Sonntag, 26. Februar 2023

„Warum ich Nazi wurde“: Biogramme früher Nationalsozialisten

Ich habe ein sehr interessantes Buch entdeckt:

Giebel, W. (Hrsg.) (2018). „Warum ich Nazi wurde“: Biogramme früher Nationalsozialisten. Die einzigartige Sammlung von Theodore Abel. Berlin Story Verlag, Berlin. 

Das Buch und sein Inhalt werden in einem Artikel vom Deutschlandfunk ausführlich vorgestellt, insofern erspare ich mir eine große Einleitung durch den Link.

Nur kurz: Theodor Abel hat 1934 per Preisausschreiben die Kurzbiografien von etlichen überzeugten Nazis erhalten und gesammelt, die alle vor 1933 Mitglieder der NSDAP waren. 

Das Interessante für mich sind dabei natürlich mögliche Schilderungen über Kindheitshintergründe. Allerdings zeigte sich schnell, dass die meisten biografischen Schilderungen sich bezogen auf die Kindheit rein auf Oberflächendaten beziehen: Geburtsdatum, Geburtsort, Berufe der Eltern, Schullaufbahn, Ausbildung. Für die Akteure, die nur diese Oberflächendaten beschrieben, bleibt die Kindheit im Dunkeln (was auch bedeutet, dass negative Erfahrungen nicht auszuschließen sind). Allerdings haben auch mehrere Akteure Hinweise auf ihre Kindheit geliefert. 

Was mir zunächst immer wieder auffiel, ist der Tod von Vätern (was bei mehr Akteuren der Fall war, als ich unten in meinen Auszügen darstelle). Dies ist bei dieser „Nazi-Generation“ auch kaum verwunderlich, weil viele Väter im Ersten Weltkrieg umkamen. Für die Kinder allerdings ist der Verlust des Vaters eine enorme Belastung. Was mir ergänzend ins Auge fiel (sofern die Akteure Angaben dazu machten), ist die hohe Anzahl an Geschwistern. Viele Geschwister (gepaart mit sehr viel zu erledigenden Arbeiten der Eltern in der damaligen Zeit, was auch einzelne Akteure so berichten) können zumindest auch ein Indiz für Vernachlässigung sein. 

Anbei stelle ich die Akteure vor, für die sich belastende Kindheitserfahrungen andeuten oder sogar belegen lassen. Diese Generation ist nicht gerade bekannt dafür, allzu kritisch über die eigenen Eltern zu berichten oder diesbezüglich deutliche, offene Worte zu finden. Wenn man zwischen den Zeilen liest, wird man aber auch hier manches Mal fündig. 

Dies gilt so z.B. für F. Lüttgens (nach 1900 als Sohn eines Fabrikarbeiters geboren). Über seinen Vater berichtet er: „Ich entsinne mich noch sehr gut, dass wir Kinder ihn nicht allzuhäufig zu Hause gesehen haben, wenn er zu Hause war, so war dieses zu Hause sein auch nichts anderes als Arbeit und Mühe“ (S. 254). Die Mutter scheint ebenso viel beschäftig gewesen zu sein: „Die Mutter war eine brave, ehrliche deutsche Hausfrau. (…) In heisser Liebe arbeitete sie morgens von ½ 5 Uhr bis abends spät für ihren Mann und ihre Kinder“ (S. 254). Lüttgers betont im Nachsatz, wie wichtig Deutschland für die Eltern war. „Naturgemäß“ sei auch bei den Kindern der Same der Vaterlandsliebe gesät worden, ebenso Ehrgeiz und Wissensdurst. Dem fügt er an: „In der Schule machte sich die Art dieser Erziehung sehr bald bemerkbar. Absoluter Glaube an die Autorität des Lehrers gepaart mit gläubigem Vertrauen zu ihm als denjenigen, der die Arbeit von Vater und Mutter zu ergänzen hatte, trat selbstverständlich ein“ (S. 255). Die Art und Weise der Wortwahl kommt geradezu einer untergebenen Lobpreisung der eigenen Erziehung gleich, die der Akteur als sehr gelungen empfindet und nicht in Zweifel zieht. Der absolute „Glaube an die Autorität“ macht mich besonders hellhörig. Wie die Eltern ihre Autorität gegenüber den Kindern durchgesetzt haben, bleibt unserer Fantasie überlassen. 
Ein weiteres Ereignis sticht hervor: Als er zehn Jahre alt war, litt er nach einer Verletzung an einer Blutvergiftung. "Durch diese Blutvergiftung wurde ich fast 2 Jahre lang an das Krankenbett gebunden. Abgeschlossen von allen Spielkameraden war ich die meiste Zeit mir ganz allein überlassen" (S. 256). Ein Großteil dieser Zeit scheint er sogar im Krankenhaus verbracht zu haben, aus dem er 1914 entlassen wurde, wie er berichtet. Für ein Kind eine schwere Belastung, zu der die Trennung von den Eltern noch hinzu kam. 

Der 1893 geborene Fritz Schroner berichtet nur wenig über seine Kindheit. Er sei das siebte von insgesamt acht Kindern gewesen. Dass diese hohe Geschwisterzahl auch Not und wenig Zeit der Eltern für die Kinder bedeutete, führt er selbst aus: "(...) die hungrigen Mäuler zu stopfen, war für die Eltern nicht immer leicht. Und sie mussten wahrlich von früh bis spät tätig sein, um die Familie zu versorgen. Dass auch wir Kinder dabei auch noch im schulpflichtigen Alter je nach unserer Kraft und unserem Vermögen mit Hand anlegen mussten in Haus, Hof, Garten und Feld, war uns nicht immer leicht, aber unbedingt notwendig" (S. 210). Nach dem Ersten Weltkrieg musste er fünf Jahre in Gefangenschaft in Sibirien verbringen. An diesen Jahren wäre er fast zerbrochen. 

Der 1907 geborene Gustav Kohlenberg schreibt: "Von Jugend auf war ich in streng nationalem Geiste im Elternhaus erzogen worden. Das Schicksal hat meine Familie mit schwersten Schlägen bedacht. Nur während der ersten Kinderjahre lebten wir zu Hause in Wohlstand (...) Mein ganzes Leben hat bis heute stets Kampf bedeutet" (S. 236). Sieben Kinder hatte die Familie zu versorgen. Während der Kriegsjahre mussten sie eine schwere Hungerzeit und auch Krankheitswellen überstehen. 

Die Kindheit von dem 1890 geborenen Gustav Heinsch zeigt deutliche Schatten. Er wurde als fünfter Sohn seiner Eltern geboren worden. Allerdings waren alle seine Geschwister vor seiner Geburt verstorben. Wir dürfen annehmen, dass der Tod von vier Kindern diese Eltern extrem belastet und ggf. auch den Umgang mit dem überlebenden Kind geprägt haben wird. Viel Zeit für ihren Sohn hatten die Eltern nicht. Seine Großmutter war hauptsächlich für seine Erziehung verantwortlich, denn: „Meine Mutter musste genau so wie mein Vater vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf dem Gut arbeiten. Trotzdem beide schwer arbeiteten, reichte es gerade zum Notwendigsten“ (S. 344).  Ab dem achten Lebensjahr musste auch Gustav nachmittags arbeiten, zusätzlich zu seinen Arbeiten für die Schule. Die Eltern mussten außerdem arbeitsbedingt häufig umziehen. Gustav besuchte in der Folge fünf verschiedene Volksschulen, was befriedigende Bindungen an Gleichaltrige sicherlich schwierig gestaltete. 

Der Vater des 1868 geborenen Waldemar von Schöler war einst Divisionskommandeur und hatte Kriegserfahrungen. Über seine Erziehung schreibt von Schöler: „In welchen weltanschaulichen Gedankengängen ich erzogen wurde, geht am klarsten aus den Grundsätzen hervor, die mir in meiner Kindheit eingeimpft wurden. Sie gründen sich alle auf die altpreußische, auf Friedrich Wilhelm I. zurückgehende Ideenwelt. Du musst vor allen Dingen stets Deine Pflicht erfüllen, ob es Dir angenehm ist oder nicht, und zwar nicht nur obenhin, sondern mit vollem Einsatz Deiner Person und Deiner Fähigkeiten“ (S. 376). Das Wort „eingeimpft“ möchte ich hier hervorheben. Nach weiteren Ausführungen u.a. über Tüchtigkeit, Gewissenhaftigkeit und Sparsamkeit mit Blick auf seine jungen Jahre kommt dann noch folgender Satz: „Autorität in Staat und Familie galten als die Grundpfeiler menschlicher Ordnung“ (S. 377). Man kann sich entsprechend vorstellen, dass dieser Junge autoritär erzogen worden sein wird, auch wenn er keine konkreten Beispiel dafür gibt. 

Der 1904 geborene Alfred Raeschke zog im Altern von sechs Jahren vom Lande in die Stadt, nach Berlin. Ca. ab dem dritten Kriegsjahr des Ersten Weltkriegs musste die Familie hungern. „Und das Schlimmste: ein Familienleben kannten wir nicht mehr. Alle kannten wir nicht – waren uns immer selbst überlassen. Denn die Frauen mussten ja die Arbeiten der Männer machen, die im Felde standen. (…). So sahen wir den Vater gar nicht, die Mutter aber nur des Abends. Doch dann konnte sie sich uns nicht widmen, weil sie ja das Haus noch zu besorgen hatte und auch müde war von der schweren Arbeit. So wuchsen wir heran, ohne rechtes Familienleben, voller Hunger, tiefe Not erlebend“ (S. 538). Nach der Schulzeit (im Jahr 1917) kam er zunächst in die Lehre. Der Hunger und die Not wurden schließlich so groß, dass die Mutter ihren Sohn aufs Land zu einem Bauern schickte. „15 Jahre war ich nun alt, aber arbeiten musste ich wie ein Erwachsener“ (538). Aber immerhin, er hatte genug zu essen und hatte überlebt. 

Der 1897 geborene G. Goretzki hat keine großen Einblicke in seine Kindheit gegeben. Er schreibt allerdings: „Die Erziehung im Elternhaus war streng, die Jugend trotzdem aber schön und sorgenlos. Vom Vater lernte ich die Tugenden altpreußischen Beamten- und Soldatentums kennen“ (S. 348).
Wie oft schon habe ich Sätze gelesen, in denen die Akteure dieser Zeit rückblickend auf ihre Kindheit blicken, von „Strenge“ in der Erziehung berichten und im gleichen Satz Wörter wie „schön“, „sorgenlose“ oder gar „Liebe“ verwenden? Meiner Auffassung nach ist diese Vermischung beider Ebenen bereits ein Anzeichen für die Folgen der „strengen Erziehung“. Die Strenge wird i.d.R. von dieser Generation nicht kritisiert und sogleich beschönigt. Was bedeutete elterliche Strenge um 1900? Wir können mit hoher Wahrscheinlichkeit auch von Körperstrafen ausgehen! Dass Goretzk durch seinen Vater preußisch-soldatisch erzogen wurde, ist ein weiteres Anzeichen für eine belastete Kindheit. 

Ähnlich wie Goretzk berichtet auch der 1906 geborene Friedrich Christian Prinz zu Schaumburg-Lippe von seiner Erziehung, ohne dabei – wie so oft bei biografischen Darstellungen aus dieser Zeit - ins Detail zu gehen. Der Prinz wuchs in reichen Verhältnissen auf. „Trotz dieser völligen Unabhängigkeit von irgendwelchen materiellen Schwierigkeiten war die Erziehung, die mir zuteil wurde, eine einfache, ja in mancher Weise soldatisch zu nennende, - immer, in allen Fragen des Lebens auf den Staat und das Volk gerichtet, der grossen Tradition einer tausendjährigen Familiengeschichte entsprechend“ (S. 616). Eine „soldatische Erziehung“ wird eine strenge Erziehung mit manchen Belastungen für das Kind gewesen sein. 

Der 1910 geborene Edmnd Dienhart hatte eine mehrfach belastete Kindheit. Als er fünf oder sechs Jahre alt war brach der Erste Weltkrieg aus. Er war das Jüngste von insgesamt sieben Kindern. An einer Stelle schreibt er etwas von einem bzw. seinem „gestrengen Vater“ (S. 592), ohne weitere Details zum väterlichen Umgang mit den Kindern zu schildern.  Als er acht Jahre alt war, starb der jüngste seiner Brüder. Dienhart gibt dem jüdischen Chefarzt, der seinen Bruder operiert hatte, die Schuld am Tod des Bruders. „Da ich meinen verstorbenen Bruder besonders liebte, stieg in mir Achtjährigen mit der Zeit ein Groll auf gegen den Chefarzt und dieser noch nicht recht begreifbare Hass steigerte sich mit meinem Alter zu einem Wiederwillen gegen alles, was jüdisch war“ (S. 592). Infolge einer Kinderkrankheit nahm seine Sehkraft ab dem neunten Lebensjahr stetig ab. Seine jüngste Schwester kümmerte sich in der Folge verstärkt um ihren Bruder. Allerdings musste sie das Zuhause verlassen und er sei ab dann „meist alleine“ gewesen (S. 592). Ab dem zehnten Lebensjahr kam Edmund zu einem Onkel und verlor somit sein gewohntes Familienleben. Innerhalb der folgenden zwei Jahre hatte er wohl mehrere Klinikaufenthalte von jeweils mehreren Wochen zu überstehen. Durch die Behandlungen wurde seine Sehkraft verbessert und kam wieder zurück. 

