Mittwoch, 30. Mai 2012

Kindheit von Zacarias Moussaoui


Die Kindheit von Zacarias Moussaoui, der bei den Vorbereitungen der Anschläge vom 11. September mithalf und in den USA zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, ist ein weiteres Lehrstück dafür, wie der „Terror in der Kindheit“ das Fundament auch für politischen Terror bildet. 

Ich bin erst jetzt auf die vorhandenen Informationen über seine Kindheit gestoßen. Immer wieder werde ich bzgl. meiner Grundthese bestätigt: Als Kind geliebte Menschen werden nicht zu Massenmördern und Terroristen. 

Der Weg eines Menschen wie Moussaoui wird ganz sicher auch durch Zufälle, Begegnungen mit radikalen Menschen, äußere Strukturen usw. beeinflusst. Aber am Anfang war Erziehung. All die möglichen Lebenszufälle, Begegnungen und Strukturen, auf die Menschen treffen, werden ja von der individuellen Psyche und den eigenen Emotionen gedeutet. Wenn das Eigene leer, trostlos, ohnmächtig, voller Hass- und Wutgefühle ist, dann steigt die Gefahr, dass sich der Weg mit den destruktiven Wegen (und bereits ideologisch fest gefahrenen Ansichten) anderer Menschen kreuzt. Solche Menschen merken dann: „Hey, ich bin ja nicht alleine mit meinem Hass!“ Die anschließenden mörderischen Gruppendynamiken sind nur möglich, da die „Teile“ der Gruppe hassbeladen sind. Ist der Einzelne nicht hassbeladen, sondern wurde er ohne Gewalt und liebevoll erzogen, würde er sich solchen extremistischen Gruppen nicht anschließen, da sie ihn emotional abstoßen würden. Dagegen fühlen sich die „Hasser“ „gut“, „sicher“ und „lebendig“ in solchen Gruppierungen. Der offene Hass und das klare Feindbild (pseudo)stabilisiert die Psyche des Einzelnen. Dem eigenen Tod wird mit Freude entgegengesehnt, da die eigene irdische Existenz eh nur Leid und Schmerz war. 

Einige ausgesuchte Infos über seine Kindheit:

Moussaouis Schwestern Djamila und Nadia schilderten auf einem Videoband die zerrütteten Familienverhältnisse. Der Vater sei ein Alkoholiker gewesen und habe lange Zeit auf der Straße gelebt. Die Familie habe er terrorisiert. „Zacarias litt darunter, von seinem Vater keine Liebe zu erhalten", sagte Nadia. Eine Sozialarbeiterin sagte aus, Moussaoui habe die ersten sechs Lebensjahre in verschiedenen Kinderheimen verbracht.“

Die Schwestern sagten auch aus, dass ihr Vater die vier Kinder und die Mutter misshandelt hätte. http://www.sueddeutsche.de/politik/-september-us-experte-moussaoui-ist-schizophren-1.844899-2

 Moussaouis Mutter sei auch während ihrer Schwangerschaften stets geschlagen worden, sagte die Sozialarbeiterin Vogelsang. (Stichwort „Fötales Drama“)

 Zudem wird in den Medien berichtet, dass Zacarias Moussaoui unter ständigem Rassismus litt, der ihm seitens der Gesellschaft entgegenschlug.



Samstag, 26. Mai 2012

Neue Ergebnisse der KFN Gewaltstudie und der Kriminologe Christian Pfeiffer spricht zudem Klartext bzgl. der gesellschaftlichen Folgen der Gewalt

Der Direktor des Kriminologischen Instituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer, hat in einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung (am 15.01.2012) die weiteren Ergebnisse der aktuellen Gewaltstudie veröffentlicht. (Bisher waren ja nur Ergebnisse zum Sexuellen Missbrauch bekannt gegeben worden). Das KFN hat im Jahr 2011 repräsentativ 11.428 Personen der Altersgruppe 16 bis 40 zu Gewalterfahrungen befragt.

Ergebnis bzgl. der körperlichen Gewalt:

52,1 % aller Befragten erlebten keine körperliche Elterngewalt!

"Noch deutlicher wird der Wandel der Erziehungskultur, wenn wir die Antworten der 31- bis 40-Jährigen und die der 16- bis 20-Jährigen einander gegenüberstellen. Im Vergleich dieser beiden Kindheiten ist das massive Schlagen seit den 80er Jahren um mehr als die Hälfte von 15,6 auf 7,2 Prozent zurückgegangen. Das gewaltfreie Erziehen hat dagegen von 45,1 auf 62,8 Prozent zugenommen, das häufige Schmusen von 68,6 auf 75,2 Prozent." Diese Entwicklung stützt meine Ausführungen in dem Beitrag "Geboren 2012". Wir werden entsprechend eine Welle des sozialen und gesellschaftlichens Fortschritts in Deutschland erleben, da die Psyche der Mehrheit immer weniger belastet und immer freier wird.

Und Pfeiffer hängt in seinem Beitrag weitere deutliche Worte an: "Hat sich dieser Wandel der Erziehungskultur bereits positiv ausgewirkt? Ja: Die Jugendgewalt geht seit einigen Jahren zurück. Dies zeigen unsere seit 1998 wiederholt durchgeführten Schülerbefragungen ebenso wie die Statistiken der kommunalen Unfallversicherer. Letztere belegen, dass schwere schulische Gewalttaten seit 1997 um 40 bis 50 Prozent abgenommen haben."

Auch innerhalb einer Sendung im SWR ("Schlag auf Schlag", die auch noch als Audiodatei nachzuhören ist.) Anfang des Jahres fand Pfeiffer deutliche Worte.  Er sagte im Interview vieles, was auch ich hier regelmäßig wiederhole, u.a., dass noch nie in unserer Geschichte so viele Kinder gewaltfrei aufwachsen durften, wie heute. 

Aufhorchen ließ mich besonders folgender Satz:

Er wurde gefragt: "Astrid Lindgren hat gesagt, wenn Kinder gewaltfrei aufwachsen, dann werde es künftig überhaupt weniger Aggression, Gewalt, Krieg auf der Welt geben. Was sagen Sie dazu?"

Pfeiffers Antwort: "Das ist im Prinzip schon richtig. Der nationale Charakter eines Volkes verändert sich. Warum haben wir denn in den USA diese Begeisterung für radikale Strömungen, für Todesstrafe und die Begeisterung für Schusswaffen? Dort dürfen in der Hälfte der Bundesstaaten sogar noch die Lehrer mit dem Stock schlagen. Und die Eltern können sowieso alles machen, was sie wollen."

Ganz selbstverständlich zieht der Kriminologe hier Verbindungslinien zu gesellschaftlichen Prozessen, zu Kriminalität und politischen Entwicklungen auf der einen Seite und dem Ausmaß von Gewalt gegen Kindern auf der anderen. Das ist so selbstverständlich nämlich nicht und wird - wie wir alle hier wissen - immer noch oft verdrängt und ausgeblendet. Es wäre sehr wünschenswert, dass dieser anerkannte Wissenschaftler mehr Gehör findet, denn er hat Recht bzgl. seiner Aussagen.   

Donnerstag, 24. Mai 2012

Judenretter. "Gewaltfreie Erziehung fördert den aufrechten Gang"


Ich habe eine interessante Rede des Kriminologen Christian Pfeiffer gefunden: „Zur Biographie von Gewalt und Zivilcourage(Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung der Universität Erfurt "Gewalt und Terror", 12.02.2003)

Pfeiffer bespricht u.a. eine Studie (die er nicht nennt, nach kurzer Suche findet man die Quelle, er bezog sich vor allem auf Studien von Eva Fogelman und wohl auch Oliner/Oliner), die durch amerikanische Wissenschaftler Anfang der achtziger Jahre durchgeführt wurde. Die Forscher konnten in Europa knapp 400 Judenretter ausfindig machen und haben mit ihnen ausführliche Interviews geführt.

Welche Gemeinsamkeiten haben sich in der Biographie dieser  Menschen gezeigt, die durch derart couragiertes und hilfsbereites Verhalten aufgefallen sind? Ich zitiere:

1. Gewaltfreie Erziehung fördert den aufrechten Gang. Menschen mit so ausgeprägter Zivilcourage hatten ganz überwiegend Eltern, die sie bei Konflikten nicht autoritär und mit Gewalt zu disziplinieren versucht haben, sondern mit ihnen fair und argumentativ umgegangen sind. Zwar gab es einige, die zu Hause Schläge abbekommen hatten. Aber sie machten dann deutlich, dass sie das angesichts ihres eigenen Fehlverhaltens durchaus akzeptieren konnten. Die Eltern hätten zudem nur ausnahmsweise zu diesem Mittel gegriffen und viel lieber gewaltfrei erzogen.

2.
Liebevolle Erziehung fördert die Fähigkeit, Mitleid zu empfinden und danach zu handeln. Die Eltern der Judenretter waren mit ihren Kindern durchweg sehr liebevoll umgegangen. Dabei war das keine Gluckenliebe, die nur die eigenen Küken schützt. Mindestens einer der Eltern wird als jemand beschrieben, der sich engagiert für andere Menschen in Not eingesetzt hat und so zum Vorbild für die Kinder werden konnte.

3.
Die Gleichrangigkeit der Eltern fördert die Moral der Kinder. Die Stärke moralischer Überzeugungen und die Kraft nach ihnen zu handeln, hängen offenbar wesentlich davon ab, wie die Eltern miteinander bei Konflikten umgehen. Wenn zum Beispiel ständig der Vater dominiert, weil er über größere Körperkräfte verfügt, weil das seine traditionelle Rolle ist oder weil primär er das Geld verdient, dann fördert das bei den Kindern eine eher opportunistische Grundeinstellung. Man orientiert sich am Mächtigen und lernt von ihm, die Ellenbogen kräftig einzusetzen. Die Orientierung an Grundwerten entwickelt sich dagegen, wenn die Kinder bei konflikthaften Auseinandersetzungen ihrer Eltern echte Gleichrangigkeit und faires Argumentieren erleben - verbunden mit wechselseitigem Nachgeben, damit konstruktive Lösungen gefunden werden konnten.

