Freitag, 5. Januar 2024

"Ganz viele geprügelte Kinder sind nicht Nazis geworden, sondern Helfer" - Kriminologe Dirk Baier über mein Buch und meine Anmerkungen dazu

Dirk Baier ist einer der bekanntesten Kriminologen im deutschsprachigen Raum. Zudem ist er Extremismusexperte. Ich selbst schätze seine Arbeiten sehr und habe ihn immer wieder auch zitiert. 

Mitte 2023 hat er ein Interview (Tentakel Magazin, 01.07.2023, "Niemand ist vor Extremismus gefeit") gegeben. Darin ging er u.a. auch auf mein Buch ein. 

Camilla Landbø:Sind schmerzhafte Erfahrungen in der Kindheit Wegbereiter dafür, dass jemand später extrem wird? Der Psychologe Arno Gruen hat das anhand von Nazi-Biografien nachgewiesen.“

Dirk Baier:Im Buch «Die Kindheit ist politisch» folgt der Autor Sven Fuchs ebenfalls dieser These: dass die Grundlage für extremes Verhalten und Extremismus in der Kindheit gelegt wird. Er weist dies an vielen Biografien nach. Das Buch enthält auch eine Kurzbiografie von Putin, der als Kind massiv geschlagen worden ist von seinen Eltern. Nun, da ist schon was dran, dass eine harsche, gewaltförmige Erziehungsmethode die Persönlichkeit beeinflussen kann. Ich bin jedoch immer sehr vorsichtig mit solchen Thesen. Ganz viele geprügelte Kinder sind nicht Nazis geworden, sondern Helfer.“

Dieses Interview wollte ich schon lange kommentieren und habe bisher etwas gezögert, um die richtigen Worte zu finden. 

Nun, zunächst freut es mich sehr, dass er meine Arbeit wahrgenommen hat und diese im Grunde ja auch zu einem Teil recht positiv bewertet (ähnlich hatte ich mich früher schon darüber gefreut, dass der sehr bekannte Kriminologe Christian Pfeiffer meine Arbeit „als wichtiges Buch“ bezeichnet hat). 

Hier soll es jetzt um seine kritischen Anmerkungen gehen: „Ich bin jedoch immer sehr vorsichtig mit solchen Thesen. Ganz viele geprügelte Kinder sind nicht Nazis geworden, sondern Helfer.“

In diesen Zeilen steckt dieses klassische „Die meisten als Kind misshandelten Menschen werden keine Täter“, die häufigste Kritik die mir und ähnlich argumentierenden Menschen entgegnet wird. Oftmals wird diese Art der Kritik dann genutzt, um den Zusammenhang zwischen destruktiver Kindheit und destruktivem Verhalten des später Erwachsenen gänzlich zu leugnen, was sich i.d.R. vor allem nochmals intensiviert, wenn es um politische Führer und Extremisten geht.
Dirk Baier bleibt da allerdings dann glücklicher- und richtiger Weise doch ganz der Forschende und Experte. Auf die Nachfrage „Aber die Kindheit ist doch wichtig?“ antwortet er:
Ich gehöre zu den Forschenden, die sagen: Den Einfluss der Familie kann man gar nicht überschätzen. Familie prägt uns, in ganz vielen Sachen, die wir tun. Insbesondere negative Erziehungserfahrungen prägen uns. In der Forschung wissen wir mittlerweile, dass Kinder, die Gewalt erfahren haben, häufiger die Schule schwänzen, schlechtere Schulleistungen erbringen, geringere Lebenszufriedenheit, mehr Depressionen, Suizidgedanken haben sowie häufiger Gewalt anwenden. Und selbstverständlich taucht in dieser breiten Liste auch der Extremismus mit auf. Dennoch: Trotz dieser widrigen Bedingungen entwickeln sich viele dieser Menschen ganz positiv.“

Warum nur die „Vorsicht“ bzgl. Extremisten und politischen Führern bzgl. dieser Zusammenhänge? 

Ich möchte an dieser Stelle Dirk Baier selbst als Forschungsobjekt nutzen (diese Herangehensweise bedingte meine lange Bedenkzeit ob und wie ich einen solchen Text hier schreiben soll). Ich hoffe sehr, dass er, so er denn auf diesen Text hier stoßen sollte, Verständnis dafür hat. 

Trotz dieser widrigen Bedingungen entwickeln sich viele dieser Menschen ganz positiv“ fügte er wie oben zitiert an. Ich gehe stark davon aus, dass er dies auch auf sich selbst bezogen meint und damit hätte er ganz offensichtlich auch recht. 