Der 1910 geborene Paul Matter war vier Jahre alt, als sein Vater im Ersten Weltkrieg fiel. In der Folge wurde er auch von seiner Mutter getrennt und zur Erziehung zu den Großeltern geschickt. Als er acht Jahre alt war, heiratete seine Mutter erneut. Mit seinem Stiefvater scheint er sich nicht gut verstanden zu haben, denn er berichtet: „Als ich meinem 14. Lebensjahr aus der Schule kam, verließ ich sofort das Elternhaus, denn mein Pflegevater, war doch nicht der Vater, der im Weltkriege für´s Vaterland starb“ (S. 680). Er begann dann eine Bäckerlehre in einem anderen Ort. 

Der 1912 geborene Karl Friedrich Nau hat fast nichts aufschlussreiches über seine Kindheit geschrieben und beschreibt nur kurz Eckdaten. Ab dem 14. Lebensjahr ging er in die Lehre und war mit 17 Jahren ausgelernt. Er habe lange ersehnt, danach endlich seinen Heimatort verlassen zu können und weitere Teile Deutschlands kennen zu lernen. Er zog dann auch fort und schreibt: „Bad-Nauheim war für mich etwas anderes als zu Hause, denn wir waren vier Geschwister und es musste in jeder Hinsicht dem väterlichen Willen gefolgt werden. Nun war ich für mich und konnte mich in meinen freien Stunden dem widmen, wonach ich mich sehnte (…)“ (S. 718).
Auch hier erfahren wir wieder keine Details über das väterliche Erziehungsverhalten. Allerdings zeigen seine Ausführung überdeutlich in Richtung autoritäre Erziehung. 

Der 1901 geborene Fritz Keppner berichtet im Grunde nichts über seine Familie und Kindheit. Was mir ins Auge stach war aber, dass er als Dreizehnjähriger (im Jahr 1914) eine Gelegenheit nutzte, um sich heimlich einer Maschinengewehrkompanie an der Front anzuschließen. Erst nach einer Woche fiel dies auf und man brachte ihn zurück. Er versuchte daraufhin erneut an die Front zu kommen, wurde aber aufgegriffen und musste zurück nach Hause. Er berichtet noch, dass er Mitglied der SS war und im Jahr 1930 seine Mutter Waffen versteckte, als die Polizei kam (S. 725f.). All diese Erzählungen deuten auf eine entsprechende Prägung im Elternhaus hin. Als Dreizehnjähriger unbedingt an die Front kommen zu wollen, ist schon bemerkenswert. 

Der 1903 geborene Paul Moschel war das sechste von zwölf Kindern. Das entsprechend wenig Zeit der Eltern für ihn da gewesen sein wird, erschließt sich von selbst. Er selbst formuliert es so: „Da unsere Familie so groß war und meine Eltern keinen Besitz hatten, musste ich mit meinen Geschwistern eine harte Kinderzeit durchmachen, aber die härteste während der Kriegsjahre. Wir waren durch meine guten Eltern echt deutsch erzogen, meine zwei älteren Brüder stellten sich bei Ausbruch des Krieges freiwillig in den Dienst unseres Vaterlandes mit 17 und 18 Jahren“ (S. 730). Beide Brüder starben. Über die Kriegsjahre und die Not der Familie schreibt er noch, dass sie eine Zeit durchmachen mussten “in der wir an Hunger, Entbehrung und Elend so viel erlebten, das in Worten nicht zu fassen ist“ (S. 730).  Als Vierzehnjähriger war er damals der älteste Sohn und versuchte mitzuhelfen, die Familie durchzubringen. Unter der Besetzung der Franzosen wurde Paul im Alter von sechszehn Jahren inhaftiert und saß eine Zeit lang im Gefängnis. Auch dies ist eine schwere Belastung für einen Minderjährigen. 

Der 1882 geborene Robert Friedrich berichtet im Grunde fast gar nichts über sein Elternhaus (S. 741f.). Er sei als vierter Sohn seiner Eltern geboren und nach evangelischer Kirschensitte erzogen worden. Im Alter von nur zwölf Jahren ging er auf eine Militärschule und blieb dort bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr. Auf diese Zeit geht er nicht weiter ein. Auf Grund der räumlichen Distanz zwischen seinem alten Heimatort und dem Sitz der Militärschule, gehen ich davon aus, dass er auch in der Schule lebte und wohnte (was eine andauernde Trennung von der Familie bedeuten würde). Danach wechselte er auf eine Unteroffiziersschule. Sein Weg blieb militärisch dominiert und er kämpfte im Ersten Weltkrieg. Schon seit seiner Kindheit war dieser Junge militärisch geprägt und erzogen worden. 

Die 1898 geborene Hedwig Eggert war das achte Kind ihrer Eltern, die insgesamt elf Kinder bekamen. „(…) davon sind 5 am Leben geblieben, die übrigen 6 sind teils klein, teils größer gestorben“ (S. 753). Ein Bruder sei im Alter von dreizehn Jahren gestorben und dies sei ein „herber Schlag für meine Eltern“ gewesen (S. 753). Entsprechend werden die Todesfälle auch Hedwig geprägt und belastet haben. Ihr Mutter „musste von früh bis spät in der Fabrik mitarbeiten, um all die hungrigen Mäuler stopfen zu können“ (S. 753). Der ebenfalls berufstätige Vater hatte nur einen geringen Lohn, der kaum reichte. Die Kinder werden irgendwie gelernt haben müssen, unter diesen Mangelbedingungen klar zu kommen und zu überleben. 

Der Vater des 1900 geborene Fritz Junghanss fiel 1917 im Krieg. Fritz muss zu der Zeit sechszehn oder siebzehn Jahre alt gewesen sein.  Vermutlich war schon früh seine Mutter gestorben (oder hatte die Familie verlassen), denn er schreibt „Meine natürliche Mutter hatte ich nicht gekannt, erhielt aber mit 10 Jahren eine Stiefmutter, zu der ich in einem schlechten Verhältnis stand, da sie kleinlich und gehässig war und ich mir ihr bald in jeder Beziehung überlegen fühlte. Mein Vater war nicht glücklich mit ihr und diese Stimmung im Elternhause war nicht dazu angebracht, Kinder (ich hatte noch einen drei Jahre jüngeren Bruder) mit Liebe und Vertrauen zu erziehen. Ich war daher darauf angewiesen, mich ohne die Stütze der elterlichen Hände charakterlich selbst zu bilden (…)“ (S. 780).
Der Herausgeber des Bandes (zu dem ich im Schlussteil noch etwas anmerken werde), stellt den meisten Biografien (die oft im Original abgebildet sind) eine Zusammenfassung vor. Auffällig ist hier, wie auch an anderen Stellen, dass er diese besondere und herausstechende Belastung in Kindheit und Jugend des Akteurs nicht in die Zusammenfassung mit aufnimmt, was sich absolut angeboten hätte. Belastungen, die er in dem Band in den Zusammenfassungen mit aufnimmt, sind i.d.R. der Tod von Familienmitgliedern oder der Wechsel des Wohnorts/der Familie. Auf den Herausgeber und seine Herangehensweise komme ich noch zurück. 

Der 1902 geborene Alfred Buchholz kam als viertes von insgesamt sechs Kindern seiner Eltern zur Welt. Er sei in „bescheidenen Verhältnissen, unter liebereicher Pflege meiner mustergütigen Eltern“ herangewachsen (S. 806). Diese anfängliche idealisierende Beschreibung seiner Eltern sollte uns sogleich im Gedächtnis bleiben, wenn wir uns seine weiteren Schilderungen anschauen!
Sein Vater war preußischer Unteroffizier bei einem Eisenbahnregiment. Entsprechend wird dieser militärische Einfluss auch das Familienleben geprägt haben.
Seine Mutter beschreibt er u.a. wie folgt: „Ihr Augenspiel, das besonders auffallend bei öfter notwendig werdenden Ordnungsrufen in Erscheinung trat, ist mir und auch meinen Geschwistern tief in`s Herz geschrieben und glich doch allzusehr dem strengen Augenzuge unseres `Alten Fritz`. Wir meinten später manches Mal: `Der Alte Fritz geht um, der Knüppel wird gleich tanzen`“ (S. 807).
Ganz offensichtlich hat diese strenge Mutter ihre Kinder mit einem Gegenstand misshandelt. Alfred Buchholz schmückt diese Erfahrungen geradezu schriftstellerisch aus und beschönigt sie dadurch deutlich. Kritik an dem Erziehungsverhalten gibt es seinerseits nicht. Im Gegenteil, er holt sogleich zu weiteren Höhenflügen aus, wenn es um die Eltern geht: „Beide, Vater und Mutter, sind strenge, sittliche reine, züchtige und mit feinstem Liebesempfinden ausgestattete Menschen, deren Liebe sehr wohl ihre guten Grenzen kannte (…). Ihnen gilt schon seit meiner frühsten Jugend meine ganze Verehrung und stets bin ich bemüht, mich meinen Eltern gegenüber dankenswert zu erweisen“ (S. 807). 

Lobpreisungen und das Wort „Liebe“ gleich im Anschluss nach Schilderungen über mütterliche Gewalt und Strenge, erneut taucht dies hier auf. Es ist dies klassisch für das mit dem Aggressor identifizierte Kind, das nur so seine Misere ertragen kann.
Gleich nach seinen Lobpreisung berichtet er wieder über Gewalterfahrungen: „Hässliche Worte, zänkisches Handeln, aufkommende schlechte Manieren wurden unter strengster Wacht der Eltern nicht geduldet sondern stets zu gutem Handeln und zum Verständnis ermahnt, was ich auch sehr beherzigte. Half jedoch die Milde und Güte nichts mehr, dann tanzte es eben reichlich fühlbar auf den Po“ (S. 807). „Tanzte“ auf den Po, auch in dieser Formulierung steckt bereits die Verdrehung der Wirklichkeit, nämlich das es eigentlich Gewalt ist, was dieses Kind erfährt, die offensichtlich „reichlich“ ausgeteilt wurde. Als Kind erlebte er zudem den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und schwere Hungerzeiten. 

Nach vielen Schilderungen u.a. über seinen Kampf für die Nazis schreibt er im Schlussteil:
Viele ereignisreiche Dinge meines Lebens, besonders auch im Kampf als Hitlerdeutscher, könnte ich noch aufweisen, doch müsste ich mich dann zu sehr verbreitern. Ich aber fühle, dass wir Deutsche heute echte und bester Ringer des Friedens sind in einem neuen Geiste  (…). Schlägt und würgt man aber ein Volk, so schlägt und würgt man auch Gott und seine Himmel werden sich vernichtend rächen. Eines darf ich von mir noch sagen, denn es ist meine Kraftquelle: Ich blieb aufrecht und rein; und würde aber meinen Körper zu Füßen des Todes legen, ehe ich davon abwich“ (S. 821).
Es bietet sich geradezu an, die Fantasien von einem geschlagenen und gewürgten Volk, das sich rächt, und für Reinheit kämpft mit seiner Misshandlungsgeschichte im strengen Elternhaus zu verbinden. Dieses sich „dreckig“ und sich „unrein“ fühlen, sind klassische Gefühle, die misshandelte Kinder haben, die aber später verdrängt werden. Die Umkehrung (bzw. Projektion) davon, also sich „rein“, „sauber“, „anständig“ fühlen zu wollen und gegen den „Dreck“ bei Anderen zu kämpfen (Die „dreckigen Juden“ oder DIE „dreckigen Ausländer), um „Reinheit“ herzustellen, ist etwas, das man oft bei Extremisten aller Arten beobachten kann. Und das halte ich nicht für einen Zufall!
Auch die Todessehnsucht, die Alfred Buchholz nebenbei zum Ausdruck bringt, sehe ich verbunden mit seinen Kindheitserfahrungen. Etwas, das ganz sicher viele damalige Nazis so oder so ähnlich empfunden haben werden. Hitler und sein Weltbild umgab schließlich ein Todeskult. Heute können wir diese Todessehnsucht u.a bei Islamisten beobachten. 