4.
Eine Kultur der Anerkennung fördert couragiertes Verhalten. Die Retter von jüdischen Mitbürgern stellten sich keineswegs als Helden oder Heilige dar. Sie betonten vielmehr, wie sehr ihr Verhalten in solchen kritischen Situationen davon abhängig war, ob sie in einer Gemeinschaft verankert waren, in der ehrlich geredet wurde und in der es für richtiges Verhalten liebevolle Anerkennung gegeben hat. Die Kraft zum Widerstand wuchs, wenn man in einer Großfamilie, Kirchengemeinde oder einer anderen Bezugsgruppe nachhaltig gestützt wurde.

Donnerstag, 10. Mai 2012

Erziehung und Autoritäre Persönlichkeit. Gespräche mit der Deutschen Jugend Anfang der 50er Jahre


Ich habe eine weitere Studie ausgewertet, die die deutsche Erziehungspraxis Anfang bis Mitte des 20.Jahrhunderts beleuchtet:

Pipping, Knut / Abshagen, Rudolf / Brauneck, Anne-Eva (1954): Gespräche mit der Deutschen Jugend. Ein Beitrag zum Autoritätsproblem. Helsingfords. 

Insgesamt wurden 444 junge Menschen im Alter zwischen 18 und 22 Jahren zwischen Mitte1950 und Anfang 1951 in ausführlichen, offenen Interviews befragt. Entsprechend entstammten die Befragten den Geburtsjahrgängen zwischen ca.1928 und 1932. Die Befragungen fanden in Niedersachen, Unterfranken und in Baden statt, jeweils entsprechend verteilt auf drei Großstädte, drei Mittelstädte und Landkreise. Die meisten Befragungen fanden in Schulen oder sonstigen öffentlichen Gebäuden statt (ca. 60 %).

Ich möchte vorweg eine Passage zitieren:  „Demütigungen aller Art hatten wir in Kauf zu nehmen. Selbst die Verweisung aus der Wohnung mussten die Interviewer einfach überhören, um schließlich doch noch eine Befragung zustande zu bringen. Die Unwürdigkeit und Peinlichkeit solcher Situationen, die Unfreundlichkeit und Sturheit der Ablehnungen wurden von manchen weiblichen Interviewern gegen ihre rational bessere Einsicht immer wieder als Kränkung erlebt.“ (S.37)
Es war offensichtlich nicht leicht, innerhalb der deutschen Familien Befragungen über Kindheit,  Jugend, Familienatmosphäre, Erziehungsstil, politische Einstellungen usw. durchzuführen. Insofern möchte ich hier erwähnen, dass es 34,9 % Ausfälle gab (insgesamt wurden 682 Jugendliche aufgesucht), von denen 24,4 % durch Weigerung der Eltern, Weigerung des Probanden oder dessen wiederholtem Nichterscheinen zum vereinbarten Interview zu Stande kamen. In wieweit dies das Ergebnis verzerrte bleibt allerdings Spekulation.

Und noch ein Zitat, das mir wichtig erscheint und für sich spricht: „Im ganzen gesehen war die Haltung der Jugend selbst allerdings durchaus positiv. Oft kam unsere Befragungsmethode sogar einem echten Bedürfnis nach menschlicher Aussprache entgegen. Für viele Probanden war es offensichtlich das erste Mal, dass sich ein Erwachsener so ernst und unvoreingenommen für ihre persönlichen Angelegenheiten interessierte. (…) Nicht selten wurden die Interviewer von den Probanden um Rat und Hilfe in ihren persönlichen Nöten gebeten.“ (S.49)


Die für mich wichtigsten Ergebnisse:


Körperliche Züchtigungen durch Lehrer

4,7 % erlebten besonders brutale oder harte körperliche Züchtigungen (Mädchen fast doppelt so häufig wie Jungen)
38,4 % erlebten körperliche Züchtigungen (Jungen mit 44,9 % häufiger als Mädchen mit 29,5 %)
58,8 % erlebten keine Züchtigungen


36 Einstellungen der Eltern als Erzieher wurden genannt. Die am Häufigsten genannte Einstellung war mit 301 Nennungen ( 67,79 % der Befragten) „Unbedingten Gehorsam fordern“ 


Strafverhalten der Eltern (ausgesuchte Beispiele):

28 verschiedene Strafformen wurden insgesamt erfasst. Wobei man vorweg darauf hinweisen muss, dass pro Befragten nur vier verschiedene Aussagen (!) zum Strafverhalten aufgenommen werden konnten. Pro Befragten wurden im Schnitt 2,64 Strafformen angegeben. 

Am Häufigsten genannte wurden „Schwere körperliche Züchtigungen“ , mit 326 Nennungen, sprich 73,4 % der Befragten erlebten schwere Züchtigungen. Jungen erlebten dies deutlich mehr, nämlich ca. 85 % während Mädchen zu ca.62 % betroffen waren. 

Auf Platz zwei der List stehen die „leichten körperlichen Züchtigungen“, mit 186 Nennungen, sprich 41,9 % der Befragten. Wobei hier die Mädchen etwas häufiger betroffen waren, als die Jungen.

7,9 % berichteten von schwerem Schimpfen

7,4 % berichteten von qualifizierter körperlicher Züchtigung (worunter Züchtigungen „mit Hilfe irgendwelcher Werkzeuge“ verstanden wurde) 

4,95 % berichteten von langandauerndem Liebesentzug

Leider lässt sich aus den Zahlen nicht ablesen, wie viel Prozent der Befragten keine körperliche Elterngewalt erlebt haben. Es lässt sich aber an Hand der Zahlen schätzen, dass wohl nur ein sehr geringer Teil überhaupt keine körperliche Gewalt erlebt hat. 73,4% schwere Züchtigungen sind ja belegt, dazu kommen die Befragten, die nur  leichte Züchtigungen oder ggf. auch nur qualifizierte Züchtigungen angaben. Insofern werden mit Sicherheit weit über 80 % von körperlicher Elterngewalt betroffen gewesen sein. Da die Befragungen in offenen Interviews durchgeführt wurden und die entsprechende Leitfragen für die Interviewer lauteten „Wie wurden Sie von Ihren Eltern gestraft?“und  „Gab es auch andere Strafen als Schläge?“, ist zudem das Ergebnis bzgl. der „qualifizierten Züchtigungen (also mit einem Gegenstand) ebenso fragwürdig. Die Studie von Hävernick zeigte, dass Schläge mit Gegenständen weit verbreitet waren. Hävernick hatte allerdings innerhalb der Studie auch das Ziel, konkrete Angaben dazu zu bekommen und hat sogar diverse Gegenstände, die für Schläge benutzt wurden, unterschieden. Pipping und seine Mitarbeiter haben erstens allgemeiner gefragt und zweitens war die Studie nicht auf das Strafverhalten der Eltern konzentriert, letzteres war nur ein Teilaspekt. 
 Leider wurden wie gesagt auch nur vier Antwortmöglichkeiten bzgl. der Strafformen pro Befragten mit einbezogen. Insofern weisen die Autoren darauf hin, dass andere Strafformen (z.B. emotionaler Art) wohl ebenfalls in einem hohen Ausmaß vorkamen, diese aber in ihrer Häufigkeit auf Grund der genannten Einschränkung  nicht wirklichkeitsnah erfasst wurden. Insofern wurde hier leider eine Chance verpasst, das Strafverhalten umfassend darzustellen. 

Pipping hat zudem etliche Angaben über politische Einstellungen, Autoritätshörigkeit usw. erfragt (die ich hier nicht alle wiedergeben kann) und schreibt in der Zusammenfassung: „Die Haltung eines jungen Menschen zu den verschiedenen Autoritäten scheint in einem bestimmten Zusammenhang mit den menschlichen Verhältnissen seines Elternhauses zu stehen. Autoritär erzogene neigen offenbar mehr dazu, sich auch Autoritäten auf anderen Lebensgebieten zu unterwerfen.“ (S. 420) Nachdem er weiter auf die Rolle der Eltern eingegangen ist und u.a. die Auswirkungen fehlender mütterlicher Wärme bespricht schreibt er seinen letzten Satz: „Gerade die Verarmung des Gefühlslebens scheint aber ein spezifischer, wenn nicht der entscheidende Zug der „autoritären Persönlichkeit“ zu sein.“ (S. 421)


Donnerstag, 3. Mai 2012

Johann Benos: 20 europäische Diktatoren im Vergleich


Der apl. Professor für Psychiatrie Dr.med. Johann Benos hat 2011 ein auf den ersten Blick vielversprechendes Buch unter dem Titel: „20 europäische Diktatoren. Psychologische Hintergrunds- und Persönlichkeitsstudien“ veröffentlicht. (im AT Edition Verlag, Berlin erschienen) Die untersuchten Diktatoren sind: Antonescu, Atatürk, Dollfuß, Franco, Hitler, Horthy, Kun, Metaxas, Mussolini, Päts, Pavelić, Pilsudski, Primo de Rivera, Salazar de Oliveira, Smetona, Stalin, Szálasi, Tiso, Ulmanis und Zogu.

Der Autor hat in seinem Buch Diktatoren untersucht, die alle zur ungefähr gleichen Zeit – erste Hälfte des 20.Jahrunderts - ihr Unwesen in Europa trieben. „Auffallend war beim Lesen der Biographien der Diktatoren die Feststellung, dass sie große Ähnlichkeit aufwiesen, was mich dazu veranlasste, diese Untersuchung durchzuführen.“ (S. 10) Entsprechend war der Autor bemüht, die Gemeinsamkeiten der Akteure herauszustellen. Jeder Diktator wurde mit der gleichen Schablone untersucht:  Herkunft;  Kurzbiographie; Verhältnis zu Eltern, Verwandten, Frauen; Psychische Störungen; Psychische Vorbelastungen in der Familie; Ideologie, Brutalität  usw. In der zweiten Hälfte des Buches wurden die Ergebnisse miteinander verglichen. Kurzum: Auf den ersten Blick ist dieses Buch so angelegt, wie ich es mir nur wünschen könnte.
Das für mich wichtigste Vergleichsergebnis: „Alle Diktatoren des untersuchten Zeitraumes hatten, sofern es aussagekräftige Biographien hierzu gab, zu ihrem Vater ein schlechtes oder „gleichgültiges“ Verhältnis. (…) für die Diktatoren existierte der  Vater nicht oder sie lehnten ihn ab, weshalb er auch niemals ein Vorbild für sie sein konnte. (…) Die Diktatoren waren in der absurden Situation, ihren Vater zu leugnen. Es scheint, dass das Verhältnis zum Vater bzw. seine Ablehnung der wichtigste Parameter im Leben der Diktatoren war. “ (S.225+226) Ein für mich ein nicht wenig überraschendes Ergebnis, aber wie schön, dass dies einmal derart systematisch festgestellt wird. 