Im Interviewverlauf sagte Baier ganz offen: „Ich wurde auch geprügelt von meinem Vater. Dann ist das Beste passiert, was mir passieren konnte: Meine Eltern trennten sich. Danach hatte ich immer gute Fußballtrainer, die mir Orientierung gaben. Gute, besorgte, interessierte Menschen um sich zu haben, das hilft.“

Auch an dieser Stelle bleibt Baier ganz der Experte und verknüpft seine persönliche Geschichte mit seinem Fachwissen. Es ist längst erforscht, dass stützende erwachsene Bezugspersonen DER zentrale Faktor sind, die ein misshandeltes Kind in eine positive Richtung steuern können und die ein Abdriften in (Selbst-)Hass und Gewalt weniger wahrscheinlich machen (hilfreich ist natürlich auch eine Trennung vom Täter bzw. ein Unterbinden der Gewalt, was offensichtlich durch die Trennung von Baiers Eltern so geschah).

Das Team des Center on the Developing Child der Harvard Universität hat innerhalb des Grundlagentextes “A Guide to Toxic Stress” über Resilienz geschrieben:
The single most common factor for children who develop resilience is at least one stable and committed relationship with a supportive parent, caregiver, or other adult." (Center on the Developing Child 2018, Step 3: Preventing and Addressing Toxic Stress, Resilience).
Alice Miller hat bzgl. der Weitergabe von erlittener Gewalt (Entwicklung vom Opfer zum Täter) formuliert, dass dies hauptsächlich geschieht, wenn dem gedemütigten, missbrauchten Kind niemand zur Seite stand, dem es sein Leid anvertrauen konnte bzw. der widerspiegelte, dass diese erfahrene Normalität nicht richtig ist. Bei Massenmördern, so Miller, fehlte grundsätzlich ein Helfender Zeuge. Ein Helfender Zeuge ist nach Miller ein Mensch (z.B. Bruder oder Schwester, ein Elternteil, Großmutter usw.), der einem misshandelten Kind beisteht, der ihm eine Stütze bietet, ein Gegengewicht zur Grausamkeit, die sein Alltag bestimmt. Dank dieses Zeugen erfährt ein Kind, dass es in dieser Welt so etwas wie Liebe gibt (Miller, A. 2001: „Evas Erwachen. Über die Auflösung emotionaler Blindheit“, S. 7–8).

Somit ist absolut klar, warum viele einst misshandelte Menschen in ihrem Leben einen positiven oder zumindest nicht durch Gewaltverhalten auffälligen Lebensweg hinbekommen: Sie hatten positive Ausgleichserfahrungen und Schutzfaktoren in ihrem Leben. Putin (der im Interview mit Baier erwähnt wurde) hatte solche Schutzfaktoren nicht!

Dazu kommt noch der Faktor Geschlecht bzw. Gender, denn die meisten Gewalttäter (außer in Bezug zu Kindern, hier sind Frauen bzgl. Gewalt mindestens gleichauf mit den Männern/Vätern) und erst recht Extremisten sind Männer. Dies wird Dirk Baier ebenfalls bekannt und sehr bewusst sein.

Präziser formuliert sind es also vor allem als Kind gedemütigte und deutlich belastete Jungen, denen kaum positive Ausgleichserfahrungen und Schutzfaktoren vor allem in Form zumindest einer guten Bindung an eine erwachsene, positive Bezugsperson fehlte, die besonders gefährdet sind, in Hass und Gewalt abzugleiten. Und auch von diesen wird wiederum nur ein gewisser Teil den Weg der Gewalt einschlagen.

Fakt bleibt aber auch, dass Misshandlungserfahrungen in der Kindheit vielfältige negative Folgen haben können (ehrlich gesagt habe ich noch keinen einzigen Menschen getroffen, dem eine Misshandlungsgeschichte nicht in irgendeiner Form geschadet hätte). Gewaltverhalten ist nur eine von vielen Möglichkeiten. 

Kommen wir an dieser Stelle nochmal zurück zu der Misshandlungsgeschichte von Dirk Baier. Ich bin schon sehr lange der Überzeugung, dass Menschen, die diese klassische Kritik von wegen „Nicht jedes einst misshandelte Kind wird…“ so oder so ähnlich äußern, wenn sie ziemlich deutlich mit den möglichen destruktiven (vor allem auch politischen) Folgen von Kindesmisshandlung konfrontiert werden, immer auch - ob nun bewusst oder unterbewusst - sich selbst meinen: „Seht doch, ich bin ein Beispiel dafür, dass es anders kommen kann“ oder „Ich bin doch auch kein Terrorist geworden!“. 