Aufschlussreich sind die Anmerkungen des Herausgebers mit Blick auf die Erkenntnisse aus den vielen Biogrammen. Unter der Zwischenüberschrift „Warum wurden sie Nazis – Thesen“ schreibt er u.a.: „Soziologen und Historiker versuchen heute mit unterschiedlichen Theorien und Erklärungsmodellen eine Antwort auf die Frage zu ergründen, warum jemand Nazi geworden ist: Traumatisierung durch den Ersten Weltkrieg, Demütigung des Nationalgefühls, Abrutschen der Mittelschicht, Isolation und Verunsicherung des Einzelnen, Existenzangst nach Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise. Kein Wissenschaftler kann aber erklären, warum eine junge Frau, die ein Biogramm schreibt, überzeugte, aktive, gnadenlose Nationalsozialistin geworden ist, sie sich selbst radikalisiert hat, ihre zehn Geschwister aber nicht“ (S. 23).
Und: „Meine These als Ergebnis der Auswertung dieser vielen hundert Biogramme ist: Wer Nazi werden wollte, wer sein Heil in dieser Ideologie mit überlegender Rasse und Untermenschen suchte und auf Hitler als Erlöser setzte, wurde Nazi – und war dafür allein verantwortlich. Es war eine ganz individuelle Entscheidung, Nazi sein zu wollen (…). Sie wollten das so (S. 24).“

Ca. 82 Biogramme hat der Herausgeber für das Buch ausgewählt und vorgestellt, von ursprünglich fast 581 erhaltenen Biogrammen von damaligen Nazis. Davon wiederum habe ich 17 herausgesucht, die zumindest Andeutungen über Kindheitsbelastungen enthalten. Die restlichen Biogramme enthalten bzgl. der Kindheit im Prinzip keine Infos, die hier relevant wären. Was sich aber auch zeigte: kein einziger von den 82 beschreibt eine gänzlich unbelastete, gar liberale oder gewaltfreie Kindheit, auch dies muss man hier feststellen.
Man könnte jetzt meinen, dass es sehr spekulativ wäre, von den 17 Akteuren auf die Gesamtheit zu schließen. Ich halte dem entgegen, dass wir heute sehr wohl darum wissen, dass eine strenge, autoritäre Erziehung, die Kindern kaum eigene Freiheiten gestattete und sowohl im Elternhaus als auch in der Schule Körperstrafen üblich waren, die damaligen Normen waren. Die oben zitierten 17 Akteure deuten dies oftmals klar an oder bestätigen es manchmal sogar überdeutlich (vor allem im zuletzt genannten Fallbeispiel). Dass die anderen Akteure keine Details in dieser Hinsicht berichten, sagt nicht aus, dass sie es nicht ähnlich erlebt haben. Gerade Erziehungsnormen wurden von der damaligen Generation kaum hinterfragt, sondern als „normal“ und nicht erwähnenswert hingenommen. Ich sehe diese 17 Akteure eher als Sprachrohr für die Anderen, als die Minderheit, die ausnahmsweise Details aus der eigenen Erziehung Preis gibt.
Das Gleiche gilt übrigens auch bezogen auf die Hungererfahrungen im Ersten Weltkrieg und die Abwesenheit der überarbeiteten oder am Krieg beteiligten Elternteile. Es würde kaum Sinn machen, diese grundlegenden Erfahrungen der damaligen Generation für diejenigen Akteure auszuschließen, die hier nicht darüber berichtet haben. Nicht jeder möchte solch schlimmen Erfahrungen erinnern und in seinem Biogramm öffentlich festhalten, was nur all zu nachvollziehbar ist. 

Ich selbst kannte - nebenbei bemerkt - mal einen Mann, der Anfang der 1930er Jahre geboren wurde. Durch Dritte (Verwandte von ihm) wusste ich, dass er als Kind von seinen Eltern schwer misshandelt worden war. Er selbst pflegte einmal zu sagen, dass er immer viel von seinen Eltern „kritisiert“ worden war. Das war genau die Art und Weise, wie diese Generation das Schweigegebot und den Gehorsam gegenüber den Eltern eingehalten hat. Es gehörte sich schlicht nicht, die Eltern zu kritisieren oder öffentlich Einblicke in elterliches Erziehungsverhalten zu geben. Insofern ist es schon fast ein Glücksfall, dass wir hier 17 Berichte haben, die manche Hinweise enthalten!

Kommen wir zu den Anmerkungen des Herausgebers. Ja, es gab viele Familien, in denen die einen Kinder der Familie Nazis wurden und die anderen nicht. Für mich ist das kein Widerspruch, weil die Einflüsse auf Wege von Menschen vielfältig sind. Für mich zählt viel mehr der Punkt, dass die, die Nazis wurden, keine nachweisbar unbelastet, geliebt und gewaltfrei aufgewachsenen Kinder waren (was uns ja auch heutige Studien über entsprechende Akteure eindrucksvoll aufzeigen). Das ist das Fundament, das Nazi-Deutschland überhaupt möglich machte. Und ja, ich gebe dem Herausgeber ein Stück weit Recht, dass die damaligen Akteure auch wollten, was sie taten, dass sie Entscheidungen trafen, für die sie verantwortlich waren. Hätten Sie diese Entscheidungen aber auch so getroffen, wenn sie eine unbelastete und liberale Kindheit erlebt hätten? Aus meiner Sicht: Nein!

Und genau deswegen halte ich diesen Band für besonders wertvoll. Auch wenn der Herausgeber selbst gar nicht bemerkt zu haben scheint, was hier auch nachgewiesen wird: Das diese Nazis belastete Kindheiten hatten. 



Sonntag, 12. Februar 2023

Islamistischer Terror: Die Kindheit der Brüder Merah

Mohamed Merah verübte 2012 in Frankreich islamistische Anschläge, bei denen sieben Menschen getötet wurden, darunter drei Kinder. Der Täter wurde später von Sicherheitskräften erschossen. Sein Bruder, Abdelkader Merah, wurde 2017 für die Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung schuldig gesprochen und zu 20 Jahren Haft verurteilt. 

Die Brüder Merah sind unter äußerst belastenden Umständen in einer dysfunktionalen Familie aufgewachsen. Beide entwickelten früh einen Hang zur Kriminalität.

Mohamed Merah musste sich erstmals im Alter von nur dreizehn Jahren vor einem Gericht verantworten. Er galt als äußerst gewaltbereit, was auch seine Mutter und die Geschwister zu spüren bekommen hatten. Seine Mutter ging er sogar derart hart an, dass Außenstehende ihre Verletzungen sehen konnten.
Seine aus Algerien stammende Mutter, Zoulikha Aziri, wurde im Alter von 18 Jahren gezwungen, einen Mann zu heiraten, der bereits verheiratet war und einige Kinder hatte. Sie folgte ihrem Mann 1981 mit einem Sohn und einer Tochter nach Frankreich, ihr Mann hatte dort Arbeit gefunden. Eine erste Tochter war noch in Algerien im Säuglingsalter verstorben, entweder krankheitsbedingt oder durch Vergiftung seitens der Mutter ihres Mannes, sie wisse es nicht genau, sagte sie vor Gericht aus (Sayare, S. 2018. Terrorist By Association. The New Republic).

Es folgte die Geburt einer weiteren Tochter und ihres Sohnes Abdelkader. Sie wollte keine weiteren Kinder und versuchte zu verhüten. Dann wurde ihr Sohn Mohamed geboren, ein ungewolltes Kind.
Ihr Mann war gewalttätig, schlug seine Frau und sandte Geld zu seiner Zweitfrau in Algerien. Irgendwann hielt es Zoulikha Aziri nicht mehr aus: “In 1992, she fled with her children to a women’s shelter, and a divorce was completed several months later, at which point whatever stability the family may have known seems to have evaporated” (Sayare, S. 2018. Terrorist By AssociationThe New Republic).

An Stelle ihres Mannes trat nun ihr eigener Bruder, er führte sich wie ein Patriarch auf, schlug seine Schwester und auch ihre Kinder. „Her eldest son, Abdelghani, began drinking heavily; he too beat his mother and his siblings, especially Abdelkader, who was flagged by social workers as a “child in danger” as early as 1995. Various testimonies suggest Abdelkader was raped by an uncle, as well. As he grew older, the middle brother exhibited a distinct sadism and was once alleged to have tied Mohammed to a bed by his wrists and ankles and beaten him for two hours with a broomstick. For most of his childhood, Mohammed would be in and out of group homes, where he could be protected from his brother. Abdelkader beat his older sisters if they smoked or stayed out late; he beat his mother, too, and she took to locking herself in a bedroom when he was home” (Sayare, S. 2018. Terrorist By AssociationThe New Republic).
Mohamed “was frequently sad, he reported—social workers indeed often found him crying, even as a teenager—and he sometimes thought of suicide. (In 2008, while in prison, he tried to hang himself.)” (Sayare, S. 2018. Terrorist By AssociationThe New Republic).

Nach seinem Selbstmordversuch in Haft wurde Mohamed in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Dort berichtet er den Psychologen von seiner Kindheit: „Seine Eltern hätten sich im Jahr 1993, als er fünf Jahre alt war, geschieden. Der französische Vater sei im Jahr 2008 nach Algerien gezogen. Seine Mutter, so berichtet Merah, sei arbeitslos gewesen und habe große Schwierigkeiten gehabt die fünf Kinder – drei Töchter und zwei Söhne – alleine groß zu ziehen. Das jüngste Kind, Mohamed, habe die Algerierin daher ins Heim gegeben. Im Alter von 6 bis 13 Jahren habe er im Heim gelebt, so Merah. Seine Schulzeit sei chaotisch gewesen“ (Flade, F. 2012. Blick in die Psyche des Mörders Mohamed Merah. Welt-Online.)

Alle drei Söhne dieser Familie tyrannisierten die eigene Mutter. Gewalt beherrschte offenkundig die gesamte Familie. Die Gewalt der Söhne traf auch den jüngsten der Brüder und die Schwestern. „Aicha, die jüngste, nahm als 17 Jährige aus diesem, von ihr als „Hölle“ bezeichneten Familienmilieu Reißaus. (…) Die ältere Tochter Souad ging 2014 mit ihren Kindern nach Syrien, wo bereits ihr Mann beim „Islamischen Staat“ angedockt hatte. Zuvor hatte sie mehrmals gedroht, `sich in der U-Bahn mit ihren Kindern in die Luft zu jagen`. Ihre Opfer wären ja `keine Unschuldigen sondern Ungläubige`“ (Leder, D. 2017. Bruder gegen Bruder im Terrorprozess. Kurier).
Auch die Mutter hatte radikale Ansichten und war antisemitisch eingestellt. „(…) als ihr jüngster, Mohamed, seine Morde begangen und als Täter identifiziert worden war, frohlockte sie: `Mein Sohn hat Frankreich in die Knie gezwungen`" (Leder, D. 2017. Bruder gegen Bruder im TerrorprozessKurier).

Scott Sayare bezieht sich an einer Stelle in seinem Artikel über die Brüder Merah auf den Anthropologen Ariel Planeix. Dieses Zitat erspart mir hier das Schlusswort, denn solcher Art Kindheiten finden sich regelmäßig bei Extremisten und Terroristen, was ich in meinem Blog vielfach aufzeigen konnte:
"Planeix had been recruited by the French Ministry of Justice to produce an internal study on the lives of several dozen “radicalized” minors, some of whom had been before the courts, and others whose cases were handled by social workers. The upheaval and trauma of the Merahs’ lives were essentially average among the cases he’d seen, he said. He viewed Mohammed as a template for the generation of jihadists that has emerged since his killings. “He’s the new face of a sort of reactive violence,” he told me, violence that is politicized but that is hardly rooted in politics. The minors Planeix studied had all been abused, abandoned, or raped, and sometimes all three; if they remained in contact with their families, their families systematically denied the existence of any such problems. Their childhoods, like the Merahs’, were an almost absurd cumulation of horrors. A growing body of research suggests that, among this new generation of jihadis, this is indeed the norm" (Sayare, S. 2018. Terrorist By AssociationThe New Republic).



Freitag, 3. Februar 2023

Kindheit von Michail Gorbatschow

Michail Gorbatschow wurde am 02.03.1931 in einem Dorf im Nordkaukasus geboren. Er hatte keine einfache Kindheit. Seine erste Kindheitserinnerung war die an eine Suppe, in der Frösche gekocht wurden, weil eine Hungersnot herrschte (Taubman 2018, S. 38).

Während der Hungersnot 1932/1933 kamen zwei seiner Onkel und eine Tante ums Leben. Die Eltern waren zudem arm, die Kinder mussten früh mithelfen und arbeiten. Auch traf Stalins Terror die Familie, beide Großväter wurden zeitweise verhaftet. Als die deutsche Wehrmacht einmarschierte, besetzte diese einige Monate das Heimatdorf der Familie. „Eine schrecklichere Zeit ist kaum vorstellbar“, kommentiert sein Biograf (Taubman 2018, S. 33).
Er hängt dem aber sogleich an, dass Michail Gorbatschow „in einem erstaunlichen Ausmaß“ trotz des Schreckens um ihn herum „eine glückliche Kindheit“ hatte (Taubman 2018, S. 33). Beide Großväter hatten den Gulag überlebt, der Vater den Krieg. Ein Großvater leitete eine Kollektivfarm. Glückliche Umständen ließen größere Belastungen der (kurzen) deutschen Besatzung an der Familie vorüberziehen. Michail habe außerdem ein von Natur aus sonniges und optimistisches Gemüt besessen, schreibt Taubman.
Psychologen haben festgestellt, dass die potentiellen Opfer persönlicher Schicksalsschläge und sich anbahnender Tragödien, wenn diese durch Glück oder eigene Anstrengung ein positives Ende nehmen, von den Ereignissen profitieren und mit erhöhtem Selbstvertrauen, gesteigertem Optimismus und geringerer Anfälligkeit für Depressionen aus ihnen hervorgehen. Außerdem blieb Michail  Gorbatschow nicht nur von den schlimmsten Dingen verschont, sondern wuchs in vieler Hinsicht auch unter Idealbedingungen auf. Sein Vater, Sergej Gorbatschow, war offensichtlich ein wundervoller Mann, geliebt und bewundert von seinem Sohn, der ihm `sehr nahe` stand. (…) Gorbatschows Großvater mütterlicherseits behandelte seinen Enkel mit `Zärtlichkeit`, und Zärtlichkeit ist kein Gefühl, zu dem sich russische Männer gern bekennen“ (Taubman 2018, S. 33f.).