(Auch andere Vergleichsergebnisse sind interessant, z.B. dass alle Diktatoren aus dem geographischen und politischen Abseits des jeweiligen Landes, das sie später regierten, stammten und keiner in einer Großstadt geboren wurde oder dort als Kind/Jugendlicher gelebt hatte. Ich gehe in diesem Beitrag allerdings nur auf die psychohistorisch relevanten Ergebnisse ein bzw. auf das, was in dieser Studie fehlte. )

An dieser Stelle endet meine positive Kritik über das Buch. Benos ergänzt nämlich bzgl. der Väter, dass nicht die Brutalität oder Dominanz (dominante Väter sind laut seinen Recherchen in der Minderheit) der Väter der gemeinsame Nenne wäre, sondern die Ablehnung des Vaters. Bzgl. Francisco Franco, Hitler, Stalin und Mussolini habe ich hier im Blog ja bekanntlich Daten aus der Kindheit gesammelt. Benos  lag offensichtlich keine Quelle vor, die die körperliche Gewalt des Vaters gegen Francisco Franco belegte, er beschreibt den Vater rein als „streng, autoritär und emotionslos“. Die körperliche Gewalt, die Hitlers Vater ausübte, ist ja weitgehend bekannt und insofern auch von Benos erwähnt worden. Die väterliche Gewalt gegen Mussolini weist Benos auch nach. Bzgl. Stalins Vater schreibt Benos: „Er entlud seinen Frust in tätlichen Aggressionen gegen Frau und Kind.“ (S.165) Das finde ich doch sehr knapp, gerade auch vor dem Hintergrund, dass Benos laut Literaturverzeichnis Neumayrs “Diktatoren im Spiegel der Medizin“ gelesen hat, .in dem es heißt, dass Stalins Vater es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, dem kleinen Jossif seinen Eigensinn durch tägliche Prügel, jeweils vor dem Schlafengehen verabreicht, auszutreiben. Tägliche Misshandlungen sollten doch eine gesonderte Erwähnung wert sein, weil dies eine ganz andere Dimension ist, als allgemein von „tätlichen Aggressionen“ zu schreiben. 

Ergänzend möchte ich behaupten, dass viele der von Benos untersuchten Diktatoren nicht derart von einem auch über die nationalen Grenzen hinaus reichenden Interesse für Historiker, Psychologen und Sozialwissenschaftler waren und sind. Ganz im Gegenteil werden einige sogar noch immer von der eigenen Nation verehrt, wie z.B. Atatürk. Ich denke, dass die Datenlage bzgl. möglicher direkter innerfamiliärer Gewaltanwendung – neben der von ihm nachgewiesenen väterlichen Ablehnung -  entsprechend dürftig ist.
Großes Kopfschüttel löste bei mir aber viel mehr noch das Vergleichsergebnis bzgl. der Mütter aus. Benos schreibt zusammenfassend nach seiner Besprechung der Väter: „Das Verhältnis zur Mutter jedoch war bei allen immer sehr gut.“ (S. 226) Dabei muss man folgende Wörter nochmal wiederholen: „immer“ und „sehr gut“! Benos lässt in seinem Buch keinen Zweifel aufkommen: Die Mütter der Diktatoren liebten ihre Kinder innig! Seine Schilderungen über Stalins Mutter gleicht denen über die Mütter der anderen Diktatoren: Die Mutter Stalins „(…) war eine einfache ungebildete, aber sehr fromme und liebevolle Frau.“ Sie war „(…) sehr um ihren Sohn besorgt und liebte ihn sehr.“ (S. 165) Er ergänzt, dass sie für ihren Sohn einen Weg als Priester vorgesehen hatte und Stalin ihr diesen Wunsch zunächst auch erfüllte.
Man lese nun meine Rechercheergebnisse bzgl. Stalins Mutter hier. Auch sie misshandelte nachweisbar ihren Sohn (was ich in gleich drei Quellen fand!), schützte ihn nicht vor den Schlägen des Vaters und zwang ihn  in eine Ausbildung als Priester, während der er weitere schwere Demütigungen und Verletzungen erlitt. Stalin nahm später nicht einmal an ihrer Beerdigung  teil.
Dass Francisco Franco von seiner Mutter als Trostpflaster missbraucht wurde und dies auf Kosten seiner emotionalen Entwicklung ging, habe ich ebenso im Grundlagentext beschrieben. Bei Benos ließt sich das so: „Sie liebte ihren Sohn abgöttisch und bemutterte ihn am meisten von allen Kindern, weil sie glaubte, er leide ganz besonders unter der familiären Situation. Sie spornte ihn auch an, etwas Besseres zu werden als sein Vater.  Francisco Franco liebte seine Mutter und besuchte sie, so oft er konnte.“ (S. 35) Dabei stecken bereits in den Schilderungen von Benos deutlich Anzeichen für ein „Zuviel“ an Mutter, für eine „Muttersöhnchenbindung“, die letztlich nichts anderes ist, als emotionaler Missbrauch. Ähnliches schreibt Benos über Hitlers Mutter: „Sie liebte ihn abgöttisch und bemutterte ihn. Auch Adolf liebte sie übermäßig (…)“ (S. 42) Hitler, der in den Augen der Medusa nach eigenen Worten die Augen seiner Mutter  wiedererkannte und dessen gestörte Mutterbeziehung nachvollziehbar u.a. von Arno Gruen beschrieben wurde, erlebte ganz offensichtlich ebenfalls emotionalen Missbrauch durch die Mutter. Auch sie schützte ihren Sohn nicht vor der väterlichen Gewalt (und egal woran dies lag, hinterlässt dies bei einem Kind seine Wirkung auch in Bezug zur Mutter). 

Merkwürdig ist, dass Benos als Psychiater seine Ergebnisse bzgl. der angeblich liebevollen Mütter  in Anbetracht eines weiteren Vergleichsergebnisses nicht kritisch hinterfragte: „Ein normales Verhältnis zu Frauen und gewiss auch zu der eigenen Ehefrau hatte keiner der Diktatoren (…). Die meisten von ihnen sahen Frauen lediglich als Lustobjekt und schätzten sie nur gering. Zu einer gefühlsmäßigen Bindung waren sie auf Grund ihrer Persönlichkeit (Narzissmus) nicht fähig (…). Ehen und Partnerschaften entstanden nur, weil die Diktatoren eine Stütze brauchten. (…) Trotz aller Anstriche einer frauenfreundlichen Politik blieben die Regime, weil die Diktatoren dies nicht anders wollten, antifeministisch.“ (S. 228- 231)
Verhalten sich so Söhne, die von ihren Müttern wirklich geliebt und gut behandelt wurden? Benos wies ja auch nach, dass die Väter sowohl emotional als auch oft real abwesend waren und nicht als Vorbild zur Verfügung standen. Das bedeutet, dass die Diktatoren während der Kindheit hauptsächlich durch ihre Mütter erzogen und begleitet worden sind. Wären ihre Taten und auch ihre Einstellungen gegenüber Frauen möglich gewesen, wenn der anwesende Elternteil sie mit echter Liebe überschüttet hätte? Nach allem was ich gelesen habe und selbst als Mensch über das Menschsein fühle kann ich nur sagen: Nein, dies wäre nicht möglich gewesen! 

Dazu kommt, dass alle Diktatoren Ende des 19. Jahrhunderts geboren wurden, einer Zeit also, in der das Prügeln und Demütigen von Kindern zu Hause und auch in der Schule Sitte und Norm war. Die meisten Gewaltstudien kommen zu dem Ergebnis, dass Mütter gleich viel oder meist sogar noch öfter als Täterinnen bzgl. körperlicher Gewalt gegenüber ihren Kindern auftreten als die Väter. Aktuell habe ich ja z.B. die Studie von Hävernick vorgestellt, die ein hohes Ausmaß an Gewalt gegen Kinder in Deutschland für die Jahre 1910 bis Anfang der 60er Jahre festgestellt hat. Mütter waren in über 60 % der Fälle die Täterinnen.
Benos hat nun ganze 20 Diktatoren analysiert und meint, dass keine einzige Mutter eine Täterin an ihrem Kind war, sondern alle liebevoll mit ihren Söhnen umgingen!? Die Wahrscheinlichkeit, dass dies stimmt, tendiert bereits gegen Null, wenn man sich alleine nur mit sozialwissenschaftlichen Gewaltstudien und der historischen Kindererziehung befasst. Benos hängt ganz offensichtlichem einem tief in unserer Gesellschaft verwurzeltem idealisierendem Mutterbild nach, das so nicht real ist. (Über dieses Mutterbild und das Nicht-sehen-wollen weiblicher Täterschaft werde ich noch einen gesonderten Beitrag schreiben). 

Ansonsten bestätigen Benos Vergleichsergebnisse vieles von dem, was man sich so allgemein über Diktatoren denken kann: Sie waren kontaktarm und menschenscheu; Menschen gegenüber waren sie misstrauisch und ängstlich; sie waren sowohl in der Politik als auch sozial Außenseiter; sie waren gute Schauspieler und konnten gut reden; bei allen Diktatoren fand Benos paranoide Tendenzen und wahnhafte Ideen; alle Diktatoren waren Narzissten; alle zeigten depressive Tendenzen; alle verfügten über eine hohe rationale Intelligenz aber: „Die Diktatoren hatten einen Defekt im emotionalen Bereich.“ (S. 256) Mit ihren eigenen Gefühlen konnten sie nur schlecht umgehen; im Bereich der Empathie „waren sie gar emotional Schwachsinnige.“ (S. 258) Als Folge der fehlenden Empathie waren sie auch im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen „emotionale Krüppel“ (S. 259)
Und all dies  - ich wiederhole mich – trotz einer liebevollen Mutter? Ich denke, dass dieser blinde Fleck das Hauptmanko des Buches darstellt. Hätte Benos diesen Punkt richtig ausgeleuchtet und kommentiert, das Buch wäre wirklich eine hervorragende Grundanalyse über die Psyche der Diktatoren, als auch bzgl. der Gemeinsamkeiten in der Kindheit. 

