesem Kontext den Schul-/Studienfreund von Pol Pot, Keng Vannsak, bzgl. dessen Schulzeit im Dorf zitiert. Ungehorsam wurde damals durch den Dorflehrer hart bestraft: “How he beat me! Kicks and punches . . . he was brutal! Then he took me outside, and put me under a grapefruit tree – full of red ants!” (Short 2004, S. 32).
Und er fügt an: “Yet punishments like this were so much the norm for Cambodian youngsters that Vannsak remembered that same teacher as ‘an adorable, saintly man’ who first instilled in him a love of learning” (Short 2004, S. 32). Hier sehen wir überdeutlich die starke Identifikation mit dem Aggressor. Ob Pol Pot auch vom Dorflehrer geschlagen wurde, scheint nicht belegt zu sein (sollte aber von der Wahrscheinlichkeit her mitgedacht werden). 

Diese Textstelle ist eine deutliche Mahnung auch bzgl. der oben zitierten positiven Aussagen von Neph über seine Eltern. Zudem erhalten wir hier Informationen über Strafformen gegen Kinder im ländlichen Kambodscha der damaligen Zeit. Viele Kinder werden ähnliches erlebt haben. 

Keng Vannsak hat außerdem auch Zuhause seitens des Vaters schwere Gewalt erlebt: Der Vater, “who used to tie his arms together, throw him on to a bed and beat him with a cane until he fainted” (Short 2004, S. 32). Pol Pot und seine Geschwister hätten da mehr Glück gehabt, hängt Short dem an.

Auch Chandler (1992, S. 8) betont, dass es keine Belege dafür gebe, dass Pol Pot derartige Konflikte mit seinem Vater hatte, wie es z.B. bzgl. Stalin oder Mao überliefert ist. Er erwähnt in diesem Kontext aber auch, dass Pol Pot in Unterhaltungen mit anderen Menschen nie seine Eltern erwähnte und sich ausschwieg. 

Sofern das Bild, das Neph gezeichnet hat, einigermaßen stimmen sollte, kamen allerdings spätestens im Alter von sechs oder neun Jahren schwere Belastungen auf Pol Pot zu (Short (2004) geht von dem Geburtsjahr 1925 aus, Chandler (1992, S. 7) nennt ebenfalls auch das Jahr 1925, hält aber das Geburtsjahr 1928 für plausibler, was bedeuten würde, dass Pol Pot bereits im Alter von sechs Jahren seine Familie verlassen musste, was Short auch genauso ausführt: Pol Pot habe seine Familie im Alter von sechs Jahren verlassen müssen Chandler (1992), S. 8).
Der Junge sollte dem Willen der Eltern nach in Phnom Penh zur Schule gehen und zukünftig bei Verwandten leben. Dies war kein ungewöhnlicher Schritt, es gehörte zur Tradition des Landes, dass (oft wohlhabendere) Verwandte Kinder aufnahmen und diese informell adoptierten (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 11). Für die Kinder bedeutete diese eine Trennung von ihren Eltern. 

Bevor es soweit war, wurde Pol Pot aber noch für ein Jahr auf ein strenges, buddhistisches Kloster (Wat Botum Vaddei) geschickt, in dem jedes Jahr ca. einhundert Kinder neu aufgenommen wurden.
Monastic discipline was strict. As a novice, Sâr was part of a rigidly ordered community in which (…) originality and initiative were discouraged, the least deviation was punished and the greatest merit lay in unquestioning obedience to prevailing orthodoxy” (Short 2004, S. 35).