Der Großvater väterlicherseits galt hingegen als autoritär. Dennoch hatte auch dieser „eine Schwäche für den kleinen Michail, und dasselbe galt für beide Großmütter“ (Taubman 2018, S. 35). Dieser Großvater, „(…) der alte Mann, den so viele fürchteten, wurde weich, wenn er es mit seinem Enkel zu tun hatte“ (Taubman 2018, S. 37). Die Großmutter väterlicherseits beschreibt Gorbatschow in seinen Erinnerungen so: Sie war „herzensgut und fürsorglich: Sie hatte mit allen Mitleid, besonders mit den kleinen Kindern. (…). Großmutter Stepanida und ich waren Freunde. Ich hatte Glück“ (Gorbatschow 2013, S. 42f.). 

Michails Mutter „konnte kalt und strafend sein: Sie hatte Sergej eigentlich nicht heiraten wollen und disziplinierte ihren Sohn durch Schläge mit dem Gürtel, bis er dreizehn war“ (Taubman 2018, S. 35). Michail Gorbatschow war demnach, wie die meisten seiner Generation, ein misshandeltes Kind! Dies wird ganz sicher deutliche Spuren in ihm hinterlassen haben.
Trotz des guten Verhältnisses zu seinem Vater wird es für das Kind sicher auch eine Art Schutz vor dieser strengen Mutter gewesen sein, dass er ab dem dritten Lebensjahr mehrere Jahre nicht bei seinen Eltern, sondern bei seinen Großeltern mütterlicherseits lebte. 

Allerdings schreibt Michail Gorbatschow in seinen Erinnerungen auch: „(…) immer war Mutter in der Nähe, immer unterstützte sie uns. Ich liebte sie. Und auch Vater liebte sie bis zu seinem Tod. Sie war eine wunderschöne Frau, sehr stark und zupackend. Vater war stolz auf sie, verzieh ihr ihre hektische Art und half bei allem“ (Gorbatschow 2013, S. 50). Wenn wir ihm glauben wollen, dann hatte seine Mutter also auch durchaus positive Seiten. Das entschuldigt nicht ihre Gewalttätigkeit gegen das Kind, macht das Bild aber rund und detailreicher. Denn positive Ausgleichserfahrungen (auch mit Täter-Elternteilen), können ein Schutzfaktor sein (dagegen stehen z.B. Akteure wie Stalin, der keinerlei positive Ausgleichserfahrungen in seiner Familie machen konnte).

Über die Großeltern mütterlicherseits sagte Gorbatschow: Bei ihnen „genoss ich völlige Freiheit (…) denn sie liebten mich abgöttisch. Bei ihnen hatte ich das Gefühl, das ich es sei, der die Hosen anhatte. Wie oft man daher auch versuchte, mich bei den Eltern wohnen zu lassen, und sei es nur für kurze Zeit, es gelang kein einziges Mal. Am Ende waren alle mit diesem Zustand sehr zufrieden“ (Taubman 2018, S. 40). Die Großeltern waren relativ wohlhabend (was den Jungen offensichtlich auch gut durch die Hungernot brachte) und noch jung: die Großmutter war damals erst achtunddreißig Jahre alt. Sie prägten ganz wesentlich die frühen Jahre von Michail. 

Als Michail zehn Jahre alt war, begann der Krieg. Sein Vater wurde eingezogen und die Kinder mussten fortan die Männer ersetzen, arbeiten und ihre Kindheit überspringen, wie es Michail Gorbatschow später formulierte (Taubman 2018, S. 47). 

Er selbst bezeichnet sich als Kriegskind:  „Meine Generation ist die Generation der Kriegskinder. Wir sind gebrannte Kinder, der Krieg hat auch unseren Charakter und unserer ganzen Weltanschauung den Stempel aufgedrückt. Was wir in unserer Kindheit durchgemacht haben, ist wohl die Erklärung dafür, warum gerade wir Kriegskinder die Lebensweise von Grund auf ändern wollen“ (Gorbatschow 2013, S. 46). 

Der Vater kam wie bereits beschrieben lebend zurück. Eine Besonderheit sticht ins Auge. Der Vater hat nicht – wie so viele seiner Generation – über seine schrecklichen Kriegserlebnisse geschwiegen und diese in sich vergraben. Er erzählte häufig davon, auch und gerade gegenüber seinem Sohn Michail (Taubman 2018, S. 53). Das Grauen fand also Ausdruck in dieser Familie und sein Sohn hatte – dies ist meine Deutung – die Möglichkeit, seinen Vater dadurch besser nachzuvollziehen (denn die Kriegserlebnisse werden ganz sicher psychische Spuren hinterlassen haben). 

Ab 1946 arbeitete Michail fünf Sommer hintereinander schwer und lange Tage mit seinem Vater auf dem Feld zusammen. Sie hatten dabei Gelegenheit für zahlreiche Gespräche. „Wir redeten über Gott und die Welt, über unsere Angelegenheiten, über das Leben. Das war keine Vater-Sohn-Beziehung im alten Sinne mehr, sondern ein Verhältnis zwischen Männern, die gemeinsam arbeiteten, und der Vater verhielt sich mit gegenüber respektvoll. Wir wurden jetzt noch etwas anderes, nämlich Freunde“ (Taubman 2018, S. 62).

Ich habe nach dem Kriegsbeginn Russlands gegen die Ukraine damit begonnen, etliche Kindheiten von politischen Führern bzw. Zaren in Russland zu beschreiben (siehe das Inhaltsverzeichnis). Die Kindheiten von historischen russischen Führungspersonen waren alle samt schwer belastet. Dies gilt auch für Michail Gorbatschow. Den wesentlichen Unterschied hat sein Biograf William Taubman deutlich hervorgehoben: Michail Gorbatschow hat während seiner Kindheit und Jugend gleichzeitig auch eine Fülle von positiven Erfahrungen mit nahen Bezugspersonen gemacht. Das ist genau das, was Resilienz bedingt, wie wir heute wissen. Das Center on the Developing Child der Harvard Universität schreibt dazu: "The single most common factor for children who develop resilience is at least one stable and committed relationship with a supportive parent, caregiver, or other adult.
Das ist auch ein Unterschied im Vergleich zu Putin, in dessen Kindheit ich keinerlei Lichtblicke ausmachen konnte. 

Michail Gorbatschow war ohne Frage ein ganz außergewöhnlicher Mensch und Politiker. Er sticht unter allen bisherigen politischen Führern seines Landes hervor. Seine außergewöhnliche Kindheit wird ihren Anteil daran haben. Kindheit ist politisch!


Quellen:

Gorbatschow, M. (2013). Alles zu seiner Zeit. Mein Leben. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg. 

Taubman, W. (2018). Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit. C. H. Beck, München. 


Sonntag, 29. Januar 2023

Das Schwarze da unten (von Jens Söring)

Jens Söring hat mir einen weiteren Text aus seinem früheren Blog geschickt, in dem es vertiefend um das Verstecken, Verdrängen und Vergessen von Kindheitstraumata von Inhaftierten geht. Der Text ergänzt sehr gut seinen Beitrag "Das Geheimnis, das niemand wissen will"! 

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Das Schwarze da unten (von Jens Söring)

Ein Mitglied meines Freundeskreises hat mich gebeten, einen Blogeintrag über die verschiedenen „Typen“ von Gefangenen zu schreiben. Ein mir persönlich nicht bekannter Leser meines Blogeintrags über meinen Freund Lumpen schrieb einen Kommentar, dass ich Lumpen zu menschlich darstelle und mich nicht ausreichend mit den Opfern befasse. Eine Bekannte aus meiner Zeit an der University of Virginia vor sechsundzwanzig Jahren schrieb mir zum selben Blogeintrag, sie freue sich, dass ich nun einen Freund hätte, mit dem ich mich verstehen könnte, jetzt sei ich nicht mehr so einsam.

Ach, liebe Leute, manchmal macht Ihr es mir wirklich schwer. Sieben Bücher, rund fünfzig Artikel und 59 Blogeinträge habe ich mittlerweile veröffentlicht, aber wenn ich Kommentare wie die drei obigen lese, habe ich das Gefühl, dass Euch mein Leben und die Gefängniswelt immer noch vollkommen fremd sind. Vielleicht bin ich einfach nur ein schlechter Schriftsteller.

Möglicherweise ist das Problem auch, dass ich zurzeit die Einsamkeit meines Lebens besonders schmerzhaft spüre. Ende Juli wurde meine Entlassung auf Bewährung („parole“) abgelehnt und nur vier Tage, nachdem ich darüber informiert wurde, erhielt ich Besuch von drei Mitgliedern meines Freundeskreises aus Deutschland, siehe B55 -  Besuch bei Jens im Sommer 2011. Mir wurde also die Tür wieder einmal ins Gesicht geschlagen – und dann gleichzeitig vor Augen geführt, was ich nun nicht  bekommen werde.

Richtige menschliche Beziehungen nämlich. Mit Menschen, die ich umarmen kann, ohne dass dabei immer gleich der Komplex „Vergewaltigung in der Knastdusche“ mitschwingt. Mit Menschen, die nicht innerlich auf irgendeine Weise so vollkommen zerstört worden sind, dass sie mir letztlich ewig fremd bleiben müssen. 

Mit ... ach, in meinen Gedanken nenne ich alle meine Besucher aus der Außenwelt immer „drei-dimensionale Wesen“. Weil sie echt sind, während meine Mithäftlinge alle, ausnahmslos, irgendwie unecht sind, zwei-dimensional wie eine Zeichnung in einem Comic-Buch. Das Leben, die Welt, hat so unglaublich hart auf sie eingeprügelt, dass sie plattgeschlagen worden sind, flach wie ein Blatt Papier, zwei-dimensional eben. Ihnen fehlt etwas, diese dritte Dimension, die Menschen erst zu Menschen macht.

Was ist dieses gewisse Etwas, was meine Besucher aus der Außenwelt haben, aber meinen Mitgefangenen fehlt, und was deshalb mein Leben so entsetzlich einsam macht? Sie werden lachen: Es ist die Liebe. Oder, um es etwas genauer auszudrücken. Es ist das Vertrauen, welches ja die Voraussetzung zur Liebe ist. Der Mut, sich auf einen anderen Menschen einzulassen – also ihn oder sie zu umarmen.

Aus diesem Grund habe ich die Umarmung zu meiner Lebensphilosophie gemacht – denn ich kann und will umarmen. Sie können diese Lebensphilosophie schon in meinem ersten Buch finden, das ich 2001 schrieb, und Sie werden es in meinem achten Buch finden, welches ich im Frühling dieses Jahres schrieb und das im Frühling 2012 veröffentlicht wird.

Der Clou: Man muss den spezifischen Mut haben, ausgerechnet seine Feinde zu umarmen, und zwar die inneren Feinde wie die äußeren. Die eigenen Schwächen und Ängste muss man umarmen, und die schwierigen Menschen und gefährlichen Situation im täglichen Leben auch.

Das erfordert Courage und eben vor allem Vertrauen – in sich selbst, in den Feind, ins Leben, in die Welt. Man muss Hoffnung haben: den Glauben, dass das jeweilige Wagnis, sich zu öffnen, ein gutes Ende haben könnte.

Genau das haben meine Besucher aus der Außenwelt, und meine Mitgefangenen haben es nicht. Ohne den Mut und das Vertrauen, sich selbst gegenüber und mit anderen Menschen offen zu sein, kann man aber letztlich keine richtigen, menschlichen Beziehungen haben. Und deshalb bin ich so schrecklich einsam hier, als Drei-dimensionaler im Land der Zwei-dimensionalen.

Wieso sind meine Mithäftlinge zwei-dimensional? Den Grund nannte ich in meinem Blogeintrag B26 - Das Geheimnis, das niemand wissen will: Alle, aber wirklich alle Gefangenen sind als Kinder körperlich und/oder sexuell misshandelt worden. Nur eben ich nicht, was mich hier so fremd macht.

Natürlich hatte auch ich ein paar schwierige Phasen und Umstände in meiner Kindheit und Jugend, genau wie die Leser dieses Blogs und meine Besucher aus der Außenwelt auch. Der Unterschied ist jedoch, dass unsere Kindheitstraumata nicht so schrecklich waren, dass wir uns innerlich davor verbergen mussten. Unser Schmerz war nicht so entsetzlich, dass wir ihn in ein kleines seelisches Kästchen einschließen mussten, um uns davor zu schützen.

Zum Beispiel habe ich einen amerikanischen Freund und Besucher, dessen Eltern Schauspieler waren. Sie können sich vorstellen: Das war eine ziemlich neurotische, schwierige Familie. Aber dann ist er selber Schauspieler geworden, und zwar ohne selber ein großer Neurotiker zu werden, und nun verarbeitet er den ganzen seelischen Mist aus seiner Kindheit künstlerisch auf der Bühne. Genau dies meine ich, wenn ich sage, man muss die inneren Feinde, die eigenen Schwächen und Ängste, letztlich umarmen und lieben lernen.