Dabei hat Benos in der Tat einen gewichtigen gemeinsamem Nenner gefunden. Er beschreibt die „liebevollen Mütter“, gut, das habe ich hinreichend kritisiert. Aber er schreibt auch, dass alle Mütter ihre Söhne verhätschelt hätten, sie bemutterten, die Söhne waren ihre Lieblinge, „außerdem spornten sie die Mütter zu „Höherem“ an und bestärkten sie sogar in der Ablehnung des Vaters. Diese Tatsache fiel vor allem bei den berüchtigtsten der Diktatoren auf. Je mehr die Mutter sie verhätschelte und anspornte, desto narzisstischer und neurotischer, aber auch brutaler wurden sie in der Verfolgung ihrer Ziele.“ (S. 226) Da ich „Verhätscheln“ und eine „Muttersöhnchenbindung“ nicht als Liebe sehe, sondern als das genaue Gegenteil oder um es klar zu sagen, als emotionalen Missbrauch, verwundert es nicht, dass die Schädigungen dort am meisten auftraten, wo emotional auch am stärksten  missbraucht wurde. Volker Elis Pilgram schrieb in seinem Buch „Muttersöhne“ passend: „Der Mangel an Liebe versteckt sich am allermeisten hinter übertriebener Fürsorge.“ und „Muttersöhne haben eine Phantomseele. Sie sind mit Fleisch und Blut erwachsen da, aber ein seelischer Zusammenhang fehlt ihnen.“ Der Misch aus destruktiven, abwesenden und ablehnenden Vater, anwesender, überfürsorglicher und emotional missbrauchender Mutter, gepaart mit wahrscheinlich (wie oben besprochen) in sicher nicht wenigen Fällen auch körperlicher mütterlicher Gewalt (nachweisbar z.B. bei Stalin) und dem gleichzeitigem mütterlichem Idealisieren des Sohnes, der für Großes vorgesehen ist und all das erreichen soll, was der Mutter verwehrt bleibt, macht meiner Meinung nach den potentiellen Diktator aus. 

Benos kritisiert  im Schlussteil unter der Überschrift „Diktatorenprophylaxe“ dagegen sogar die Auffassung von dem Psychoanalytiker Hans Strotzka, der auf „vernünftige“ Erziehung setzt, „mithin auf die Vermeidung der Diktatorenerzeugung durch eine Erziehung, die Wärme und Vertrauen vermittelt und Fehlentwicklungen vorbeugt.“ (S. 266) Und er hängt an: “Eine Utopie, denn die meisten Kinder werden trotz dieser Aufforderung der Psychologen und Pädagogen weiterhin nicht auf „vernünftige“ Weise erzogen.“ Damit ist das Thema für ihn beendet und er macht es sich hier sehr einfach.

Kurzum, das Buch an sich bestätigt systematisch, wie wichtig Kindheitserfahrungen bzgl. destruktiver politischer Entwicklungen waren und sind, dabei blendet der Autor mütterliche Destruktivität komplett aus und sieht keine Möglichkeiten, die Kindererziehung gezielt zu verbessern. Ich bin immer wieder erstaunt darüber, dass Menschen, die auf dem psychologischen Gebiet tätig sind, trotz aller vorliegenden Erkenntnisse an den Dingen vorbeischreiben können. Aber, man gewöhnt sich fast schon daran... Letztlich ist das Buch trotz allem eine nützliche Arbeitsgrundlage für mich und diesen Blog.

Sonntag, 29. April 2012

Walter Hävenick: "Schläge" als Strafe. (Ein Stück deutsche Kindheitsgeschichte)


Der Volkskundler Walter Hävernick hat in den 60er Jahren die wohl bis dahin erste relativ umfassende Studie zum Ausmaß der elterlichen Gewalt gegen Kinder in Deutschland durchgeführt:
Hävernick, Walter (1970): „Schläge“ als Strafe. Ein Bestandteil der heutigen Familiensitte in volkskundlicher Sicht. Museum für Hamburgische Geschichte. Hamburg. 
Wer im Internet sucht, wird über diese Studie nicht wirklich viele Details finden. Insofern möchte ich hiermit dieser wichtigen Arbeit ihren Raum geben und Interessierten die Ergebnisse ausführlich vorstellen. Das Besondere an der Arbeit ist, dass auch eine Befragung von 97 Familien stattfand, die das Gewalterleben  1910/1937 erfasste. Für die gesamte Studie liegen insgesamt Daten von 668 Hamburger Familien vor, die sich wie folgt aufschlüsseln:


Hävernick Erhebung A
97 Familien für die Zeit 1910/1939

Hävernick Erhebung B
78 Familien für die Zeit 1945-1962

Hävernick Erhebung C
22 Familien befragt beim St. Pauli Bürgerverein 1962

Hävernick Erhebung D
237 Familien; Befragung bei den Maschinenbauerlehrlingen (Alter 15,5 bis 20 Jahre) der Firma Heidenreich & Harbeck in Hamburg; 04. Oktober 1961

Burwick Erhebung E1
108 Familien; Befragung in der Hamburger Schule Holstenwall 14 Oktober 1960; nur Jungen

Burwick Erhebung E2
126 Familien; wie E1 aber Datum November 1962; Jungen und Mädchen


Zwei wichtige Hinweise bzgl. der Begriffe:

Der Autor spricht in seiner Studie vor allem von den Gewalterfahrungen der „Jugend“. Darunter fasst er vor allem die jungen Menschen ab dem 10. Lebensjahr bis zur damaligen Mündigkeit von 21 Jahren. Die Altersjahrgänge 6-9 wurden je nach Möglichkeiten mit einbezogen (Anmerkung: Wobei ich in dem Buch keine Angaben unter 8 Jahren gefunden habe!). Die Lebensphase vor dem 6. Lebensjahr wird in der Studie gezielt und komplett außen vor gelassen.
Definition „Schläge“ als Strafe: Hierunter versteht der Autor ausschließlich „planmäßig vollzogene Bestrafungen durch Schläge auf das Hinterteil, vollzogen sowohl mittels der flachen Hand als auch durch bestimmte Instrumente. Absolut ausgeschlossen bleiben jedoch alle Arten der einzelnen, schnellen Schläge ins Gesicht, an den Kopf oder an andere Körperstellen (…)“, da dies – so der Autor – „schnelle, fast unbewusste Reaktionen“ darstellen würden, die nicht planmäßige Strafen wären. (vgl. S. 16) Hävernick meint, dass „Schläge als Strafe“ (als Erziehungsstrafe) und „Kindesmisshandlung“ (die „roh und quälerisch“ und nach damaligen StGB § 223b verboten ist) klar voneinander zu unterscheiden sind. (vgl. S. 41f) Demnach betrachtet er – dem Zeitgeist entsprechend -  die in seiner Untersuchung festgestellten Gewalterfahrungen nicht als schädlich, gesetzeswidrig oder als schwere Formen, die der Kindesmisshandlung entsprechen, was aus unserer heutigen Sicht sicher deutlich anders zu betrachten wäre.
Der Autor hat außerdem bzgl. der Befragungen A und B versucht, die „planlosen Züchtigungen“ zu ermitteln:  4 % (A) und 5 % (B). (vgl. S. 63) Diese wurden laut Definition von „Schlägen“ also nicht in die Statistik aufgenommen, insofern werde ich sie in Klammern unten ergänzen.

Ergebnisse bzgl. des Gewaltverhaltens:

Erhebung A (1910/1939):
11 % erlebten nie Schläge in ihrer Familie
89 % erlebten Schläge (+ 4 % „planlose Züchtigungen“ würde 93 % ergeben)
49 % erlebten Schläge mit dem Rohrstock

Erhebung B (1945-1962):
20 % erlebten nie Schläge in ihrer Familie
80 % erlebten Schläge (+ 5 % „planlose Züchtigungen“ würde 85 % ergeben)
35 % erlebten Schläge mit dem Rohrstock

Erhebung C
14 % erlebten nie Schläge in ihrer Familie
86 % erlebten Schläge
22 % aller Züchtigungen erfolgten mit dem Rohrstock (Achtung: Nicht 22 % aller Befragten erlebten dies, die Angaben des Autors sind hier anders als unter A und B)

Erhebung D (Alter 15,5 bis 20 Jahre)
Falls sie mal „etwas ausfressen“ müssen 13 % damit rechnen, Schläge auf den Hosenboden zu bekommen, 14 % gaben keine Antwort, 73 %rechneten nicht mit Schlägen
82 % meinten, dass Schläge „unter vier Augen“ nicht entehrend wären
71 % hielten elterliche Strenge in der Erziehung für notwendig.
36 % meinten, dass – im Ausnahmefall – Schläge richtig und wirksam sind (die meiste Zustimmung kam dabei von denjenigen, die selbst zu Hause mit Schlägen rechneten oder in deren Familie ein Rohrstock breitgehalten wurde.)