Ein Mitklosterschüler von Pol Pot berichtet über die strenge Disziplin vor Ort u.a.:
And you were given a thrashing if you didn’t do as they said. If you didn’t walk correctly, you were beaten. You had to walk quietly and slowly, without making any sound with your feet, and you weren’t allowed to swing your arms. You had to move serenely. You had to learn by heart in pali the rules of conduct and the [Buddhist] precepts so that you could recite them without hesitation; if you hesitated, you were beaten” (Short 2004, S. 35). Dieser Unterwerfung und Gewalt wird auch Pol Pot nicht entronnen sein.
Chandler (1992, S. 9) merkt bzgl. der Zeit im Kloster an: „At six or seven and recently separated from his parents, Sar must have been traumatized by the solemn discipline of the monastery, even though there would have been other little boys with shaven heads wearing yellow  robes with him. (…) Sar was also forced to be obedient.”
Jetzt wird es interessant. Denn Chandler, der wie gezeigt deutliche Worte bzgl. einer Traumatisierung im Kindesalter findet, merkt nur wenige Sätze danach an: „In examining his early years, I found no traumatic events and heard no anecdotes that foreshadow his years in power“ (Chandler 1992, S. 9). Er sei außerdem ein liebenswertes Kind gewesen.
Dass sich Biografen und Historiker bzgl. der Kindheit ihrer Untersuchungssubjekte selbst widersprechen, erlebe ich nicht zum ersten Mal. Hier spielt meiner Meinung nach u.a. fehlendes Fachwissen über Traumatisierungen und Traumafolgen, aber auch fehlendes gesellschaftliches Bewusstsein bzgl. der vielen verdeckten und offenen Belastungen, denen Kinder ausgesetzt sind, mit rein.  

Nach dem Jahr im Kloster wurde Pol Pot im Haus seines älteren Bruders in Phnom Penh aufgenommen und ging vor Ort zur Schule. Mit seinen Eltern im Dorf scheint er nie wieder zusammengelebt zu haben. 

In einem kriminologischen Artikel befassen sich die Autoren de Vries & Weerdesteijn (2018) mit Pol Pots Sozialisation und Kindheit vor dem Hintergrund seiner Verbrechen. Das dauerhafte Weggeschickt werden im Kindesalter wird die Bindung zu seinen Eltern deutlich belastetet haben, schreiben sie. Zusätzlich zitieren sie aus der kriminologischen Forschung, dass eine schwache Bindung an Eltern mit abweichendem Verhalten in einem Zusammenhang steht (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 15). Eine logische und zulässige Verbindungslinie, wie ich finde. 

Pol Pot besuchte später regelmäßig seine Schwester, die im Palast des Königs lebte (Infos über weitere Beziehungen der Familie zum Königshaus siehe auch Chandler (1992), S. 8). Bei diesen Besuchen kam es, den Erinnerungen von zwei Palastfrauen zufolge, auch zu sexuellem Missbrauch durch die Frauen des Harems. „At fifteen, Sâr was still regarded as a child, young enough to be allowed into the women’s quarters. (…) The young women would gather round, teasing him, they remembered. Then they would loosen his waistband and fondle his genitals, masturbating him to a climax. He was never allowed to have intercourse with them. But in the frustrated, hothouse world of the royal pleasure house, it apparently afforded the women a vicarious satisfaction.” (Short 2004, S. 42).

Später wechselte Pol Pot auf eine Technikerschule. Während dieser Zeit waren seine Mitschüler feindlich gegenüber ihm eingestellt und er fühlte sich sehr einsam (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 16).

Die Ironie der Geschichte wollte es, dass Pol Pot während eines Auslandsstudium in Paris mit den kommunistischen Ideen in Berührung kam, die seinen weiteren Weg prägen sollten (Vries & Weerdesteijn 2018, S. 16).

Fazit

Auch wenn es vielen anderen Kindern aus der Zeit und Region – den Biografen nach - noch schlimmer ergangen zu sein scheint, so bleibt es eine Tatsache, dass auch Pol Pot nicht verschont wurde: seine Kindheit war deutlich und mehrfach belastet. Seine Kindheit fügt sich ein in die lange Reihe von belasteten Kindheiten von Diktatoren und Massenmördern. 

Die Recherchen bzw. dieser Text hier zeigen allerdings auch überdeutlich gerade auf die Kindheiten der Vielen. Diktatoren wie Pol Pot sind nur in einer Gesellschaft möglich – so meine These – in der ein bedeutsamer Teil der Menschen als Kind traumatisiert wurde (Stichworte aus dem Text: Glaube an „Geister-Mütter“ und entsprechender Umgang mit Säuglingen, verbreitete Weggabe von Kindern, Gewalt gegen Kinder in der Familie, Schule und in Klöstern). Dies bildet das Fundament für den kollektiven Wahn und Terror, der sich Bahn brechen kann (nicht muss). 


Quellen:

Chandler, D. P. (1992). Brother Number One: A Political Biography Of Pol Pot. Westview Press, Boulder – San Francisco – Oxford.