Ich mache fast genau dasselbe schriftstellerisch, und zwar seit Jahrzehnten. Eine meiner Brieffreundinnen meint, es sei manchmal geradezu schockierend, wie ich mich entblöße, aber ich meine, das einzig Ungewöhnliche ist die Öffentlichkeit meiner Offenheit. Künstler teilen sich eben allen mit, doch jeder gesunde Mensch hat Bezugspersonen, denen er sich privat mitteilen kann.

Das ist einfach ein notwendiger Teil des Menschseins: Wir alle haben irgendeinen Freund, bei dem wir uns irgendwann ausgeweint haben, dass unsere Mamas uns nicht genug geliebt haben, unsere Papas immer so gemein zu uns waren, und wir zu Weihnachten auf unsere Geschwister neidisch wurden, weil sie schönere Geschenke bekamen. Und wir alle sind unseren Freunden solche Freunde gewesen, bei denen sie sich über den gleichen Kindheitsmist ausweinen konnten.

Der Unterschied zwischen uns und meinen Mitgefangenen ist, dass deren „Kindheitsmist“ so grausam und entsetzlich war, dass sie selber sich nicht daran heranwagen und ihn deshalb auch nicht anderen mitteilen können. An dem normalen zwischenmenschlichen Bejammern familiären Beziehungsproblemen können die Häftlinge also nicht teilnehmen. Sie sind sich selbst fremd, weil sie einen riesigen Teil der Vergangenheit vor sich selbst verstecken, und deshalb bleiben sie auch anderen fremd.

Nun bin ich ja, wie oben erwähnt, der große Umarmer: Ich habe keine Scheu und keine Angst, ich gehe auf alle zu und tue so, als ob wir Freunde sind. Und siehe da, innerhalb kürzester Zeit sind wir dann auch zumindest freundschaftlich miteinander. 
Das mache ich mit großem Erfolg nun seit einem Vierteljahrhundert mit allen: Massenmördern, Serienvergewaltigern, echten Terroristen, sadistischen Wächtern, eiskalten Gefängnisleitern, und zynischen Journalisten. Wer meinen neuesten Newsletter gelesen hat, der weiß, dass es mir am 1. September sogar gelang, zwei erfahrene Kriminalpolizisten a. D. innerhalb von neunzig Minuten auf meine Seite zu ziehen, einfach, indem ich vollkommen offen war. Das Umarmen – also die mutige, vertrauensvolle Bereitschaft, sich ehrlich und offen auf andere einzulassen – ist wirklich praktisch!

Ganz am Anfang meiner Gefängniskarriere Ende der achtziger Jahre, als ich in London, England, in Auslieferungshaft war, habe ich damit angefangen. Damals wurde ich in einem besonderen Abteil gehalten für Terroristen und „organisierte Kriminalität“, davon schrieb ich in B6 - Terrorismusprozess in Stuttgart-Stammheim. 
In meinem ersten Buch schrieb ich, wie ich mich meinen Mitgefangenen anbot als eine Art freundlicher (und etwas junger!) Beichtvater, dem sie ihre Sorgen mitteilen konnten. Es war das Einzige, was ich tun konnte, um ihnen zu helfen. Und für mich war es natürlich auch ganz interessant, denn meine damaligen Mithäftlinge waren so ungefähr die schwersten und gefährlichsten Jungs, die es gab.

Letztendlich ging es bei diesen Gesprächen aber fast immer um aktuelle Probleme und Sorgen. Zwar erzählte mir ein irischer Terrorist, mit dem ich gut befreundet war, ein bisschen von seiner Kindheit und den Problemen mit seinem Vater, aber er war die Ausnahme. Damals, vor fünfundzwanzig Jahren, fiel es mir gar nicht so sehr auf, dass meine Mitgefangenen kaum über ihre Herkunft und Erziehung sprachen. Heute meine ich, dass dies bezeichnend war, gewissermaßen symptomatisch. Diese Menschen konnten mir nicht von ihren Vergangenheiten erzählen, weil sie selbst keinen inneren Zugang dazu hatten.

Heutzutage bohre ich etwas nach und erfahre zumindest ein wenig mehr. Zum Beispiel erzählte mir ein Häftling in meinem jetzigen Abteil, dass seine Mutter starb, als er noch sehr klein war. Sein Vater war schwer alkoholkrank, oft gab es abends einfach nichts zu essen, dann lag er nachts im dunklen, kalten Schlafzimmer und weinte vor Hunger.

Jahrelang „erzogen“ ihn seine vier älteren Schwestern, die selber noch Kinder waren. Sie zogen ihrem Bruder die eigenen, zu klein gewordenen Kleider an und flochten ihm Rüschen  ins Haar, wie einer lebenden (weiblichen) Spielpuppe eben. Erst als er zehn oder elf war, kam eine Tante, die sich zumindest gelegentlich (wenn auch nicht regelmäßig) um die verwahrlosten und vernachlässigten Kinder kümmerte.

Mit dreizehn fing er an, regelmäßig zu koksen: „Selbstmedikation“ nennt man so etwas, zumindest in Amerika; er betäubte sich selber, um den Schmerz und die gefährlichen Emotionen nicht fühlen zu müssen. Er schloss seine Vergangenheit mit Hilfe der Drogen weg, er versteckte sich vor sich selbst. Das lief so lange gut, bis er seinen Drogendealer tötete. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt.

Ein anderer Mitgefangener wurde von seiner allein stehenden Mutter erzogen, die drogenabhängig, analphabetisch und vollkommen überfordert war. Also peitschte sie ihren Sohn regelmäßig mit einem ausgefransten Elektrokabel aus, an den Beinen, bis er blutete. Er zeigte  mir die Narben. Um den Schmerz auszuhalten, stellte er sich innerlich einfach ab, wie mit einem Schalter waren die Gefühle weg.

Jahre später fand seine Mutter dann zu Jesus, der sie von ihrer Drogenabhängigkeit heilte, und sie nahm sogar Nachtkurse, um das Lesen und Schreiben zu lernen. Ein neuer Mensch! Eines Tages, als sie mit ihrem mittlerweile erwachsenen Sohn in dessen Auto saß, bekam sie einen Weinanfall und bat ihn um Verzeihung. Er umarmte sie und sagte ihr, er wisse doch, dass sie es nur gut gemeint habe. Was hätte es genützt, fragte er mich, wenn er mit seiner Mutter offen über seine Gefühle gesprochen hätte?

Kurz danach schlug er seine Ehefrau dermaßen brutal zusammen, dass er dafür zwanzig Jahre Haft ohne Bewährung bekam. Auch ihn hatte die Vergangenheit eingeholt.

Noch ein weiterer Mithäftling wurde vom Freund seiner geschiedenen Mutter geschlagen und mit dem Stil einer Klobürste als Bestrafung anal vergewaltigt. Jedes Mal, als der Freund abends vorbeikam, um die Mutter ein bisschen zu bumsen, versteckte das Kind sich im Kleiderschrank. Und jedes Mal fand ihn der Freund seiner Mutter dort und bestrafte ihn – nicht immer mit der Klobürste, aber oft genug.

Doch er konnte der Mutter ja nichts davon sagen, denn der Freund gab der Mutter Geld, und sie waren so arm, dass sie dieses zusätzliche Einkommen dringend brauchten. Also schwieg der gute Sohn der Mutter und des Geldes zuliebe. 

Jahre später, in seiner dritten Ehe, entdeckte er, dass die eigene Ehefrau sich einen Freund zugelegt hatte. Also erschoss er den Freund und vergewaltigte seine untreue Ehefrau mit dem Lauf seiner Pistole. Da war sie wieder, die Vergangenheit – bloß mit Pistole statt Klobürste.

Man würde meinen, diese Menschen könnten zumindest jetzt im Gefängnis über ihre bisher weggekokste, verdrängte oder verschwiegene Vergangenheit sprechen. Doch das können sie nicht, immer noch nicht.

Der ehemalige Kokser hat Drogen mit Süßigkeiten ersetzt, heutzutage frisst und frisst und frisst er, völlig haltlos, genau wie früher mit dem Kokain. Er verschuldet sich beim Kredithai, arbeitet Überstunden in seinem jämmerlichen Knastjob – alles nur für ein paar extra Kekse und Schokoladentafeln.

Der ehemalige Frauenverprügler hat eine ganz heiße briefliche Romanze mit der Schwester seiner ehemaligen Ehefrau, nur ist diese Schwester leider verheiratet. Er sucht also immer noch die große Liebe, die er nie hatte, selbst im Knast. Mit der Mutter, die ihn als Kind auspeitschte, hat er weiterhin wenig Kontakt.

Der betrogene Ehemann, Mörder und Vergewaltiger hat natürlich Jesus gefunden, in der erzkonservativen Variante. Das bedeutet anscheinend: Montags bis Samstags bestaunt er die Pornohefte, die die Wächter einschmuggeln, aber am Sonntag sieht er sich die Fersehprediger im TV an und wird richtig aggressiv, wenn man das Thema „Sex“ auch nur erwähnt.

Um sie dazu zu bringen, überhaupt nur ein bisschen über ihre Kindheit zu erzählen, musste ich ganz, ganz sanft mit ihnen sein, ihnen viel Zeit geben, und den richtigen Augenblick abwarten. Dann habe ich von meinem eigenen Trauma erzählt, die schreckliche Geschichte von Elizabeth Haysom – ich habe mich also als Erster offenbart. Das gab ihnen dann den Mut, ein wenig zu sprechen.

Nur war ich ja schon achtzehn Jahre alt, als Elizabeth in mein Leben kam; zwar war ich sehr unreif, aber ich war kein Kind mehr, ich war zumindest etwas innerlich gefestigt. Deshalb konnte ich das Trauma mit Elizabeth letztlich auch verarbeiten, ich musste es weder in mir verschließen noch mich davon innerlich verbergen, ich konnte darüber sprechen und natürlich viel schreiben.

Doch die psychischen Schocks, die diese Männer erlitten, fanden in ihrer Kindheit statt, als sie noch ungeformt und ungefestigt waren. Wenn sie sich an diese Erinnerungen heranwagen, dann kommen die Gefühle eines Achtjährigen hoch, und diese Emotionen sind so stark und unkontrolliert, dass sie sofort wieder versteckt, verdrängt und vergessen werden müssen. Das Schwarze da unten, in den Tiefen der Seele, ist einfach zu gefährlich.

Vermutlich könnte man einige dieser Männer heilen – mit viel Geld und langjähriger, individueller Therapie. Aber warum? Sie alle werden Jahrzehnte, beziehungsweise den Rest ihrer Leben hinter Gittern verbringen. Und sie haben alle ganz schreckliche Verbrechen begangen. Sie sind hier, um bestraft zu werden; denn Strafe muss sein.

Ich finde es verständlich und richtig, dass sich die Gesellschaft und das Justizsystem zuerst um die Opfer dieser Männer kümmert: Keines der Opfer hat es „verdient“, getötet, verprügelt oder vergewaltigt zu werden (selbst der Drogendealer nicht). Auch finde ich es verständlich, dass die Gesellschaft nicht sonderlich an den Kindheitstraumas dieser Männer interessiert ist: Es gibt wahrlich sympathischere Objekte des Mitleids, von Somalia über Bangladesch bis Haiti. 

Aber wir sollten auch ehrlich sein: Genau wie diese Männer ihre Traumas innerlich verstecken, verdrängen und vergessen, so versteckt, verdrängt und vergisst die Gesellschaft diese Männer im Gefängnis. Man spricht nicht über Gefangene und ihre Leiden, genau wie Häftlinge selber nicht über ihre Kindheitstraumas sprechen.

Wenn das Thema dann doch mal erwähnt wird, dann gibt es oft eine aggressive Gegenreaktion – so wie Leser dieses Blogs mich in der Kommentarspalte angreifen, oder so wie der dritte Gefangene oben sehr grantig wird, wenn irgendwer das Thema „Sex“ am heiligen Sonntag erwähnt.

Viel öfter ist die Reaktion jedoch Nichtbeachtung: Meine Bücher verkaufen sich äußerst schlecht, weil niemand wirklich Häftlinge als Menschen sehen will. Und die Gefangenen, denen ich ein paar Details über ihre entsetzlichen Vergangenheiten entlocke, wechseln so schnell wie möglich das Gesprächsthema und reden dann nie wieder darüber.

Weil ich jedoch seit einem Vierteljahrhundert mit diesen Menschen zusammen lebe, kann ich sie und ihre Kindheitstraumas eben nicht verstecken, verdrängen und vergessen. Im Gegenteil, ich sehe es sogar als meine Aufgabe, das Schwarze da unten, in den Tiefen der Seele und in den tiefsten Gefängnissen der Gesellschaft, ans Tageslicht zu bringen. Ich glaube nämlich an die reinigende und heilende Kraft des Lichts und der Liebe.

Ich habe das Schwarze da unten umarmt und mich mit ihr angefreundet. Und ich schreibe von dieser Umarmung, weil die Schriftstellerei eben meine kleine halbneurotische, künstlerische Sublimierungsmasche ist.