Erhebung E1
80 % der 8 Jahre alten Jungen erlebten Schläge
80 % der 11 Jahre alten Jungen erlebten Schläge
52 % der 14 Jahre alten Jungen erlebten Schläge
Die 16 Jährigen Jungen schwiegen sich über aktuelle Gewalterfahrungen aus, insofern kamen nur frühere Erfahrungen zur Sprache:
98 % erlebten Schläge im Alter von 10 Jahren (Anmerkung: Diese Zahl hält Hävernick auf Grund des „mitreißenden Gruppengeistes“ nicht für glaubhaft.)
60 % erlebten Schläge im Alter von 12 Jahren
44 % erlebten Schläge im Alter von 14 Jahren
(Nach Angaben der Lehrer waren die 16Jährigen bei den Angaben zu den Gewalterfahrungen im Alter von 14 Jahren sehr zurückhaltend, insofern werden hier höhere Zahlen vermutet. )

 Erhebung E2
62 % der 8 Jahre alten Jungen und Mädchen  erlebten Schläge 
72 % der 9 Jahre alten Jungen und Mädchen  erlebten Schläge
80 % der 11 Jahre alten Jungen und Mädchen erlebten Schläge
32 % der 14 Jahre alten Jungen und Mädchen erlebten Schläge
(Anmerkung: Wie wir heute wissen werden Jungen i.d.R. häufiger körperlich bestraft als Mädchen, dies erklärt wohl auch die im Vergleich zu E1 etwas anderen Zahlen für E2, da hier auch Mädchen in der Klasse saßen. Außerdem werden Befragungen in Klassen mit beiden Geschlechtern aus Schamgefühlen heraus evtl. andere Ergebnisse bringen.)
Von allen Züchtigungen wurden mit dem Rohrstock vollzogen (Zahlen nur für die Jungen):
40 % bei den 8 Jahre alten Jungen
54 % bei den 9 Jahre alten Jungen
13 % bei den 11 Jahre alten Jungen
11 % bei den 14 Jahre alten Jungen

Hävernick hat zusätzlich zu den „Schlägen“ (allgemein) und dem Schlagen mit einem Rohrstock andere „Züchtigungsgegenstände“ aufgeführt;  z.B.:
Ein „Ausklopfer“ wurde in 3 % (Erhebung A), 7 % (Erhebung B) und in 6 % (Erhebung E2) der Fälle von erfassten Züchtigungen benutzt.
Eine Peitsche wurde in 16 % (Erhebung A), 6 % (Erhebung B) und in 1,3 % (Erhebung E2) der Fälle von erfassten Züchtigungen benutzt.
Ein Riemen wurde in 1 % (Erhebung A), 7 % (Erhebung B) und in 1,3 % (Erhebung E2) der Fälle von erfassten Züchtigungen benutzt
Ein Kochlöffel wurde in 0 % (Erhebung A), 7 % (Erhebung B) und in 37 % (Erhebung E2) der Fälle von erfassten Züchtigungen benutzt

Verteilung: Väter und Mütter als Strafende:
Erhebung A: Väter: 39 % / Mütter: 61 %
Erhebung B: Väter: 31 % / Mütter: 69 %
Erhebung C: Väter: 40 % / Mütter: 60 %
Erhebung D:  ?
Erhebung E1: Väter: 34 % / Mütter: 66 %
Erhebung E2: Väter: 39 % / Mütter: 61 %


Analyse der Karikaturen in den „Fliegenden Blätter“
Für die Zeit vor 1910 konnte Hävernick logischerweise keine Daten mehr erfragen. Insofern wertete er Karikaturen aus den sogenannten „Fliegenden Blättern“ aus.  Da diese Blätter überall in Deutschland gelesen wurden und „deshalb in vielem auf die Psyche aller deutschen Stämme Rücksicht nahmen, können die daran zu machenden Beobachtungen ungefähr für die Verhältnisse in ganz Deutschland von Wert sein.“ (S. 58) Züchtigungen in den Bildern kamen in einem Spitzenwert im Jahr 1879 vor, der Wert sank dann bis 1899 stetig ab, um danach wieder leicht auf ca. das Niveau von 1869 anzusteigen. In seinem Buch hat der Autor hinten etliche dieser Bilder aufgeführt, die einen wirklich erschauern lassen (was der Autor übrigens nicht in dieser Hinsicht kommentiert, da ihn einfach nur die "Sitte" interessiert). Dass diese gewaltvollen Bilder, in denen Erwachsene hilflose Kinder durchprügelten,  damals offensichtlich als  belustigende Satire und Unterhaltung (und wohl auch Normvorgabe) gesehen wurden, lässt meiner Meinung nach Rückschlüsse auf das damalige emotionale Leben zu.
Besonders interessant ist, dass die Karikaturen, in denen Züchtigungen von Lehrlingen vorkamen, ab 1899 komplett verschwanden. Dazu passen reale gesellschaftliche Entwicklungen, wie das am 1. Januar 1900  im Bürgerlichen Gesetzbuch ausgesprochene Verbot von Züchtigungen des Dienstherrn gegenüber dem Gesinde. (vgl. wikipedia, „Körperstrafen“ ). Obwohl Lehrlinge noch bis 1951 dem Züchtigungsrecht des Lehrherren unterworfen waren, zeugen die gesetzlichen Entwicklungen von einer abnehmenden Toleranz und Praxis bzgl. der Züchtigung von Untergebenen in der Arbeitswelt, was wohl auch seinen Ausdruck im Verschwinden der Karikaturen fand.

Zustimmung der Eltern zu Körperstrafen durch Lehrer:
Hävernick hat dazu nicht selbst geforscht, er zitiert allerdings Umfragen, die er in seine Analyse miteinbezieht (und er fand diese offensichtlich so wichtig, dass die regionalen Unterschiede sogar in einem SPIEGEL Artikel, in dem die Studie vorgsetllt wurde, mit erwähnt wurden; vgl. DER SPIEGEL, 22.04.1964, „Züchtigung durch Mutter“). Eine Umfrage aus dem Jahr 1960 ergab, dass sich die Eltern in Westberlin zu 68 % für das Züchtigungsrecht des Lehrers bzw. die Prügelstrafe aussprachen, in Süddeutschland 57 %, in Westdeutschland 43 % und in Norddeutschland 41%. (vgl. S. 55) Er zitiert zusätzlich eine Umfrage aus dem Jahr 1955 in Westberlin, die – wohl auch auf Grund der Fragestellung - noch einmal höhere Zustimmungsraten ergab. Z.B. wollten 85 % der Berliner dem Lehrer die Züchtigung zwar nicht als regelmäßiges Erziehungsmittel, aber als ultima ratio zugestehen.
Wenn man von einem Zusammenhang zwischen elterlicher Züchtigung und der Zustimmung zur schulischen Züchtigung ausgeht, dann wäre Norddeutschland bzw. Hamburg auch im häuslichen Bereich damals die gewaltfreiste deutsche Region gewesen. Demnach wären die oben festgestellten – bereits erschütternden - Ergebnisse zum häuslichen Gewaltvorkommen in Hamburg die niedrigsten deutschen Werte und in anderen Regionen – vor allem in Berlin – wäre am meisten geschlagen worden! Dies ist natürlich Spekulation, allerdings wird deutlich, dass die ermittelten Werte aus den Hamburger Befragungen zumindest die realen Mindestwerte auch für den Rest Deutschlands nachweisen.

Besprechung und Kritik 

Für mich am interessantesten sind die Zahlen der Erhebung A (1910/1939), da diese Generation am Krieg beteiligt war. Diese Generation verzeichnet auch die meisten Schläge (89 %; + 4 % „planlose Züchtigungen“) und die heftigsten Formen (49 % erlebten Schläge mit dem Rohrstock; eine Peitsche wurde in 16 % der Fälle bezogen auf alle Züchtigungen angewandt) In dem o.g. SPIEGEL Artikel, der sich mit dieser Studie befasste, wurde zudem auf folgenden Punkt hingewiesen: „Die Qualität des beliebtesten Hilfsmittels, des Rohrstocks, hat mit der konservativen Schlag-Tradition nicht Schritt gehalten: Hävernick fand heraus, dass seit 1939 nur noch sogenanntes Halbglanzrohr verfügbar ist, dessen "durchziehende Wirkung" und Lebensdauer im Gegensatz zum früher benutzten Vollglanzrohr geringer ist.“ Entsprechend schmerzhafter waren die Schläge mit dem Rohrstock, der vor 1939 verwendet wurde. Diese Studie stützt also die Arbeit von Lloyd deMause (und er hat sie in seinen Arbeiten auch zitiert), der ein hohes Ausmaß diverser Formen von Gewalt gegen Kinder im Deutschen Reich um 1900 nachgewiesen hat, um daraufhin die späteren kriegerischen Entwicklungen und vor allem auch die NS-Zeit zu erklären.

Dementgegen lässt sich ein Trend des Gewaltrückgangs in den 60er Jahren feststellen und noch deutlicher ein Trend bzgl. der Abnahme der Strafen mit einem Rohrstock oder einer Peitsche. Historisch ist dies ein wichtiger Punkt im Verlauf der langsamen, „leisen“ Revolution, deren Ziel die komplett körperstraffreie Kindheit in Deutschland ist. Kurz nach Veröffentlichung der besprochenen Studie erfolgte Anfang der 70er Jahre der nächste bahnbrechende Schritt: Das Verbot jeglicher Züchtigungen von Schülern an Schulen.
Hävernick wird im SPIEGEL zitiert, wie er auf die Ergebnisse seiner Studie reagiert: "Wir waren platterdings plattgewalzt." Ich dachte daraufhin, dass dieser Forscher ein Herz für Kinder hatte und dass sein Buch eine Anregung dafür sein sollte, Kinder vor Gewalt zu schützen. Wer sein Buch ließt wird eines Besseren belehrt. Schon im Klapptext ist zu lesen: „Hier geht es um das, was Sitte ist – und wie im Rahmen dieser Sitte das häusliche Strafrecht „unter vier Augen“ gehandhabt wird. (…) Was die „Sitte“ den Eltern rät, kann normalerweise niemals den jungen Menschen in seiner Gefühlswelt oder in seiner Stellung zur Umwelt schädigen.“ Diesem Grundsatz bleibt der Autor im Buch treu. Er sieht keinen schädlichen Einfluss der Schläge (außer wenn sie als Kindesmisshandlung vorkommen, was er für selten hält;  Schläge inkl. mit Rohrstock sind für ihn ja auch keine Misshandlungen...) Ganz im Gegenteil: Hävernick vermutet sogar einen Zusammenhang zwischen dem Rückgang von Körperstrafen und einem gewissen Anstieg der Jugendkriminalität. (vgl. u.a. S. 58)
 