Empirisch ist diesen Kritikern immer ein ganzes Stück weit recht zu geben, denn wenn aus allen einst misshandelten Kindern automatisch Hasser und Gewalttäter werden würden, dann hätten wir schon morgen die Hölle auf Erden. Dies habe ich so auch in meinem Buch betont. 

Was aber gleichfalls Fakt ist und bleibt sind die destruktiven Kindheitshintergründe, die nun einmal routinemäßig bei Gewalttätern, Extremisten, Massenmördern und Diktatoren ausfindig zu machen sind.
Dass bei diesen Akteuren ihre destruktive Kindheit das Fundament für ihren destruktiven Weg legte, hat überhaupt nichts damit zu tun, dass viele andere, so auch Dirk Baier, ganze andere Wege gehen. Der eine Mensch steht hier, der andere Mensch steht dort. Diese gedankliche Verbindung muss raus aus der Debatte. Wir können und dürfen destruktive Kindheitserfahrungen von Extremisten und destruktiven Politikern besprechen und ins Scheinwerferlicht holen. Dadurch sprechen wir nicht gleichzeitig aus, dass alle einst misshandelten Kinder in irgendeiner Form gefährlich sind! 

Ich plädiere dafür, dass wir damit aufhören, „vorsichtig mit solchen Thesen“ zu sein. Wir können und müssen gerade auch, weil die Kriminologie immer und immer wieder die Zusammenhänge zwischen destruktiver Erziehung und Gewaltverhalten aufgezeigt hat, diese Schablone - gepaart mit der Biografieforschung über Extremisten und Diktatoren - übertragen und nutzen. Die Antwort muss dann lauten: Die Kindheit ist politisch. 

Ich selbst spitze dies dann zu, indem ich sage: "Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an, werden keine Massenmörder oder Diktatoren". Eine solche Aussage zielt natürlich in eine etwas andere Richtung als die Überschrift "Niemand ist vor Extremismus gefeit" des hier besprochenen Interviews.

Eine solche Zuspitzung erwarte ich nicht von einem Wissenschaftler. Als Forschender im Wissenschaftsbetrieb muss und sollte man vorsichtig formulieren. "Nun, da ist schon was dran, dass eine harsche, gewaltförmige Erziehungsmethode die Persönlichkeit beeinflussen kann.", sagte Baier wie oben zitiert mit Bezug zum Extremismus und auf politische Führer wie Putin. Eine vorsichtige Bemerkung. Warum nicht einfach einen Punkt dahinter lassen, im nächsten Interview?


Anhang:

Ich möchte bzgl. dem Satz "Ganz viele geprügelte Kinder sind nicht Nazis geworden, sondern Helfer" noch anmerken, dass in der Nazizeit die Helfer und Judenretter mehrheitlich eine auffällig positive Kindheit hatten!
Siehe dazu: 
Die Kindheit von JudenretterInnen
Oliner & Oliner: Die Kindheit von JudenretterInnen
Auch hier gilt, dass es auch einst misshandelte Kinder gab, die zu Judenrettern wurden. Die Tendenz war aber trotzdem deutlich. 

2 Kommentare:

Michael Kumpmann hat gesagt…

Ich sag es mal so. Man sollte schon mit dem Traumatheoretischen Ansatz vorsichtig sein weil der von bestimmten politischen Richtungen arg missbraucht wird. Und manchmal sehr fragwürdige Ergebnisse hat. (Bestes Beispiel ist auch sowas wie "mein Exfreundin hat mich schlecht behandelt deshalb hasse ich jetzt alle männer", was manche linke für ne vollkommen legitime Einstellung halten. Die selben Leute würden nen Mann der das selbe über Frauen sagt, verteilen.)


Trotzdem gibt es sehr oft schon sehr auffällige wiederkehrende muster aus der Kindheit, die eigentlich so deutlich sind dass man die nicht ignorieren kann.

Michael Kumpmann hat gesagt…

Hab gerade ein Sau interessantes Video von nem Psychologen gefunden, was sich mit Trauma (Und mit der Frage warum nicht jeder der Gewalt erlebt Symptome zeigt) beschäftigt. Sau viel da ist extrem interessant. Auch die Sachen mit Drogen und der Frage nach Kontrolle übers eigene Leben

https://www.youtube.com/watch?v=8TkbP4XfggM