Global Partnership to End Violence Against Children (2020). IN CAMBODIA, FORMAL SOCIAL WORKERS NOW REACH ALL 25 PROVINCES. https://www.end-violence.org/articles/cambodia-formal-social-workers-now-reach-all-25-provinces

Global Partnership to End Violence Against Children (2023). Corporal punishment of children in Cambodia. https://www.endcorporalpunishment.org/wp-content/uploads/country-reports/Cambodia.pdf

Miles, G. & Varin, S. (2006). Stop violence against us! Summary report 2: a preliminary national research study into the prevalence and perceptions of Cambodian to violence against and by children in Cambodia. World Vision International Resources on Child Rights. https://archive.crin.org/en/docs/stop_v_cam.pdf

Short, P. (2004). Pol Pot: The History of a Nightmare. Hodder & Stoughton, London (Kindle-E-Book Version)

Vries & Weerdesteijn (2018). The Life Course of Pol Pot: How his Early Life Influenced the Crimes he Committed. Amsterdam Law Forum 10(2), S. 3-19. 


Mittwoch, 10. Januar 2024

Kindheit von Javier Milei

Über die Kindheit des Rechtspopulisten Javier Milei (in den Medien gerne auch als "Kettensägen-Präsident" bezeichnet) lässt sich relativ schnell einiges finden. Er selbst hat sehr deutlich über seine destruktiven Erfahrungen in seiner Familie berichtet. 

Er litt unter physischer und psychischer Gewalt zu Hause und Mobbing in der Schule, sagte er mehr als einmal. Misshandlungen, die ihn dazu brachten, die Verbindung zu seinen "Erzeugern", wie er sie nannte, jahrelang abzubrechen. Die Verbindung zu seinen Eltern stellte er erst wieder während der COVID-19 Pandemie her. (SAN JUAN 8 (2023, 14. Aug.). La vida de Javier Milei: traumas infantiles, raptos místicos y la obsesión por el dólar.)

O-Ton Javier Milei (von mir, der ich nur ein wenig Spanisch kann, mit Hilfe von Google übersetzt): "Mein alter Herr hat immer auf mich geschissen. Ich werde nie vergessen, wie er mich am 2. April 1982 verprügelte, als ich 11 Jahre alt war. Wir sahen alles über die Malvinas im Fernsehen und es kam mir in den Sinn, zu sagen, dass das wahnhaft war (…). Mein alter Herr bekam einen Wutanfall und fing an, mich zu schlagen und zu treten. Er trat mich durch die ganze Küche. Als ich älter wurde, hörte er auf, mich zu schlagen, um mir psychische Gewalt zuzufügen. (…) Können Sie sich den Unterschied zwischen einem 11-jährigen Jungen und einem Riesen von 1,90 und mehr als hundert Kilo vorstellen? Was ich Ihnen sagen kann, ist, dass ich von diesem Moment an vor nichts anderem mehr Angst hatte.“

Original in Spanisch: „Mi viejo me cagaba a trompadas. No me olvido más de una golpiza que me dio el 2 de abril de 1982, cuando tenía 11 años. Estábamos viendo en la tele todo lo de Malvinas y a mí se me ocurrió decir que eso era un delirio, que nos iban a romper el culo. A mi viejo le agarró un ataque de furia y empezó a pegarme trompadas y patadas. Me fue pateando a lo largo de toda la cocina. De grande dejó de pegarme para infligir violencia psicológica. (…) Vos te imaginás la diferencia entre un nene de 11 años y un gigante de 1,90 y más de cien kilos? Lo que te puedo decir es que desde ese momento no le tuve miedo a nada más” (Gallardo, A. (2018, 07. Juli). La insólita vida privada y familiar de Milei, el economista más polémico.)

In der Öffentlichkeit sagte er dem zuvor zitierten Artikel nach auch, dass für ihn seine Eltern gestorben seien. 

