Freitag, 20. März 2009

Fuck the world!

In dem SPIEGEL-TV Bericht „Polizei gegen Jugendgewalt, Teil 3“ (vom 09.03.2009) wurde u.a. ein (ursprünglich aus Afghanistan stammender) junger Mann während einer Vernehmung im Jugendgefängnis vorgestellt. Zu diesem Bericht möchte ich einige Gedanken zusammenfassen.
Der Mann ist ein bulliger, unruhiger Kerl, vor dem man in der Tat Angst haben müsste, wären nicht zwei Polizisten im Raum. „Einsichtig“ berichtet er, dass er bzgl. einer seiner Straftaten heute anders gehandelt hätte. Damals gab es einen Konflikt mit einem anderen Jugendlichen. Er schnitt ihm darauf ein Ohr ab. Heute würden es auch Schläge tun, meint er...

Und dann sprudelt es während der Befragung aus ihm heraus. „Ich war nicht immer so, ich wurde zu dem gemacht, was ich heute bin.“ In Afghanistan herrschte überall Gewalt, berichtet er. Zu Hause in der Familie und auch draußen. Nirgends gab es Sicherheit. Er musste lernen, zu überleben. Dann zieht er sein T-Shirt aus und zeigt seine vielen Tätowierungen. Diese habe er sich nicht zum Vergnügen machen lassen. Sie seien alle Symbole. Hinten am Rücken prangt in großer Schrift „FUCK THE WORLD“. Diesen Schriftzug habe er machen lassen, nachdem sein Vater gestorben war. Die beiden Beamten im Raum verfolgen still und fast etwas betroffen (so kam es mir vor) diese Schilderungen.

Dieser Intensivtäter kommt einem in dem Bericht nah, zumindest ging es mir so. Und gleichzeitig möchte man ihn auf Distanz halten und ihm nicht alleine begegnen. Ich empfand Erschrecken und auch Mitleid für das, was dieser Mann früher erleiden musste. Vor allem das eintätowierte „Fuck the World“ brachte zum Vorschein, dass sich dieser Mann aufgegeben hat. Ich fragte mich, ob es überhaupt menschmöglich (z.B. in einer Therapie) sein könnte, an einen so tief verletzten Menschen heran zu kommen?
Gleichzeitig entschuldigt dies nichts und man muss die Gesellschaft vor ihm schützen. Da fühlte ich ganz klar eine Grenze. Und irgendwie wollte ich ihm auch zurufen: „Du bist verantwortlich für das, was Du getan hast!“

Im direkten Kontakt mit den Tätern ist dieses „Du bist verantwortlich für das, was Du getan hast!“ notwendig und das einzig richtige. Die Verantwortung für die eigenen Taten zu übernehmen, ist nebenbei bemerkt auch für die Heilung von Tätern sehr wichtig. Erst danach könnten sie sich selbst langsam ihre Taten verzeihen und Frieden finden. In der Realität geschieht dies leider selten. In der Analyse „von oben“ würde ich der Aussage „Ich war nicht immer so, ich wurde zu dem gemacht, was ich heute bin.“ zustimmen. Für mich geht das beides, ich weiß aber auch darum, dass genau dies ein Problem für viele darstellt.

Nun habe ich mich im Grundlagentext intensiv mit Diktatoren beschäftigt, von denen einige Millionen Menschen auf dem Gewissen haben. Ich vermute, dass es vielen Menschen aufstoßen wird, wenn ich die Kindheit dieser Schlächter beschreibe.

Was ich sagen will ist: Mir geht es hier um ein Grundverständnis dafür, wie Gewalt und Hass entsteht. Und dies aus präventiven Gründen. Das kann ich gar nicht oft genug wiederholen. Ich möchte die TäterInnen nicht entschuldigen! Wenn man dies begriffen hat, dann kann man sich wirklich auf das Thema einlassen. Der nächste Schritt wäre dann im Grunde der, dass man weltweiten Kinderschutz intensiv vorantreibt. Damit nicht noch mehr Menschen in ihre Seele und manch einer auch auf seinen Körper einbrennen „FUCK THE WORLD!“

Samstag, 7. März 2009

Vom Fühlen eines Schwerverbrechers

Bei SPIEGEL-Online findet sich ein Bericht ("Ich bin lebendiger, als du es je warst", 06.03.2009) über den „Ausbrecherkönig“ MICHEL VAUJOUR. 27 Jahre hat dieser im Gefängnis gesessen, 17 Jahre davon in Einzelhaft. Fünfmal ist er getürmt, ein Ausbruch war spektakulärer als der andere, wird berichtet.