Ich werde mit meinen eigenen Problemchen durch das Schreiben fertig und wähne mich glücklich, dass ich in meiner Kindheit nur ein bisschen Stress mit meinen Eltern hatte – nichts im Vergleich zu Hunger und Mädchenkleider, nichts im Vergleich zu Peitschen mit Elektrokabeln, nichts im Vergleich zur analen Vergewaltigung mit Klobürste. Ich hatte es leicht, so leicht, und ich bin dankbar dafür.

Und ich verneige mich beschämt vor meinen Mitgefangenen, deren Kindheiten so viel schrecklicher waren – so entsetzlich, dass ich es letztlich gar nicht nachempfinden kann. Würde ich behaupten, ich hätte Mitgefühl, wäre das eine Lüge:

Die Qualen dieser Männer, als sie noch Kinder waren, stehen einfach zu weit außerhalb der weitesten Grenzen meiner eigenen Erfahrungen. Ich kann sie letzten Endes nicht verstehen.

Deshalb kann ich diese Mithäftlinge auch nicht einfach so verdammen für die schlimmen Verbrechen, die sie begangen haben. Ich wiederhole: Die Opfer dieser Verbrechen haben es nicht „verdient“, getötet, verprügelt und vergewaltigt zu werden! Aber ich schaffe es einfach nicht, die Täter dafür zu verachten. Ich weiß einfach nicht, ob sie wirklich eine „Wahl“ hatten, diese Verbrechen zu begehen.

Was ich aber sehr wohl weiß, ist, dass das Verstecken, Verdrängen und Vergessen ihrer Vergangenheiten zumindest zu den Taten beigetragen haben. Und genau da habe ich meinen Angriffspunkt: Ich kann das Verstecken, Verdrängen und Vergessen mit meinen Büchern und diesem Blog bekämpfen.

Aber das ist einsame Arbeit. Denn diese Menschen, meine Mitgefangenen, sind mir so fremd. Ich verstehe, dass sie sich weiter vor ihrem Kindheitstrauma schützen müssen, sie können nicht einfach so darüber reden. Aber das trennt uns letzten Endes voneinander.

Am Anfang dieses Blogeintrags schrieb ich, dass Menschen wie die Leser dieses Blogs, meine Besucher aus der Außenwelt und ich „drei-dimensional“ sind, während meine Mithäftlinge „zwei-dimensional“ bleiben – ihnen fehlt etwas. Was ihnen fehlt, ist der Zugang zur eigenen Vergangenheit und deshalb zu sich selbst. Sie können es nicht wagen, sich auf andere einzulassen, weil sie sich nicht auf sich selber einlassen können. Ihnen fehlt also die Voraussetzung zur Liebe: die Offenheit und das Vertrauen, das man braucht, um andere umarmen zu können. Und um sich selbst, das eigene Leben, zu umarmen.

Es ist verdammt kalt und einsam, das Schwarze da unten.

Mittwoch, 25. Januar 2023

Das Geheimnis, das niemand wissen will (von Jens Söring)

Bereits 2016 habe ich auszugsweise den großartigen Blogbeitrag "Das Geheimnis, das niemand wissen will"  aus dem Jahr 2011 von Jens Söring besprochen. Ich habe nun den Autor darum gebeten, seinen Text in meinem Blog veröffentlichen zu dürfen und er hat heute zugesagt! 

Da Jens Söring seinen Blog schon länger eingestellt hat, wäre sein Text ansonsten dauerhaft verloren. Der Inhalt stellt seine persönlichen Erfahrungen dar. Allerdings zeigen diverse Studien, dass StraftäterInnen sehr häufig in der Kindheit belastetet waren. Sein Erfahrungsbericht ergänzt diese Studienlage auf ganz besondere, ja wohl einmalige Weise. Außerdem wird in dem Text auch überdeutlich, wie schwierig es für die Wissenschaft sein kann, die ganze Wahrheit des Kindheitsleids von Tätern zu ergründen. 


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 B26 - Das Geheimnis, das niemand wissen will (mit freundlicher Genehmigung von Jens Söring)

 (Hinweis: Der Originaltext wurde ursprünglich am 23. Februar 2011 von Jens Söring online veröffentlicht)

In meinem letzten Blogeintrag ("Ein Kuss") habe ich über die Parallelen  zwischen meiner Beziehung zu meiner Komplizin Elizabeth Haysom und der sexuellen Misshandlung von Minderjährigen geschrieben. Dort habe ich ganz ausdrücklich gesagt, dass es sich dabei natürlich nicht um tatsächliche Kinderschänderei gedreht hat, sondern eben nur um Parallelen. Im heutigen Blogeintrag möchte ich aber über die echte, wirkliche Misshandlung von Kindern schreiben. 

Ich werde Ihnen ein Geheimnis verraten. Sie können dieses Geheimnis ruhig anderen weiter sagen – ich bitte Sie sogar darum – aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass sich fast niemand für dieses Geheimnis interessieren wird. Niemand will wissen, was ich Ihnen gleich sagen werde. Deshalb ist es ja ein Geheimnis: Keiner will es wissen, also ist es unbekannt. 

Vielleicht wollen Sie es auch nicht wissen. Wenn dem so sein sollte, dann können Sie das Geheimnis gleich nach dem Lesen dieses Blogeintrags wieder vergessen. Vermutlich ist das sowieso besser. 

Hier ist das Geheimnis: Alle Gefangenen – alle, ohne Ausnahme (na, vielleicht mit einer Ausnahme) – sind als Kinder Opfer sexueller oder körperlicher Misshandlung gewesen. Alle. 

Hm, also, vielleicht doch nur fast alle – denn ich wurde als Kind nicht misshandelt. Aber ich bin ja auch unschuldig, ich habe das Verbrechen, für das ich verurteilt wurde, nicht begangen. Doch die ganz überwältigende Mehrheit meiner Mitgefangenen, die "ihre" Verbrechen sehr wohl begingen und zurecht verurteilt wurden – die sind alle Opfer ganz entsetzlicher Gewaltverbrechen gewesen, als sie Kinder waren. Übrigens in den allermeisten Fällen über Jahre oder Jahrzehnte hinweg, bis sie von zuhause wegliefen oder straffällig wurden. 

Das ist keine Behauptung meinerseits. Vor einigen Jahren habe ich ein sehr interessantes Buch über die Psychologie des Strafvollzugs gelesen, von einem renommierten Experten der (mit Philip Zimbardo) das berühmte "Stanford Prison Experiment" unternahm und – im Gegensatz zu Zimbardo – dann seine gesamte Karriere uns Knackis widmete: Dr. Craig Haney. Sein Buch heißt: "Reforming Punishment", und es wurde 2005 von der nationalen Dachorganisation American Psychological Association veröffentlicht.
Nebenbei: Auf der Prozess bzw. Trial Seite dieser Website ist ein Interview mit Dr. Haney über die psychologischen Probleme von Justizopfern, die sich nach ihrer Befreiung durch DNS-Tests in der freien Welt nicht mehr zurechtfinden können. 

Dr. Haneys Buch bespricht mehrere Studien, die belegen, dass ein hoher Prozentsatz der befragten Gefangenen zugab, als Kinder sexuell und/oder körperlich misshandelt geworden zu sein. An die genaue Zahl kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich glaube es waren etwa zwei Drittel. Schon damals, als ich das Buch las, war ich davon beeindruckt, dass so viele Häftlinge das zugegeben hatten. 

Denn gerade für Gefangene ist es besonders schwer, irgendeine Schwäche zuzugeben – vor allem gegenüber Außenseitern wie Psychologen, die plötzlich in den Knast hereinrauschen, Fragebögen verteilen und äußerst persönliche Informationen wissen wollen. Grundsätzlich werden solche Typen erst einmal belogen, denn man kann ja nie wissen, wem sie die Fragebögen dann geben! Knastpsychologen haben sowieso einen besonders schlechten Ruf unter Häftlingen, selbst ich würde denen nichts wirklich Wichtiges anvertrauen.

Und trotzdem hatte ein überraschend hoher Prozentsatz - der befragten Gefangenen - so etwas zugegeben. Selbst unter besten Umständen ist das sehr, sehr schwer, denn – das habe ich ja versucht, in meinem letzten Blogeintrag zu erklären – als Opfer schämt man sich so schrecklich. Man will es doch gar nicht zugeben. 

Dazu kommt noch etwas anderes, was für Nichtopfer vielleicht besonders schwer zu verstehen ist: Zumindest einige der Opfer wissen gar nicht, dass sie Opfer sind. Damit meine ich nicht, dass die Erinnerung an die Misshandlung verdrängt wurde; es ist ziemlich zweifelhaft, ob es überhaupt möglich ist, so etwas zu verdrängen. (Die Expertin auf diesem Gebiet ist übrigens Dr. Elizabeth Loftus; ich habe mich, wie gesagt, ziemlich tief in diese Thematik eingelesen.) Nein, was ich meine ist nicht die Verdrängung, sondern die Unfähigkeit, Misshandlung als solche überhaupt zu erkennen. 

Lassen sie mich ein Beispiel geben: Seit Jahrzehnten sitze ich nun in verschiedenen Gefängnissen im Gemeinschafts- oder TV-Raum herum. Manchmal kommen dann abends um 18 Uhr die örtlichen Fernsehnachrichten, meist mit irgendeiner schrecklichen Geschichte über einen 14-jährigen Burschen, der eine 72 Jahre alte Oma vergewaltigt und verprügelt hat. Über so etwas regen sich auch Häftlinge auf, selbst Sexualverbrecher, denn wir haben ja alle unsere eigenen Omas. Und dann besprechen die Gefangenen miteinander, was sie dem 14-jährigen Täter alles antun würden, bzw. wie der Junge von der Tat abgehalten hätte werden können. 

Diese Gespräche laufen immer nach dem gleichen Schema. Wie gesagt, ich höre dabei seit fast 25 Jahren zu! Ich würde schätzen, dass ich an solchen Unterhaltungen mehrere hundert Mal teilgenommen habe. Und sie sind alle ganz genau gleich. 

Die Häftlinge prahlen zuerst einmal damit, wie sie von ihren Erziehern gezüchtigt wurden, wenn sie als Kinder etwas falsch machten. Oft waren es übrigens nicht die Eltern, sondern die Stiefeltern oder Großeltern, die die Kinder folterten – vielleicht erklärt das die Quälerei... Wie dem auch sei: Das Auspeitschen mit dicken Ledergürteln ist noch das Mindeste. Absichtliches Verbrennen mit Bügeleisen oder kochendem Wasser kommen überraschend häufig vor. Auch das stundenlange Knien auf scharfen Steinen. Und Stöcke – nun ja, genug davon! 

Was dabei für mich zumindest anfänglich überraschend war: dass die Gefangenen diese körperliche Misshandlung für gut und richtig hielten. "Genau so würde ich es mit meinen eigenen Kindern tun, wenn ich nicht im Knast wäre!" So etwas hat ihnen selber ja auch nie geschadet, sie sind doch prächtige Kerle geworden. (Dabei übersehen sie ausnahmslos, dass sie – die "prächtigen Kerle" – hinter Gittern sitzen.) Und solch ein ordentliches Auspeitschen mit Ledergürteln, genau das habe dem 14-jährigen Täter in den Fernsehnachrichten gefehlt! 

Aus der Sicht der Häftlinge war das, was ihnen angetan wurde, also keine Misshandlung. Anfänglich versuchte ich gelegentlich, diese Männer zu fragen, ob sie denn nicht den Zusammenhang zwischen den eigenen Straftaten und dieser schrecklichen Tortur durch ihre Erzieher sehen. "Nein, natürlich nicht, völliger Quatsch – ich hatte das verdient!" Genau dies sagen natürlich die meisten Kinder, die Opfer von Misshandlung sind. 

In den Studien der Fragebögen verteilenden Knastpsychologen würde diese sehr große Gruppe von ehemaligen Opfern also gar nicht erfasst werden. Auch gibt es andere Formen der Misshandlung, die von den allermeisten Gefangenen nicht als solche erkannt wird. Zum Beispiel wurde ein ziemlich guter Freund von mir – der übrigens vor einigen Jahren Selbstmord beging – als 8-jähriges Kind von seiner älteren Schwester zum wiederholten Drogenkonsum verleitet; anfänglich gegen seinen Willen. Natürlich wurde er abhängig, und natürlich landete er letztlich im geschlossenen Vollzug für besonders junge Straftäter, wegen Beschaffungskriminalität. Dort wurde er von den anderen Jugendlichen sexuell und körperlich gefoltert (das Wort "misshandelt" reicht einfach nicht – es hatte mit Besenstielen zu tun), und natürlich von den Wächtern auch. Dann wurde er etwas älter, etwas stärker, und stieg in der Hierarchie auf – bis er selber jüngere Kinder foltern konnte. Aber aus seiner Sicht war das selbst 30 oder 40 Jahre später nicht als Misshandlung zu erkennen; das war einfach das "normale" Knastleben. 

Ein anderer Freund von mir wuchs ohne Eltern auf, er wurde vom Sozialamt von einer Pflege-Familie zur nächsten geschickt. Viele der Pflegeeltern waren anscheinend Sadisten, die besonders heißes Duschen als bevorzugtes Strafmittel einsetzten – weil das keine Wunden hinterlässt. Auch wurde regelmäßig zur Strafe das Essen gekürzt oder völlig vorenthalten. 