In einem anderen Artikel wird er bezogen auf seinen Vater auch wie folgt zitiert:
Er sagte mir immer, dass ich Müll sei, dass ich verhungern würde, dass ich nutzlos sein würde“ (original: „Siempre me dijo que era una basura, que me iba a morir de hambre, que iba a ser un inútil“) (Oliva A. (2023, 19. Nov.). Javier Milei, el hombre “sin miedo a nada” que convenció a los argentinos de dinamitar el sistema y buscar un cambio radical. )

Auch dieses Zitat spricht für sich:
An unauthorised biography of Milei (…) paints him as a mercurial loner who suffered a childhood of parental abuse and schoolyard bullying during the 1980s and was given the nickname El Loco (The Madman).” (Phillips, T. (2023, 20. Nov.). Who is Javier Milei? Argentina’s new far-right president ‘El Loco’ takes the stage)

Nun, die Zeit seiner Präsidentschaft wird zeigen, in wie fern er seine aggressiven, destruktiven Neigungen, die er zuvor immer wieder öffentlich zur Schau getragen hat, politisch umsetzen wird. Er gilt als strikt libertärer Politiker, was u.a. meint, dass er dem Staat sehr wenig Einflussnahme zugesteht. Oder anders ausgedrückt: "Vater"-Staat soll nicht die Gestaltungsspielräume seiner Bürger ("Kinder") beschränken und sich weitgehend raushalten...


Freitag, 5. Januar 2024

"Ganz viele geprügelte Kinder sind nicht Nazis geworden, sondern Helfer" - Kriminologe Dirk Baier über mein Buch und meine Anmerkungen dazu

Dirk Baier ist einer der bekanntesten Kriminologen im deutschsprachigen Raum. Zudem ist er Extremismusexperte. Ich selbst schätze seine Arbeiten sehr und habe ihn immer wieder auch zitiert. 

Mitte 2023 hat er ein Interview (Tentakel Magazin, 01.07.2023, "Niemand ist vor Extremismus gefeit") gegeben. Darin ging er u.a. auch auf mein Buch ein. 

Camilla Landbø:Sind schmerzhafte Erfahrungen in der Kindheit Wegbereiter dafür, dass jemand später extrem wird? Der Psychologe Arno Gruen hat das anhand von Nazi-Biografien nachgewiesen.“

Dirk Baier:Im Buch «Die Kindheit ist politisch» folgt der Autor Sven Fuchs ebenfalls dieser These: dass die Grundlage für extremes Verhalten und Extremismus in der Kindheit gelegt wird. Er weist dies an vielen Biografien nach. Das Buch enthält auch eine Kurzbiografie von Putin, der als Kind massiv geschlagen worden ist von seinen Eltern. Nun, da ist schon was dran, dass eine harsche, gewaltförmige Erziehungsmethode die Persönlichkeit beeinflussen kann. Ich bin jedoch immer sehr vorsichtig mit solchen Thesen. Ganz viele geprügelte Kinder sind nicht Nazis geworden, sondern Helfer.“

Dieses Interview wollte ich schon lange kommentieren und habe bisher etwas gezögert, um die richtigen Worte zu finden. 

Nun, zunächst freut es mich sehr, dass er meine Arbeit wahrgenommen hat und diese im Grunde ja auch zu einem Teil recht positiv bewertet (ähnlich hatte ich mich früher schon darüber gefreut, dass der sehr bekannte Kriminologe Christian Pfeiffer meine Arbeit „als wichtiges Buch“ bezeichnet hat). 

Hier soll es jetzt um seine kritischen Anmerkungen gehen: „Ich bin jedoch immer sehr vorsichtig mit solchen Thesen. Ganz viele geprügelte Kinder sind nicht Nazis geworden, sondern Helfer.“

In diesen Zeilen steckt dieses klassische „Die meisten als Kind misshandelten Menschen werden keine Täter“, die häufigste Kritik die mir und ähnlich argumentierenden Menschen entgegnet wird. Oftmals wird diese Art der Kritik dann genutzt, um den Zusammenhang zwischen destruktiver Kindheit und destruktivem Verhalten des später Erwachsenen gänzlich zu leugnen, was sich i.d.R. vor allem nochmals intensiviert, wenn es um politische Führer und Extremisten geht.
Dirk Baier bleibt da allerdings dann glücklicher- und richtiger Weise doch ganz der Forschende und Experte. Auf die Nachfrage „Aber die Kindheit ist doch wichtig?“ antwortet er:
Ich gehöre zu den Forschenden, die sagen: Den Einfluss der Familie kann man gar nicht überschätzen. Familie prägt uns, in ganz vielen Sachen, die wir tun. Insbesondere negative Erziehungserfahrungen prägen uns. In der Forschung wissen wir mittlerweile, dass Kinder, die Gewalt erfahren haben, häufiger die Schule schwänzen, schlechtere Schulleistungen erbringen, geringere Lebenszufriedenheit, mehr Depressionen, Suizidgedanken haben sowie häufiger Gewalt anwenden. Und selbstverständlich taucht in dieser breiten Liste auch der Extremismus mit auf. Dennoch: Trotz dieser widrigen Bedingungen entwickeln sich viele dieser Menschen ganz positiv.“

Warum nur die „Vorsicht“ bzgl. Extremisten und politischen Führern bzgl. dieser Zusammenhänge? 