In seinem Schlusswort wird er noch mal deutlich: „Wenn man in Unkenntnis die „Munt“ (Anmerkung: Althochdeutsch für Vormund) im menschlichen Bereich als „autoritär“ beschimpft und darauf abzielt, auch hier „freiheitliche“ Gesinnung einzuführen, so würde das zu einer Verwahrlosung und Verelendung des hilflosen Nachwuchses führen. (…) Darum ist es reine Theorie, wenn man sich vorzustellen versucht, was geschehen würde, wenn es wirklich zu einem schnellen und gänzlichen Erlöschen der Sitte käme, ohne dass eine ähnliche Kraft an ihre Stelle träte. Ein solcher schrankenloser Individualismus würde für den Menschen (…) eine Katastrophe unbegrenzten Ausmaßes sein: ohne Rückhalt in einer Gemeinschaft seinesgleichen würde er im Kampf aller gegen alle sich gegenseitig ausrotten.“ (S. 159) Nun, nachdem die „Sitte“ der Gewalt gegen Kinder immer mehr zurückging und weiterhin zurückgeht, ist Deutschland immer friedlicher geworden, und wir sind weit davon entfernt, hierzulande einen Kampf aller gegen aller zu führen oder gar auf dem erneuten Weg zum totalitären Staat zu sein. Hävernicks Sicht auf die "Sitte" des Schlagens, die sicherlich viele Menschen seines Jahrgangs (er wurde 1905 geboren) geteilt haben, ist auf eine Art auch ein wichtiges zu analysierendes Detail dieser Studie. Sein fehlendes Mitgefühl für die geprügelten Kinder spricht Bände. Auch Brävernick wird wohl einst ein geschlagenes Kind gewesen sein, das seine Eltern idealisierte und dieser Idealisierung auch noch im hohen Altern treu blieb. Ein ganz klein wenig tauchte die Wut und Empörung bei ihm an einer Stelle des Buches auf, die gleichzeitig auch belegt, dass seine Mutter sicher nicht unbedingt herzlich mit ihm umgegangen war. Er behandelte zunächst die Frage, ob man vor 1910 überhaubt verlässliche Daten hätte bekommen können, da die Erinnerungen der Alten nicht mehr ganz zuverlässig und objektiv seien. In der Fußnote hängt Hävernick dann an: "Aus Unterhaltungen mit meiner Mutter, die fast 92 Jahre alt ist, weiß ich, wie weitgehend alles Unangenehme und Schwierige aus den frühen Erinnerungen weggewischt worden ist. Sie sieht die Jugendzeit ihrer Söhne nur noch als Idealbild." (S. 57)



 
 
 

Mittwoch, 25. April 2012

Geheimdienst weiß um die Kindheiten von Diktatoren


Jerrold M. Post war Chef der psychologischen Abteilung des C.I.A. und analysierte das Seelenleben der Diktatoren. (merkwürdigerweise gibt es kein Wikipedia Eintrag über Post). In einem NEON-Interview aus dem Jahr 2004 sagte er: „Männer wie Hussein, Bin Laden oder Kim Jong II schleppen ihre psychischen Störungen seit der Kindheit mit sich herum. (…) ein weit verbreitetes Problem bei Diktatoren und anderen Fieslingen: eine traumatische Kindheit. (…) Wir bekamen Unterlagen von den Geheimdiensten, werteten Biografien und Artikel aus, führten tausende Interviews mit Leuten, die den jeweiligen Führern begegnet waren. So erstellten wir Psychogramme.

Post ist mir von seiner Art und dem ersten Eindruck her nicht wirklich sympathisch, aber das nur nebenbei. Der US- Geheimdienst weiß also um die psychische Lage und die Kindheiten von Diktatoren. Zumindest steht das Wissen zur Verfügung. Das alles ist natürlich nicht wirklich geheim. Man könnte genausogut auch in den nächsten Buchladen gehen und sich Bücher von Lloyd deMause oder Alice Miller kaufen, man käme zu den selbigen Schlussfolgerungen. Der US-Geheimdienst hat sicherlich nicht ein Interesse an diesen Dingen, um daraufhin Kinderschutzprogramme zu starten oder die Welt zu verbessern, sondern um psychologisches Wissen für politische Zwecke zu miss… äh gebrauchen und sich Vorteile zu verschaffen.

Das Problem ist letztlich also nicht das fehlende Wissen um die tieferen psychischen Abgründe, sondern der mangelnde Wille, auf Grund dieses Wissens weitgehende Präventionsprogramme zu starten. Das Magazin „NEON“ als Ableger vom Stern ist ja auch ein sehr kleines Magazin und ein Interview ist eh nur ein Interview. Diese Dinge und Zusammenhänge müssten eine größere mediale Bühne bekommen und eine wochenlange Mediendiskussion (ähnlich wie z.B. nach den Skandalen um den Missbrauch in Kirchen) auslösen, um zum Einen ein öffentliches Bewusstsein zu schaffen und zum Anderen den politischen Druck zu erzeugen, der notwendig ist, um Maßnahmen und Präventionsprogramme zu starten. Auf diese Mediendiskussion warte ich schon lange, ich bin aber sicher, dass sie irgendwann kommen wird. Und dabei wird nicht nur auf die Kindheiten von Diktatoren einzugehen sein, sondern auch auf die (vor allem auch im historischen Rückblick) traumatisierten Massen, die diese Diktatoren stützten oder sich ohnmächtig unterwarfen, mitliefen, schwiegen, aushielten.

Samstag, 21. April 2012

Von der Notwendigkeit der emotionalen Abrüstung

Im aktuellen „Amnesty Journal“ (04/05 2012) ist das Thema Waffenhandel Titelthema („Für eine kugelsichere Waffenkontrolle“). Waffenkontrollen sind in der Tat wichtig und da Deutschland der drittgrößte Waffenexporteur ist, müssen vor allem auch wir Deutschen da genau hinschauen und für bessere Kontrollen oder bestenfalls ein komplettes Verbot von Waffenexporten einstehen. Wer keine Waffen hat, wird diese auch nicht einsetzen können. Insofern schützen Waffenhandelskontrollen evtl. in der Tat ein Stück weit Menschenleben. Aber: Der Mensch, der den Waffeneinsatz befiehlt und der Mensch, der in zivilen und politischen Konflikten mit ihnen tötet, muss vor allem eines sein: Emotional bewaffnet.

Der AI Bericht regte mich insofern dazu an, diesen erdachten Begriff - „emotionale Bewaffnung“ - etwas weiter zu besprechen, denn er bringt vieles auf den Punkt. Ich werde zukünftig öfter diesen Begriff benutzen und mich dann auf diesen Text beziehen. Einen Satz im Amnesty Journal auf Seite 23 möchte ich zunächst einmal zitieren:
"Systematische Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen, Mord, Vergewaltigungen und schwerwiegende Verletzungen sind seit Jahren die fatale Folge eines unverantwortlichen und häufig unkontrollierten weltweiten Rüstungshandels."
Dieser Satz blendet komplett den handelnden Akteur und dessen emotionale Lage aus. Insofern tausche ich hier einmal das Wort „Rüstungshandel“ in meinem Sinne aus:
„Systematische Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen, Mord, Vergewaltigungen und schwerwiegende Verletzungen sind seit Jahren die fatale Folge der weltweit extrem weit verbreiteten Misshandlung von Kindern und deren emotionaler Aufrüstung.“
Der Begriff der „emotionalen Bewaffnung“ ist insofern auch besonders gut geeignet, das Thema zu besprechen, weil eine „Bewaffnung“ nicht automatisch auch einen „Waffeneinsatz“ bedeutet. Die „emotionale Bewaffnung“ sind dabei alle Gefühle von Hass, Wut, Rache, Ohnmacht, Ekel usw. aber auch Empathie, die ein misshandeltes Kind abspalten muss, um psychisch und physisch zu überleben. (siehe dazu z.B. Arbeiten von Arno Gruen, vor allem das Buch „Der Fremde in uns“) Diese abgespaltene Ecke in der Psyche des später erwachsenen Menschen, in der all die kindlichen Ohnmachtserfahrungen versteckt wurden, ist das eigentlich potentiell gefährliche.

Ein emotional reifer Mensch, der keinerlei Gefühle als Kind abspalten musste, weil er Liebe und Fürsorge und keine elterliche Gewalt erfahren hat, ist dagegen gänzlich „emotional unbewaffnet“ (was nicht heißt, dass er nicht aggressiv werden kann, was allerdings eine andere Kategorie als Gewalt und Mord darstellt). Man kann ihm real ein Messer, ein Gewehr oder sonst eine Waffe in die Hand drücken, man kann ihm mit der „Waffe“ Ideologie kommen, er wird sie nicht nutzten, um Macht der Macht willen zu gewinnen, um andere zu quälen, gezielt zu unterdrücken oder um Menschen sonst etwas Grausames anzutun. Auch der als Kind misshandelte und somit emotional bewaffnete Mensch wird logischerweise nicht automatisch zum Gewalttäter und Mörder, wenn er eine reale Waffe in der Hand hält oder ideologisch angegangen wird. Ein solcher Mensch kann sogar sein ganzes Leben lang nicht eine einzige Straf- oder Gewalttat vollbringen oder auch menschenfreundlich handeln. Das ist nicht der Punkt. Aber, er ist unter Umständen – wenn er gereizt und emotional erregt wird, unter gesellschaftlich schwierigen Bedingungen, unter der Kuppel einer um sich greifenden Ideologie, durch Manipulation und Einflussnahme durch Autoritäten, begünstigt durch Gruppenprozesse usw. - in der Lage, diese „emotionale Bewaffnung“ zu nutzen, da er in sein abgespaltenes Alter Ego wechseln kann, in dem es keine Gefühle und kein Mitgefühl gibt, sondern nur das Funktionieren, den Terror, Hass und Freund-/Feindschemata.