Als ganz kleines Kind lernte mein Freund also, welche Abfalleimer hinter welchen Restaurants am ergiebigsten sind, um zusätzliches Essen zu finden. Sein Geheimtipp: Man reserviert einen Tisch und bestellt eine besonders ungewöhnliche Mahlzeit per Telefon – geht aber nicht hin. Die Restaurantküche kocht die ungewöhnliche Mahlzeit, aber weil der Gast nicht erscheint, wird das Essen weggeworfen, weil es sonst niemand will. Wenn man gut aufpasst, kann man auf diese Weise eine fast-vollständige Mahlzeit aus dem Abfalleimer hinter dem Restaurant frühmorgens herausfischen! 

Misshandlung ist das alles natürlich nicht. Es ist einfach so, das Leben als Pflegekind. 

Abgesehen von Menschen wie diesen, die gar nicht erkennen (können), dass sie misshandelt wurden, gibt es noch eine weitere Gruppe, von denen die Knastpsychologen nicht wissen: jene, die sich nur mir, einem Mitgefangenen, offenbaren. Ich will gar nicht schätzen, wie viele Häftlinge mir gestanden haben, dass sie sexuell misshandelt wurden – und hinzuzufügten, dass ich der erste Mensch sei, dem sie das sagen. Solche Zwischenfälle hat es besonders in den letzten acht Jahren gegeben, nach der Veröffentlichung meines ersten Buches: "The Way of the Prisoner" (Lantern Books 2003). Seitdem bin ich immer mehr zur Anlaufstelle geworden für Häftlinge, die eine Vertrauensperson brauchen (und für Wächter, die mir irgendwelche pikanten Details über das Gefängnis verraten wollen – aber das ist ein Thema für einen zukünftigen Blogeintrag, vielleicht). Jedenfalls habe ich, als zufällige Vertrauensperson und als Mitgefangener, unzählige Male gehört: "Hör mal, mir ist da mal als Kind was passiert – das kannst Du aber niemandem sagen, o.k.? Also, es war so...." 

Mittlerweile gebe ich meinen Bekannten ganz absichtlich die Gelegenheit dazu, weil ich einfach gelernt habe, dass viele Menschen das brauchen. Ich muss gar nicht direkt fragen, ich warte einfach, bis das Thema in einem allgemeinen Zusammenhang auftaucht – was im Gefängnis oft geschieht, denn es gibt hier ja viele Kinderschänder. (Meiner Erfahrung nach sind übrigens auch fast alle Kinderschänder als Kind selber Opfer gewesen.) 

Ich kann Ihnen sagen: Ich war in den vergangenen (fast) 25 Jahren mit hunderten Häftlingen mehr oder weniger gut befreundet – gut genug, um gelegentlich ein ernsthaftes Gespräch zu führen. Und ich kann Ihnen sagen: Jeder Gefangene, mit dem ich etwas befreundet war, wurde als Kind sexuell oder körperlich misshandelt. Jeder, ohne Ausnahme, in (fast) 25 Jahren! Natürlich könnte das ein Zufall sein, aber das glaube ich nicht. 

Warum soll das wichtig sein, weshalb schreibe ich darüber einen Blogeintrag? Weil ich einen direkten Zusammenhang sehe zwischen der Misshandlung und der Kriminalität. 

Wenn man als Kind entsetzlichen Qualen ausgesetzt wird, dann führt dies zu psychologischen Schäden, und zwar in allen Fällen. Niemand würde dem Kind, dem Opfer, die Schuld dafür geben, dass es an den Folgen der Misshandlung leidet. Auch verstehen wohl die meisten Menschen, wozu solch ein psychologisches Trauma führen kann: Alkoholismus, Depressionen, "kleine" Neurosen und so weiter. All das wird akzeptiert von der Gesellschaft, weil es anderen Menschen nicht schadet – man kann sogar Mitleid dafür haben. 

Was gesellschaftlich nicht akzeptabel ist, das ist die Minderheit der Misshandlungsopfer, die mit ihrem psychologischen Trauma auf rechtswidrige Art fertig werden. Statt Alkohol benutzen sie Drogen; statt Depression (die psychodynamisch als Aggression, die auf einen selbst gerichtet ist, verstanden werden muss) richten sie ihre Aggression auf andere; statt "kleine" Neurosen entwickeln sie Persönlichkeitsstörungen, die bekanntlich öfters zu Verbrechen führen. Für all dies gibt es kein Mitleid, kein Verständnis. 

Natürlich muss die Gesellschaft sich vor Kriminalität schützen, das bezweifele ich hier überhaupt nicht. Im Grunde geht es mir sogar genau um den Schutz vor Verbrechen! Aber wie kann die Gesellschaft wirklich effektiv die Kriminalität bekämpfen, wenn sie sich nicht mit den Ursachen befasst? 
Nun gibt es ja alle möglichen kriminologischen Theorien, die versuchen zu erklären, warum manche Menschen Verbrechen begehen und andere nicht: Armut, Drogenabhängigkeit, schlechte Schulen, Geisteskrankheit, gewalttätige Videospiele, zum Beispiel. Bestimmt tragen alle diese Dinge auch dazu bei, dass es Kriminalität gibt. Was bei solchen Ursachenlisten jedoch immer fehlt, ist die Tatsache, dass alle Verbrecher als Kinder sexuell oder körperlich misshandelt wurden! Und wenn man sich mit diesem unbequemen Fakt nicht befasst, darf man sich nicht wundern, dass die Kriminalitätsbekämpfung nie so richtig erfolgreich ist. 

Ich weiß nicht, warum niemand darüber sprechen will, dass alle Verbrecher erst Opfer der Kindesmisshandlung waren, bevor sie zu Tätern wurden. Vielleicht ist es für die Gesellschaft bequemer und einfacher, die Bösewichter auszugrenzen und einzusperren, statt ihnen mit Mitleid zu begegnen. Vielleicht will man einfach nicht das Geld ausgeben um all die inhaftierten Verbrecher zu therapieren. Vielleicht glaubt man, dass solchen Menschen sowieso nicht zu helfen ist – und vielleicht stimmt das sogar. Eines ist sicher: Sie werden niemanden finden können, der sich mit diesem Thema befassen will. Und dann werden Sie es mit der Zeit auch selber vergessen. 

Dies ist das Geheimnis, das niemand wissen will.

Samstag, 31. Dezember 2022

Das Buch "Tyrannen" und die Kindheit des Sultans Ibrahim (1615-1648).

Das Buch „Tyrannen. Eine Geschichte von Caligula bis Putin“ (Krischer & Stollberg-Rilinger, Hrsg.), das 2022 bei C-H. Beck erschienen ist, brachte für mich nicht wirklich viele neue Erkenntnisse bzgl. Kindheits- und Traumahintergründen von Diktatoren und politischen Führern. 

Was haben diverse "Tyrannen" gemeinsam, wird im Klapptext gefragt. Nun, dass sie Tyrannen sind und sich ähnlich verhalten könnte - dem Buch folgend - die Antwort sein...

Der Blickwinkel im Buch ist stark klassisch historisch: Man erfährt schlicht, was war. 

Psychohistorisch wäre die Antwort auf die Frage nach Gemeinsamkeiten gewesen: "Destruktive Kindheiten". Bzgl. 11 der Akteure, die im Buch „Tyrannen“ besprochen wurden, habe ich bereits entsprechend deutliche Details recherchiert und zwar für: Nero, IvanIV., Napoleon, Franco, Mao, Pinochet, Mugabe, KimIlsung, Erdoğan, Trump und Putin. Für im Buch besprochene Akteure wie Idi Amin, Assad, und Kim Jong Un habe ich in der Vergangenheit Infos über die Kindheit gesucht, aber diese scheint fast gänzlich unbeleuchtet.

Neu für mich und interessant waren die Infos über die Kindheit des Sultans İbrahim (genannt "der Wahnsinnige"), der unter der ständigen Angst aufwuchs, so wie etliche seiner Brüder, umgebracht zu werden. Leider der einzige Akteur im Buch, dessen Kindheit etwas näher beleuchtet wurde. Es bestätigt sich erneut das Bild, dass klassische HistorikerInnen oftmals wenig Interesse für die Folgen von kindlichen Belastungen ihrer „Untersuchungsobjekte“ zeigen. 

Kommen wir aber zurück zur Kindheit von Sultan Ibrahim (1615-1648). Besprochen wird dieser Herrscher von Christine Vogel unter dem Titel „Ibrahim `der Wahnsinnige` - die osmanische Dynastie am Abgrund" (S. 106-120). 

Ibrahim hatte sein Dasein bis zu seinem 24. Lebensjahr im „Kafes, dem Prinzengefängnis, gefristet, einem abgeschlossenen und streng bewachten Bereich im Inneren des Topkapi-Palasts. (…). Im abgeschotteten Bereich des Kafes lebten die osmanischen Prinzen seit dem frühen 17. Jahrhundert (…) abseits von repräsentativem Prunk und weitgehend ohne Kontakte zur Außenwelt. Umgeben von Pagen, Eunuchen und Konkubinen, deren Schwangerschaften konsequent unterbunden wurden, um zu verhindern, dass die potentiellen Thronfolger Nachwuchs zeugten, blieben die Prinzen nahezu unsichtbar, fern von jeglicher politischen Funktion und Verantwortung“ (Vogel 2022, S. 109).

Ibrahim war der der jüngste von neun Söhnen Sultan Ahmeds I. Seit seiner frühsten Kindheit hatte er miterlebt, wie im Laufe der Jahre alle seine Brüder verschwanden. Anlass für das Verschwinden war in zwei Fällen die jeweilige Thronbesteigung. Beide Thronfolger ließen allerdings fünf ihrer Brüder erdrosseln, damit diese nicht den Thron besteigen konnten. Ein weiterer Bruder starb krankheitsbedingt. (Vogel 2022, S. 109). 

Dass im Palast potentielle Thronfolger von ihren jeweiligen Brüdern umgebracht wurden, hatte eine lange Tradition im Herrscherhaus. „Die als legale Maßnahme zur Herrschaftssicherung verstandene Praxis des Brudermords war gewissermaßen die blutige Kehrseite der durch Konkubinat verursachten `Überproduktion` männlicher Nachfahren“ (Vogel 2022, S. 110). Im historischen Verlauf setzte sich später durch, dass der jeweils Älteste Thronfolger wurde, wodurch der Brudermord schließlich obsolet wurde. 

Ibrahim wurde nur deshalb als Einziger am Leben gelassen, weil er als geistesschwach galt und daher nach allgemeiner Auffassung als Konkurrent um die Sultanswürde für Murad IV. keine ernstzunehmende Gefahr darstellte“ (Vogel 2022, S. 110). 

Nachdem Murad IV. gestorben war (und keine eigenen Nachkommen hinterlassen hatte) und die politischen Würdenträger seine Gemächer betraten, soll Ibrahim zunächst panisch reagiert haben. Er rechnete wohl damit, umgebracht zu werden und weigerte sich zunächst, das “Prinzengefängnis“ zu verlassen.
Dass die jahrzehntelange Haft unter ständiger Todesangst sich wohl negativ auf Ibrahims ohnehin labilen Geisteszustand ausgewirkt hatte, wird dabei von niemandem bezweifelt (…)“ (Vogel 2022, S. 112). 

Als Herrscher sicherte sich Ibrahim den Ruf eines grausamen Despoten, der zu irrationalen Entscheidungen neigte. Wenn wir auf seine potentiell traumatische Kindheit schauen, wird dies erklärbar. 


Dienstag, 13. Dezember 2022

Trotz viel Empirie: Kindheiten von Extremisten sind oft kein Thema in der Extremismusforschung

Für mich ist immer wieder erstaunlich, dass es kaum Übersichtsarbeiten bzw. fokussierte Fachbeiträge über den speziellen Bereich Kindheit & Extremismus gibt. Ganz im Gegenteil ist es oftmals so, dass entsprechende Handbücher und Sammlungen von Expertisen über Extremismus/Terrorismus keine Schwertpunktbeiträge über Kindheit/Trauma/Familie enthalten. Beispiele dafür sind:

  • Handbuch Extremismusprävention“ (Ben Slama & Kemmesies 2020)
  • Handbook of Terrorism Prevention and Preparedness“ (Schmid 2020)
  • "The Oxford Handbook of Terrorism" (Chenoweth et al. 2019)
  • Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis“ (Jesse & Mannewitz 2018)
  • Handbuch Politische Gewalt: Formen - Ursachen - Legitimation – Begrenzung“ (Enzmann 2013
  • Terrorismusforschung in Deutschland“ (Spencer, Kocks & Harbrich 2011). 

Auch in titelstarken Einzelarbeiten wie z.B. „Extremismus und Radikalisierung - Kriminologisches Handbuch zur aktuellen Sicherheitslage“ (Dienstbühl 2019) findet sich – trotz umfassender und systematischer Struktur und Gliederung - kein eigenes Kapitel über Kindheit/Trauma/Familie und Extremismus. In dem genannten Band taucht nach meiner Suche (per E-Book Suchfunktion) sogar nicht ein einziges Mal das Wort „Kindheit“ auf. 