Ich möchte an dieser Stelle Dirk Baier selbst als Forschungsobjekt nutzen (diese Herangehensweise bedingte meine lange Bedenkzeit ob und wie ich einen solchen Text hier schreiben soll). Ich hoffe sehr, dass er, so er denn auf diesen Text hier stoßen sollte, Verständnis dafür hat. 

Trotz dieser widrigen Bedingungen entwickeln sich viele dieser Menschen ganz positiv“ fügte er wie oben zitiert an. Ich gehe stark davon aus, dass er dies auch auf sich selbst bezogen meint und damit hätte er ganz offensichtlich auch recht. 

Im Interviewverlauf sagte Baier ganz offen: „Ich wurde auch geprügelt von meinem Vater. Dann ist das Beste passiert, was mir passieren konnte: Meine Eltern trennten sich. Danach hatte ich immer gute Fußballtrainer, die mir Orientierung gaben. Gute, besorgte, interessierte Menschen um sich zu haben, das hilft.“

Auch an dieser Stelle bleibt Baier ganz der Experte und verknüpft seine persönliche Geschichte mit seinem Fachwissen. Es ist längst erforscht, dass stützende erwachsene Bezugspersonen DER zentrale Faktor sind, die ein misshandeltes Kind in eine positive Richtung steuern können und die ein Abdriften in (Selbst-)Hass und Gewalt weniger wahrscheinlich machen (hilfreich ist natürlich auch eine Trennung vom Täter bzw. ein Unterbinden der Gewalt, was offensichtlich durch die Trennung von Baiers Eltern so geschah).

Das Team des Center on the Developing Child der Harvard Universität hat innerhalb des Grundlagentextes “A Guide to Toxic Stress” über Resilienz geschrieben:
The single most common factor for children who develop resilience is at least one stable and committed relationship with a supportive parent, caregiver, or other adult." (Center on the Developing Child 2018, Step 3: Preventing and Addressing Toxic Stress, Resilience).
Alice Miller hat bzgl. der Weitergabe von erlittener Gewalt (Entwicklung vom Opfer zum Täter) formuliert, dass dies hauptsächlich geschieht, wenn dem gedemütigten, missbrauchten Kind niemand zur Seite stand, dem es sein Leid anvertrauen konnte bzw. der widerspiegelte, dass diese erfahrene Normalität nicht richtig ist. Bei Massenmördern, so Miller, fehlte grundsätzlich ein Helfender Zeuge. Ein Helfender Zeuge ist nach Miller ein Mensch (z.B. Bruder oder Schwester, ein Elternteil, Großmutter usw.), der einem misshandelten Kind beisteht, der ihm eine Stütze bietet, ein Gegengewicht zur Grausamkeit, die sein Alltag bestimmt. Dank dieses Zeugen erfährt ein Kind, dass es in dieser Welt so etwas wie Liebe gibt (Miller, A. 2001: „Evas Erwachen. Über die Auflösung emotionaler Blindheit“, S. 7–8).

Somit ist absolut klar, warum viele einst misshandelte Menschen in ihrem Leben einen positiven oder zumindest nicht durch Gewaltverhalten auffälligen Lebensweg hinbekommen: Sie hatten positive Ausgleichserfahrungen und Schutzfaktoren in ihrem Leben. Putin (der im Interview mit Baier erwähnt wurde) hatte solche Schutzfaktoren nicht!

Dazu kommt noch der Faktor Geschlecht bzw. Gender, denn die meisten Gewalttäter (außer in Bezug zu Kindern, hier sind Frauen bzgl. Gewalt mindestens gleichauf mit den Männern/Vätern) und erst recht Extremisten sind Männer. Dies wird Dirk Baier ebenfalls bekannt und sehr bewusst sein.

Präziser formuliert sind es also vor allem als Kind gedemütigte und deutlich belastete Jungen, denen kaum positive Ausgleichserfahrungen und Schutzfaktoren vor allem in Form zumindest einer guten Bindung an eine erwachsene, positive Bezugsperson fehlte, die besonders gefährdet sind, in Hass und Gewalt abzugleiten. Und auch von diesen wird wiederum nur ein gewisser Teil den Weg der Gewalt einschlagen.