Die emotionale Bewaffnung, die in der Kindheit durch meist elterliche Gewalt beginnt und sich lebenslang auswirkt, ist das eigentliche Problem der Menschheit. Je mehr Gewalt als Kind erlebt wurde und je schwerer die Formen der Gewalt waren, desto emotional aufgerüsteter ist der einzelne Mensch (und so mancher, der voller Ohnmachts- und Gewalterfahrungen ist, wird ggf. auch gezielt nach realen Waffen und „Gründen“ zur Bekämpfung anderer Menschen suchen). Darum plädiere ich in diesem Blog immer wieder für eine „emotionale Entwaffnung“, für ein weltweites, umfassendes Kinderschutzprogramm (was immer auch ein Elternförderungsprogramm sein muss), in das alle erdenklichen Ressourcen gesteckt werden. Aber auch Psychotherapie kann emotional entwaffnen (sofern der einzelne Mensch diese Angebote nutzen möchte), insofern müssen weltweit parallel zum Kinderschutz viele Mittel in die psychosozialen und therapeutischen Betreuungsangebote gesteckt werden. Die internationale Gemeinschaft müsste also einen umfassenden Plan zur emotionalen Abrüstung erstellen. Die Mittel wären alle mal besser in diesem Sinne angelegt, als in realer Waffenaufrüstung und in Militärausgaben. Wir befinden uns dabei bereits in einer sich beschleunigenden Phase der weltweiten emotionalen Abrüstung, da weltweit ein deutlicher Rückgang der Gewalt gegen Kinder zu verzeichnen ist. Dieser Rückgang der Gewalt gegen Kinder muss und kann allerdings noch erheblich beschleunigt werden. Auch wenn mir natürlich klar ist, dass mein kleiner Blog nur wenig erreicht, so tut es mir persönlich einfach gut, diese Zusammenhänge und Ziele auszusprechen..

Samstag, 14. April 2012

Gewalt gegen Kinder in Guatemala und El Salvador

Und ein Plädoyer für ein Kinderschutzprogramm zur emotionalen Entwaffnung.

Im aktuellen „amnesty journal“ wurde ich auf eine Statistik bzgl. der 30 gefährlichsten Länder der Welt aufmerksam. Diese Statistik ist noch etwas umfassender in der Originalquelle online zu sehen. Das gefährlichste Land der Welt ist momentan El Salvador, in dem über 60 Menschen auf 100.000 Einwohner pro Jahr durch Gewaltanwendung umkommen. (Beispiel: In Hamburg mit seinen ca. 1,8 Mio Einwohnern würde dies bedeuten, dass pro Jahr weit über 1080 Menschen ermordet würden. Laut Hamburger PKS sind 2011 real 39 Menschen getötet worden.) Insofern interessierte ich mich für die Situation der Kinder vor Ort. Nach ca. 5 Minuten Internetrecherche fand ich auch gleich eine Studie zum Gewaltaufkommen gegenüber Kindern in diesem Land und in Guatemala, das in der Rangliste auf dem 7. Platz der gefährlichsten Länder steht:
Speizer IS, Goodwin MM, Samandari G, Kim SY, Clyde M. Dimensions of child punishment in two Central American countries: Guatemala and El Salvador. Rev Panam Salud Publica. 2008;23(4):247–56.; http://www.scielosp.org/pdf/rpsp/v23n4/v23n4a04.pdf

In Guatemala (Befragung 2002) und El Salvador (Befragung 2002-2003) wurden 15 – 49 Jahre alte Frauen (Guatemala: 8.860; El Salvador: 9.430) und 15 – 59 Jahre alte Männer (Guatemala: 2.459; El Salvador: 1.255) repräsentativ und per Interview bzgl. Gewalterfahrungen in der Kindheit befragt. Dabei ging es nur um Gewalt und Bestrafungen, die durch Elternteile ausgeübt wurden, entsprechend fallen andere Gewaltkontexte z.B. in der Schule, in Heimen oder Gewalt durch andere Verwandte raus.

Ausgewählte Ergebnisse:

Keinerlei Art von Bestrafungen erlebten in
Guatemala: 20,7 % der Frauen und 7 % der Männer
El Salvador: 44,3 % der Frauen und 23,9 % der Männer

Verbal bestraft/gescholten wurden in
Guatemala: 63,4 % der Frauen und 78,3 % der Männer
El Salvador: 18,2 % der Frauen und 9,4 % der Männer

Verbrennungen erlebten in
Guatemala: 1 % der Frauen und 1 % der Männer
El Salvador: 0,8 % der Frauen und 0,2 % der Männer


Vorweg Hinweis zur körperlichen Gewalt:

Im Englischen und auch in dieser Studie wir zwischen „spanking“ und „beating“ unterschieden. „Spanking“ entspricht im Deutschen „Züchtigungen“. Also Klapsen, leichten Ohrfeigen, etc. mit einem „erzieherischen“ Ziel, um unerwünschtes Verhalten zu bestrafen. „Beating“ meint schwerere Gewaltformen, die bei uns der Misshandlung entsprechen. Also Gewalt, die (neben den seelischen) auch körperliche Verletzungen des Kindes zur Folge hat bzw. wo diese möglichen Folgen in Kauf genommen werden. In El Salvador war „beating“ definiert als Schläge mit einem Gegenstand wie Gürtel, Stock oder Kabel, was eine besonders schwere Form der Gewalt darstellt. Für Guatemala war „beating“ einfach als „beating“ definiert.

Was besonders verwundert ist, dass in Guatemala „spanking“ erfragt wurde, in El Salvador aber nicht. Sehr unlogisch, wie ich finde, denn man wollte doch eigentlich diverse Gewaltformen erforschen. Die Autoren der Studie weisen explizit darauf hin, dass in El Salvador weniger der Befragten angegeben hätten, dass sie niemals bestraft wurden, wenn auch die Züchtigungen und zusätzlich der Punkt „Aus dem Haus geworfen“ mit einbezogen worden wäre. Insofern macht es Sinn, sich beim Ländervergleich auf das „beating“ (Misshandlungen) zu konzentrieren.

Misshandlungen/Schläge („beating“) erlebten in
Guatemala: 35,3 % der Frauen und 45,7 % der Männer

Schläge mit einem Gegenstand wie Gürtel, Stock oder Kabel erlebten in
El Salvador: 41,8 % der Frauen und 61,9 % der Männer

Körperliche Züchtigungen („spanking“) erlebten in
Guatemala: 21 % der Frauen und 19,6 % der Männer
El Salvador: keine Daten vorhanden


Anmerkungen zu der Kategorie Misshandlungen („beating“):

Ein Großteil der Befragten war zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 15 und 24 Jahre alt. (Guatemala: 43,3 % der befragten Frauen und 40,3 % der Männer; El Salvador: 40,9 % der befragten Frauen und 36,5 % der Männer) Diese Alterskohorte hat allerdings auch am wenigsten Gewalt erlebt: Guatemala: 30,1 % der befragten Frauen und 41,95 % der Männer; El Salvador: 35,1 % der befragten Frauen und 55,9 % der Männer. Die älteren Jahrgänge (also die Personen, die derzeit in den beiden Ländern politische, ökonomische und soziale Macht besitzen!) haben tendenziell mehr Gewalt erlebt (was auch Studien aus anderen Ländern regelmäßig nachweisen.). Dies muss man in die Analyse bzgl. der dortigen Gesellschaften mit einbeziehen.

Die Studie zeigt auch, dass es einen besonders großen Rückgang der Gewalt in der jüngsten Altersgruppe der 15 bis 19jährigen gibt. Misshandlungen erlebten in dieser Gruppe in Guatemala: 31,1 % der befragten Frauen und 38,7 % der Männer; El Salvador: 32,2 % der befragten Frauen und 47,7 % der Männer. Vergleicht man diese Zahlen mit den o.g. Durschnittwerten oder schaut direkt in der Studie auf die Tabelle 3 dann wird deutlich, dass es mit dieser neuen Generation einen deutlichen Trend bzgl. der Abnahme von Gewalt gibt. Trotzdem sind die Zahlen bzgl. schwerer Gewalt im internationalen Vergleich immer noch sehr hoch. Die jüngere Generation ist allerdings ein großer Hoffnungsträger für diese Region. Je weniger Gewalt sie erlebt, desto höher sind die Chancen, dass sich die beiden Länder weiterentwickeln und auch die politische Gewalt und die Kriminalität zukünftig rückläufig sein könnte.

In Guatemala wurde zudem eine gesonderte Befragung mit einer etwas kleineren Gruppe, die selbst Kinder unter 18 Jahren haben, durchgeführt. Von den Frauen berichteten 38,9 % von eigenen Misshandlungserfahrungen, aber nur 26,1 % sagten, dass sie auch ihre eigenen Kinder misshandelt hätten. Von den Männern berichteten 51,1 % von eigenen Misshandlungserfahrungen, aber nur 20,3 % sagten, dass sie auch ihre eigenen Kinder misshandelt hätten. Es besteht also wirklich Grund zu Hoffnung für diese Region, nicht kurzfristig, aber langfristig.


Fazit:

In Mord und politischer Gewalt sind weltweit, auch in Südamerika, stets die Männer führend. Schwere körperliche Elterngewalt erleben in Guatemala (fast jeder zweite) und El Salvador (fast 2/3) Männer signifikant häufiger als die Frauen, aber auch die Frauen erleben schwere körperliche Elterngewalt im internationalen Vergleich relativ häufig. Man kann von Gesellschaften, in denen ein so hoher Prozentsatz misshandelt wird, nicht erwarten, dass sie auch auf der politischen Bühne oder im Alltag besonders friedlich, tolerant und respektvoll agieren. Man kann aber erwarten, dass die internationale Gemeinschaft diese Zusammenhänge erkennt und in solchen Regionen (in Abstimmung mit den dortigen Regierungen und Menschen) gezielt und großflächig Kinderschutzprogramme durchführt. Dadurch würde man innerhalb eines überschaubaren Zeitraumes die gefährlichsten Länder der Welt zügig emotional entwaffnen.

Freitag, 13. April 2012

Elterliche Gewalt als Gradmesser für den seelischen Entwicklungsstand einer Gesellschaft

Die Journalistin Caroline Fetscher hat kürzlich für den Tagesspiegel die Gewalt-Studie der Zeitschrift „Eltern“ kommentiert (was ich im vorherigen Beitrag auch gemacht habe). Der letzte Teil ihres Textes regte mich noch mal zu einem Gedanken an. Hier zunächst die Textstelle:

Herabwürdigung, Sarkasmen, Grobheit selbst gegenüber kleinen Kindern gelten häufig noch als „normal“. Denn Minderjährige, die sich ihrer Rechte nicht bewusst sind, die nicht über den Kosmos der Familie hinausschauen können, eignen sich gut als Blitzableiter der Erwachsenen, je kleiner sie sind, desto besser. An ihnen lassen sich Frustrationen, Ärger, Stress abreagieren, hier kann man anraunzen, losbrüllen, zuschlagen, ohne dass es, wie unter Erwachsenen, Konsequenzen hätte. (…) Nichts entschuldigt die Vergehen: Sie sind Symptome einer seelisch unreifen Gesellschaft.