Im recht komplexen Handbuch über Rechtsextremismus von Armin Pfahl-Traughber (2019). „Rechtsextremismus in Deutschland - Eine kritische Bestandsaufnahme“ gibt es im Kapitel 24 "Erklärungsansätze" kurze Einlassung auf den Autoritarismus, aber Kindheit & Trauma ist wie so oft kein Thema, wenn es um Ursachen geht.

Der Extremismusforscher Matthias Quent (2020) hat eine Art populärwissenschaftliche Handreichung unter dem aussagekräftigen Titel „Rechtsextremismus: 33 Fragen - 33 Antworten“ abgeliefert. Nicht in einer einzigen Frage bzw. Antwort geht er auf Kindheitshintergründe der Extremisten ein, was auch für etliche andere Einzelarbeiten von entsprechend Forschenden gilt. 

Das aktuellste Beispiel (und Auslöser für diesen Blogbeitrag!) ist das Buch Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis“ (Rothenberger, Krause, Jost & Frankenthal 2022), das Mitte diesen Jahres erschienen ist. Im umfassenden Index taucht das Wort „Kindheit“ gar nicht auf, was an sich schon deutlich macht, wie wenig Bedeutung man diesem Bereich zukommen lässt. Dabei hätte der Index das Wort sogar aufnehmen können, denn an einer einzigen Stelle im Buch wird – innerhalb von zwei bis drei Sätzen - eine Verbindung hergestellt:
Eine entwicklungspsychologische Perspektive interessiert sich für die Auswirkungen ungünstiger früher Beziehungserfahrungen auf die spätere Identitätsentwicklung. Wenn in der Kindheit Vernachlässigung und Gewalt eine Rolle spielten, besteht ein erhöhtes Risiko für spätere psychosoziale Probleme (Schulabbrüche, Delinquenz, Substanz- und Alkoholmissbrauch, Risikoverhalten)“ (Sischka 2022, S. 360). Dass Kindheitseinflüsse nebenbei in kurzen Sätzen erwähnt werden und nicht als eine der zentralsten Ursachen hervorgehoben werden, erlebe ich immer wieder. 

Unter dem Begriff „Trauma“ finden sich im Index zwar sechs Stellen im Buch, aber keine von diesen bezieht sich auf mögliche Traumahintergründe der Terroristen/Extremisten.
Und wo wir gerade dabei sind: In dem Handbuch werden etliche Terroristen besprochen oder erwähnt, von Anders Breivik, Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Osama Bin Laden bis hin zu Timothy McVeigh. All diese genannten Akteure hatten nach meiner Recherche eine traumatische Kindheiten, nur scheint es keinen für das Handbuch gewonnenen Experten zu geben, der/die sich damit befasst hat. 

Ganz im Gegenteil findet sich an einer Stelle (Kapitel: „Prozesse und Faktoren von Radikalisierung: Ein Überblick“ von Daniela Pisoiu) sogar quasi die Negierung von Kindheitseinflüssen. Zunächst geht Pisoiu auf die psychische Situation von Anders Breivik ein und unterstreicht, dass dieser voll für seine Taten zur Rechenschaft gezogen bzw. als voll schuldfähig eingestuft wurde. Sie schließt dem an:
Die `Normalität` von Terroristen bezieht sich jedoch nicht nur auf den Aspekt der psychischen Gesundheit. Denn die Auffälligkeiten, die gegebenenfalls in ihren Lebensläufen auftauchen (z.B. problematische Kindheit, keine abgeschlossene Schulbildung) reichen nicht aus, um einen signifikanten Unterschied zur Gesamtbevölkerung aufzuzeigen und so eine bestimmte Teilmenge der Bevölkerung zu definieren, die für Terrorismus prädestiniert sein könnte – das sogenannte Spezifitätsproblem“ (Pisoiu 2022, S. 344). Einige Zeilen weiter zitiert sie dann noch eine Studie von Donatella della Porta über 29 ehemalige linke Militante, die die „Atmosphäre in ihrer Familie als gut oder sehr gut bezeichneten“ (ebd.).
Diese zitierte Quelle habe ich mir durchgesehen. Donatella della Porta schreibt kurz vor ihrem Hinweis auf die 29 Militanten sogar noch folgendes:  „(…) past research has found no sign of any typical pattern in the primary socialization of militants, no sign of particular family problems or of an authoritarian upbringing. (…)” (della Porta 2012, S. 233).  Die zitierte Studie über die 29 Militanten kann ich leider nicht bzgl. Methodik etc. überprüfen, da sie auf italienisch ist. Schaut man sich den Beitrag von della Porta aber genau an, dann greift sie rein auf Quellen zurück, die alle zwischen 1950 und 1990 veröffentlicht wurden. Für diesen Zeitraum stimmt ihr zuvor zitierter Satz, denn es gab noch viel zu wenig Material über Kindheitshintergründe von Extremisten. Heute sieht dies ganz anders aus und ich kritisiere erneut, dass dies in einem Handbuch aus dem Jahr 2022 über Terrorismus nicht deutlich aufgeführt wurde. Gleichzeitig wundere ich mich darüber, dass della Porta in dem Buch "Terrorism Studies. A Reader", das im Jahr 2012 erschienen ist, einen solchen Satz schreibt. Zwischen 1990 und 2012 liegen schließlich über 20 Jahre! Auch in diesem Zeitraum sind so einige Arbeiten erschienen, in denen es um Kindheiten von Extremisten geht.  

Merkwürdig ist auch - um wieder auf das Handbuch "Terrorismusforschung" zurückzukommen -, dass Pisoiu zusammen mit anderen AutorInnen (Srowig et al. 2018) in dem Heft „Radikalisierung von Individuen: Ein Überblick über mögliche Erklärungsansätze“ vor allem im Kapitel 4.2 Studien besprochen hat, die ein hohes Maß an Belastungen in der Kindheit von Extremisten aufzeigen. Auf diese Veröffentlichung wollte ich innerhalb meines Blogbeitrags hier sogar ursprünglich gesondert hinweisen: Als ein seltenes Positivbeispiel für das Hinsehen auf die Kindheitshintergründe von Extremisten! Erst dann entdeckte ich, dass Pisoiu ja sogar Mitautorin war. Vor diesem Hintergrund verwundert es umso mehr, dass sie nun gerade im Handbuch „Terrorismusforschung“ Kindheitseinflüsse quasi beiseiteschiebt.

Es bleibt Fakt, dass es auf der anderen Seite viele Einzelstudien und Arbeiten gibt, die zusammengetragen ein sehr aussagekräftiges Gesamtbild ergeben. Dies sieht man z.B. in meinem Beitrag „Kindheitsursprünge von Rechtsextremismus: DIE gesammelten Studien“ bzw. im Inhaltsverzeichnis meines Blogs.
Man kann auf der einen Seite also nicht sagen, dass sich DIE Extremismusforschung blind gegenüber Kindheitseinflüssen stellt. Sonst hätte ich ja nicht all die Daten und Fakten zusammentragen können, die ich fand. Auf der anderen Seite wird das Thema immer wieder ausgeblendet oder offensichtlich als zu "banal" zur Seite geschoben (was die Inhalte bzw. nicht vorhandenen Inhalte dazu in den kritisierten Übersichtsarbeiten zeigen). Das Missverhältnis zwischen auf der einen Seite viel empirischem Material (durch diverse Einzelarbeiten oder auf Grund von Biografieforschung wie von mir in meinem Blog vielfach gezeigt) und fehlender Zentriertheit vieler Forschender auf Kindheitseinflüsse ist also an sich erklärungsbedürftig. 

Die fehlende Zentriertheit der Extremismusforschung auf Kindheitserfahrungen findet ihren Widerhall auch bei der Bereitstellung von Mitteln für die Prävention. Die Bundesregierung hat beispielsweise am 25.11.2020 den „Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2020) veröffentlicht. Insgesamt werden 89 Maßnahmen aufgeführt, die wiederum verschiedenen Ministerien zugeordnet wurden. Eine Milliarde Euro wurde zur Verfügung gestellt, um die Maßnahmen umzusetzen. In dem Katalog gibt es keine einzige Maßnahme, die in Richtung Kinderschutz als Extremismusprävention geht. Würde Kinderschutz bzgl. der Maßnahmen der Regierung als Extremismusprävention verstanden, dann würde eine Milliarde Euro allerdings wohl kaum ausreichen. Große Investitionen würden sich hier allerdings lohnen und dies nicht nur im Kampf gegen Extremismus. Eine wirkliche und nachhaltige Zentriertheit der Gesellschaft auf den Schutz und die Unterstützung von Kindern hätte insgesamt viele positive Effekte, was der Gesellschaft am Ende eine Menge an Folgekosten für Gesundheit, Jugendhilfe, Sozialhilfe, Polizei, Verfassungsschutz und Justiz sparen würde.

Dass es in der Forschung auch anders gehen kann, zeigt der herausragende und wegweisende Beitrag „From Childhood Trauma to Violent Extremism: Implications for prevention“ von Lundesgaard & Krogh (2018) in dem Handbuch „Violent extremism in the 21st century: International perspectives“. Beiträge wie dieser sind eine Seltenheit. Offensichtlich gibt es kaum etablierte Fachleute, die sich auf den Bereich Kindheit und Extremismus fokussiert haben und überhaupt als BeitragsautorInnen für entsprechende Fachbücher infrage kommen. 

Insofern wünsche ich mir für die kommenden Jahre eine Öffnung der Extremismusforschung für Kindheitseinflüsse beim Thema Extremismus, eine Öffnung für Psychohistorie, Psychoanalyse, Traumaforschung und ganz besonders auch die Adverse Childhood Experiences Forschung. Nur dann werden wir die Ursachen umfassend verstehen und langfristig betrachtet nachhaltige Prävention möglich machen können. 


Quellen:

Ben Slama, B. & Kemmesies, U. (Hrsg.) (2020). Handbuch Extremismusprävention. Gesamtgesellschaftlich. Phänomenübergreifend. (Polizei + Forschung, Band-Nummer 54) Bundeskriminalamt Wiesbaden. 

Chenoweth, E., English, R., Gofas, A. & Kalyvas, S. (Hrsg.) (2019). The Oxford Handbook of Terrorism. Oxford University Press, Oxford.

Della Porta, D. (2012). On individual motivations in underground political organizations. In: Horgan, J. & Braddock, K. (Hrsg.). Terrorism Studies. A Reader. Routledge, London & New York.

Dienstbühl, D. (2019). Extremismus und Radikalisierung - Kriminologisches Handbuch zur aktuellen Sicherheitslage. Richard Boorberg Verlag, Stuttgart. Kindle E-Book Version.

Enzmann, B. (Hrsg.) (2013). Handbuch Politische Gewalt: Formen - Ursachen - Legitimation – Begrenzung. Springer VS, Wiesbaden. Kindle E-Book Version. 

Jesse, E. & Mannewitz, T. (Hrsg.) (2018). Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden.

Lundesgaard, A. & Krogh, K. (2018). From Childhood Trauma to Violent Extremism: Implications for prevention. In: Overland, G., Andersen, A. J., Førde, K. E., Grødum, K. & Salomonsen, J. (Hrsg.). Violent extremism in the 21st century: International perspectives. Cambridge Scholars Publishing, Newcastle-upon-Tyne, S. 180-198.

Pfahl-Traughber, A. (2019). Rechtsextremismus in Deutschland - Eine kritische Bestandsaufnahme. Springer VS, Wiesbaden.

Pisoiu, D. (2022). Prozesse und Faktoren von Radikalisierung: Ein Überblick. In: Rothenberger, L., Krause, J., Jost, J. & Frankenthal, K. (Hrsg.). Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos, Baden-Baden. S. 343-350.

Presse und Informationsamt der Bundesregierung (2020, 25. Nov.). Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus

Quent, M. (2020). Rechtsextremismus: 33 Fragen - 33 Antworten. Piper Verlag, München. 

Rothenberger, L., Krause, J., Jost, J. & Frankenthal, K. (Hrsg.) (2022). Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos, Baden-Baden.

Schmid, A. P. (Hrsg.) (2020). Handbook of Terrorism Prevention and Preparedness. ICCT Press, Den Haag. (freie Onlineversion), https://icct.nl/handbook-of-terrorism-prevention-and-preparedness/.

Sischka, K. (2022). Identitätsprozesse und Radikalisierung. In: Rothenberger, L., Krause, J., Jost, J. & Frankenthal, K. (Hrsg.). Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos, Baden-Baden. S. 359-366.

Spencer, A., Kocks, A. & Harbrich, K. (Hrsg.) (2011). Terrorismusforschung in Deutschland. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Sonderheft 1.

Srowig, F., Roth, V., Pisoiu, D., Seewald, K. & Zick, A. (2018). Radikalisierung von Individuen: Ein Überblick über mögliche Erklärungsansätze. PRIF Report 6/2018. Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) & Peace Rresearch Institute Frankfurt (PRIF), Frankfurt am Main. https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_publikationen/prif0618.pdf

Wahl, K. & Wahl, M. R. (2013). Biotische, psychische und soziale Bedingungen für Aggression und Gewalt. In: Enzmann, B. (Hrsg.). Handbuch Politische Gewalt: Formen - Ursachen - Legitimation – Begrenzung. Springer VS, Wiesbaden. Kindle E-Book Version.