Fakt bleibt aber auch, dass Misshandlungserfahrungen in der Kindheit vielfältige negative Folgen haben können (ehrlich gesagt habe ich noch keinen einzigen Menschen getroffen, dem eine Misshandlungsgeschichte nicht in irgendeiner Form geschadet hätte). Gewaltverhalten ist nur eine von vielen Möglichkeiten. 

Kommen wir an dieser Stelle nochmal zurück zu der Misshandlungsgeschichte von Dirk Baier. Ich bin schon sehr lange der Überzeugung, dass Menschen, die diese klassische Kritik von wegen „Nicht jedes einst misshandelte Kind wird…“ so oder so ähnlich äußern, wenn sie ziemlich deutlich mit den möglichen destruktiven (vor allem auch politischen) Folgen von Kindesmisshandlung konfrontiert werden, immer auch - ob nun bewusst oder unterbewusst - sich selbst meinen: „Seht doch, ich bin ein Beispiel dafür, dass es anders kommen kann“ oder „Ich bin doch auch kein Terrorist geworden!“. 

Empirisch ist diesen Kritikern immer ein ganzes Stück weit recht zu geben, denn wenn aus allen einst misshandelten Kindern automatisch Hasser und Gewalttäter werden würden, dann hätten wir schon morgen die Hölle auf Erden. Dies habe ich so auch in meinem Buch betont. 

Was aber gleichfalls Fakt ist und bleibt sind die destruktiven Kindheitshintergründe, die nun einmal routinemäßig bei Gewalttätern, Extremisten, Massenmördern und Diktatoren ausfindig zu machen sind.
Dass bei diesen Akteuren ihre destruktive Kindheit das Fundament für ihren destruktiven Weg legte, hat überhaupt nichts damit zu tun, dass viele andere, so auch Dirk Baier, ganze andere Wege gehen. Der eine Mensch steht hier, der andere Mensch steht dort. Diese gedankliche Verbindung muss raus aus der Debatte. Wir können und dürfen destruktive Kindheitserfahrungen von Extremisten und destruktiven Politikern besprechen und ins Scheinwerferlicht holen. Dadurch sprechen wir nicht gleichzeitig aus, dass alle einst misshandelten Kinder in irgendeiner Form gefährlich sind! 

Ich plädiere dafür, dass wir damit aufhören, „vorsichtig mit solchen Thesen“ zu sein. Wir können und müssen gerade auch, weil die Kriminologie immer und immer wieder die Zusammenhänge zwischen destruktiver Erziehung und Gewaltverhalten aufgezeigt hat, diese Schablone - gepaart mit der Biografieforschung über Extremisten und Diktatoren - übertragen und nutzen. Die Antwort muss dann lauten: Die Kindheit ist politisch. 

Ich selbst spitze dies dann zu, indem ich sage: "Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an, werden keine Massenmörder oder Diktatoren". Eine solche Aussage zielt natürlich in eine etwas andere Richtung als die Überschrift "Niemand ist vor Extremismus gefeit" des hier besprochenen Interviews.

Eine solche Zuspitzung erwarte ich nicht von einem Wissenschaftler. Als Forschender im Wissenschaftsbetrieb muss und sollte man vorsichtig formulieren. "Nun, da ist schon was dran, dass eine harsche, gewaltförmige Erziehungsmethode die Persönlichkeit beeinflussen kann.", sagte Baier wie oben zitiert mit Bezug zum Extremismus und auf politische Führer wie Putin. Eine vorsichtige Bemerkung. Warum nicht einfach einen Punkt dahinter lassen, im nächsten Interview?


Anhang:

Ich möchte bzgl. dem Satz "Ganz viele geprügelte Kinder sind nicht Nazis geworden, sondern Helfer" noch anmerken, dass in der Nazizeit die Helfer und Judenretter mehrheitlich eine auffällig positive Kindheit hatten!
Siehe dazu: 
Die Kindheit von JudenretterInnen
Oliner & Oliner: Die Kindheit von JudenretterInnen
Auch hier gilt, dass es auch einst misshandelte Kinder gab, die zu Judenrettern wurden. Die Tendenz war aber trotzdem deutlich.