Die meiste Gewalt erleben kleine Kinder, was auch die o.g. Studie zeigte. Die Gewalt scheint am häufigsten vor der Einschulung ausgeübt zu werden. In kaum einer Lebenslage wird das Machtungleichgewicht so deutlich, wie zwischen einem erwachsenen Elternteil und einem 2 bis 6 Jahre alten Kind (oder auch dem Säugling). Diese Gewalt ist seit Jahrtausenden so „normal“, dass wir erst heute mit einem wirklichen Erschrecken und großer Empörung darauf schauen können. (und noch heute diskutieren die Menschen ernsthaft das Für und Wider einer körperlichen Züchtigung gegenüber Kindern z.B. in Kommentarbereichen für entsprechende Medienartikel, was so kaum bzgl. anderer Gewaltdelikte denkbar wäre oder toleriert würde.) Es gibt kaum ein feigeres, gemeineres und unreiferes Verhalten als Gewalt gegen ein Kind, vor allem auch gegen das noch sehr kleine Kind. Es ist eine Ungeheuerlichkeit und nicht zu rechtfertigen! In diesem Blog habe ich viel über die Folgen der Gewalt geschrieben, vor allem auch über Gewaltverhalten auf Grund eigener Gewalterfahrungen.

In diesem Text geht es mir heute mal um etwas ganz anderes. Denn die Gewalt gegen Kinder als solche ist ja bereits hinreichend belegt, sie ist da, sie ist nachweisbar und sie ist nachweisbar besonders weit verbreitet und besonders schwerwiegend in der Ausformung in vielen Krisenregionen dieser Welt. Wer nicht an die gesamtgesellschaftlichen Folgen der Gewalt gegen Kinder glauben will oder kann….gut, der wird viele Antworten verpassen. Aber er wird nicht die Zahlen wegradieren können. Die Welt war und ist voller seelisch unreifer Erwachsener (danke an Frau Fetscher für diese Wortwahl), die ihre Kinder schlagen, niederbrüllen, vernachlässigen, missbrauchen. Diese belegte Gewalt an sich ist bereits ein gewichtiger Beleg für das Gewaltpotential einer Gesellschaft insgesamt.

Wer als Erwachsener, vor allem auch als Elternteil, ein kleines Kind misshandelt, der ist unter Umständen auch in anderen Situationen fähig, Gewalt anzuwenden und ohne Mitgefühl zu agieren, der kann Moral beiseite schieben. Wer als Erwachsener ein kleines Kind misshandelt, der hat dadurch bereits Zeugnis darüber abgelegt, welche hasserfüllte, kalte und destruktive Seite in ihm oder ihr existiert (und diese ist um so dunkler, je heftiger das Gewaltverhalten gegen das Kind ist). Diese Seite muss natürlich nicht zwangsläufig in anderen Kontexten zum Vorschein kommen, aber sie kann, das ist der Punkt. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese dunkle Seite politisch hervortritt, steigt, wenn der gesellschaftliche Rahmen, soziale Konflikte und die gesellschaftlichen Entwicklungen diese Täterseite quasi wecken und gegen ein Ziel richten.

Insofern ist das Gewaltaufkommen gegen Kinder ein enorm wichtiger Gradmesser für die (mögliche) Destruktivität von Gesellschaften, nicht nur bzgl. der Folgen, die ich hier in diesem Blog hauptsächlich bespreche, sondern auch bzgl. der (vor allem innerfamiliären) Gewalttäter an sich, die durch Gewaltstudien als solche deutlich identifiziert werden. Wenn z.B. Anfang des 20. Jahrhunderts im Deutschen Reich 89 % aller Kinder geschlagen wurden, über die Hälfte sogar mit Ruten, Peitschen oder Stöcken (vgl. deMause 2005 S. 146f), dann verwundert es nicht, dass diese eiskalten Schläger auch politisch zu extremen Grausamkeiten (dabei auch extrem feigen Taten, wie der Ermordung von Millionen wehrloser Juden) fähig waren.
Ein deutscher Vater, der im Jahr 1910 vielleicht 25 Jahre alt war und seine Kinder mit einer Peitsche prügelte, der war zu Beginn des ersten Weltkrieges im besten Kampfesalter und 1933 – im Alter von 48 Jahren – vielleicht in einer entsprechenden Position als Offizier, hoher Beamter, Politiker oder sonst eine höheren gesellschaftliche Position, von der aus die Gesellschaft gestaltet werden konnte. Diese Prügelgeneration stürmte in diverse Positionen oder auch in die Kasernen und ermöglichte zwei Weltkriege. Ihre Fähigkeit zur Grausamkeit hatten sie bereits in den heimischen Kinderstuben unter Beweis gestellt. (Und natürlich waren einst auch sie misshandelte Kinder, die die Gewalt später an ihren eigenen Kindern wiederaufführten) Auch heutige aktuelle Gewaltstudien erlauben also einen Blick auf die dunkle Seite einer Gesellschaft. Wo immer noch eine Mehrheit der Kinder von ihren Eltern (schwer) geschlagen werden, dort ist bereits das Destruktionspotential einer Gesellschaft bewiesen worden.

Sich mit der Gewalt gegen Kinder zu befassen, bedeutet, dass man – sofern man offen hinschaut – Antworten auf gesellschaftliche Fragen und Probleme in vielerlei Hinsicht bekommt. Gewalt gegen Kinder erzeugt u.U. auch wiederum politische Gewalt, was ich in diesem Blog ausführlich bespreche. Aber auch die gewalttätigen Eltern müssen als solche in die Gesellschaftsanalyse mit einbezogen werden, da ihr Verhalten etwas über den Entwicklungsstand einer Gesellschaft aussagt.

Mittwoch, 21. März 2012

Gewalt-Studie für die Zeitschrift "Eltern"

Für die Zeitschrift Eltern wurden Ende 2011 1.003 Eltern repräsentativ durch forsa befragt. Ich möchte die wesentlichen Zahlen kurz besprechen.

Insgesamt 60 % der Eltern wendeten nach eigenen Angaben nie Gewalt an.

Kritisch muss man dazu anmerken, dass auch 431 Eltern befragt wurden, die Kinder über 10 Jahren haben. Diese Altersgruppe erlebt meist weniger Gewalt als kleinere Kinder, was auch diese Studie belegt (77% dieser Gruppe erleben keine Gewalt). Wenn man auf die Zahlen bzgl. der kleineren Kinder schaut, dann erleben nur noch ca. 50 % nie Gewalt.

Die Details:

40 % gaben einen Klaps auf den Po innerhalb von 12 Monaten vor der Befragung

davon
28 % 1-2 mal innerhalb von 12 Monaten vor der Befragung
8 % alle paar Monate
4 % alle paar Wochen
1 % alle paar Tage

10 % ohrfeigten ihre Kinder

davon
9 % 1-2 mal innerhalb von 12 Monaten vor der Befragung
1 % alle paar Monate

4 % versohlten den Hintern des Kindes

davon
3 % 1-2 mal innerhalb von 12 Monaten vor der Befragung
1 % alle paar Monate

Mit Stock oder ähnlichem versohlt
0 %

Jungen waren durchweg etwas mehr von Gewalt betroffen, als Mädchen. (was übrigens auch fast alle Gewaltstudien aufzeigen)

Ca. 3/4 der Befragten hatten ein schlechtes Gewissen oder haben sich über sich selbst geärgert, nachdem sie Gewalt angewandt hatten

47 % haben sich häufig nach der Gewaltanwendung bei ihren Kindern entschuldigt und ihnen gesagt, dass sie sie lieb haben

Auch bzgl. psychischer Gewalt wurde einiges erfragt.
19 % brüllen z.B. ihre Kinder nieder, nachdem diese sich unerwünscht verhalten haben
26 % reden nicht mehr mit dem Kind oder ignorieren es, nachdem diese sich unerwünscht verhalten haben

Auch nach den Gewalterfahrungen der Eltern wurde kurz gefragt
46 % der Eltern geben an, dass sie selbst nie als Kind geschlagen wurden. (Wobei die Frage einen gelegentlichen Klaps auf den Hintern ausschließt, was sehr verwundert. Insofern könnten noch einige mehr Gewalt erfahren haben, sofern man den Klaps mit einbezieht)
31 % wurden selten geschlagen
17 % immer mal wieder
5 % regelmäßig


Fazit

Elternbefragungen sind immer etwas anderes als Opferbefragungen. Insofern werden die o.g. Zahlen zum Teil etwas zu korrigieren sein. In vielen Teilen glaube ich den Eltern allerdings. Ich gehe davon aus, dass in der Tat ca. 50 % der Kinder keinerlei körperliche Elterngewalt erleben. Mit einem Stock oder ähnlichem wurde nach Angaben der Eltern kein einziges Kind verprügelt. Diese Zahl glaube ich den Eltern nicht ganz. Hier werden vermutlich die realen Zahlen im einstelligen unteren Prozentbereich liegen (vielleicht 1-2 %) , was zukünftige Opferbefragungen evtl. belegen werden.

Wenn man sich auf die o.g. Zahlen bezieht, dann lässt sich sagen, dass Gewalt gegen Kinder in Deutschland stark abgenommen hat, wenn man Zahlen aus den 50er/60er Jahren oder auch davor zum Vergleich heranzieht. Sofern Gewalt angewendet wird, dann selten und fast die Hälfte der Eltern entschuldigt sich danach sogar häufig. Schwere Formen der Gewalt liegen im Bereich um ca. 10 % oder auch darunter. (Dabei ist schwer einzuschätzen, ob nicht evtl. ein gewisser Prozentsatz der Eltern, die „nur“ einen Klaps angaben, damit auch schwerere Formen verdecken oder auch meinten.)
Wer diesen Blog verfolgt wird die Zahlen und Daten vor Augen haben, die ich z.B. für Indien, Afrika , USA oder auch Kambodscha angegeben habe. Deutschland ist demnach wirklich auf einem sehr guten Weg, auch wenn es immer noch gilt, viele Kinder hierzulande vor Gewalt zu schützen.

Siehe ergänzend auch: Geboren 2012