Im Artikel erfährt man beiläufig, wie Vaujour als 17 Jähriger aus einem Gefühl der „Sinnlosigkeit“ heraus anfing zu klauen. Von den Eltern war er als Kind früh zu einer Tante abgeschoben worden. Er sei ein „wildes Kind“ gewesen. Im Gefängnis lernt er Gilles kennen. Später folgte eine Reihe von Überfällen und Diebstählen an Gilles Seite, dessen Frau und Schwester – die für Vaujour die "einzige echte Familie" waren, die er je kannte. Dies sind kleine aber wichtige Hinweise über die familiären Hintergründe dieses Schwerverbrechers.

Bezeichnend fand ich folgende Stelle im Text:
Bei einem Banküberfall geschah das, was Vaujour heute "meinen schönsten Ausbruch" nennt: Eine Kugel aus der Waffe eines Polizisten trifft ihn im Kopf. "Als ich da auf dem Trottoir lag, diese Kugel im Kopf, hörte ich noch den Polizisten zu seinem Kollegen sagen: 'Vergiss den, der ist schon tot!' Da dachte ich bei mir: 'Ich bin lebendiger, als du es jemals warst.'"
Nach dieser todesnahen Erfahrung änderte er sein Leben, sagt der SPIEGEL.

Hier finden sich erneut Parallelen zu Fallbeispielen, die ich im Beitrag „Krieg der Kindergangs“ dargestellt habe. Menschen wie Vaujour suchen die Bedrohung und den Tod, um sich dadurch „lebendig“ zu fühlen. Das ist eine erschreckende Erkenntnis.
Menschen, die als Kind Liebe und Achtung erfahren haben, werden keine Todesnähe brauchen, um sich zu fühlen. Ihr Leben wird durch alltägliches echtes Fühlen reich sein.

Samstag, 14. Februar 2009

Antisemitismus steigt, die tieferen Ursachen werden nicht gesehen

Im Deutschland Radio wurde heute Morgen berichtet, dass sich in Großbritannien seit dem Gaza Krieg die Zahl antisemitischer Übergriffe im Vergleich zum Vorjahr verzehnfacht habe. Ein jüdischer Brite schilderte im Interview einen Übergriff, bei dem er durch zwei Männer ohne Vorwarnung verprügelt und getreten wurde. Begleitet wurden die Schläge durch den Kommentar: „Das ist dafür, was Ihr mit den Palästinensern gemacht habt!“

Das Thema Gaza-Krieg lässt mich noch nicht los, so scheint es. An Hand dieses o.g. Beispiels wird noch mal einiges deutlich, was mir durch den Kopf geht.
Es liegt zunächst ganz oberflächlich betrachtet auf der Hand, dass der Gaza-Krieg in einem Zusammenhang mit dem gestiegenen offenen Antisemitismus in Britannien steht. Ohne diesen Krieg wäre die Zahl der Übergriffe sehr wahrscheinlich nicht derart angestiegen. Das ist das eine.

Trotzdem hat beides in der Tiefe nicht wirklich etwas mit einander zu tun! Wie kommen Menschen (in diesem Fall wohl auch mehrheitlich Männer) dazu, ihre Nachbarn für etwas zu misshandeln, was sich tausend Meilen von ihnen weg zugetragen und direkt mit ihnen gar nichts zu tun hat? Die Antwort: Solche Menschen suchen nach einem Zündfunken (welchen auch immer), den sie für sich nutzen können, um einen Hass auf Andere auszuschütten, der aus ihrem eigenen, tiefsten Inneren (eigenem Selbsthass) kommt und im Grunde nichts mit der äußeren Situation zu tun hat. Kindheitserfahrungen spielen hier eine entscheidende Rolle. Gaza-Krieg hin oder her, die selben Akteure hätte früher oder später ein anderes Opfer aus einem anderen Grund gefunden. Wer einmal den Weg eingeschlagen hat, innere Konflikte an anderen abzulassen, der findet immer einen Grund.

Im Deutschland Radio wurde erwähnt, dass man mehr Aufklärungsarbeit leisten müsse, um solche Übergriffe zu verhindern. Ein Ansatz der nur auf der Oberfläche verharrt. Solange sich die Welt da draußen mehrheitlich nur mit Zündfunken beschäftigt und den Blick nicht auf das Dynamit richtet, solange sind solche Blogs wie dieser hier notwendig. Und vielleicht werde ich es noch erleben, dass in einer Radiosendung bzgl. solcher Übergriffe irgendwann ganz selbstverständlich auf psychohistorische Thesen und notwenige(n) Kinderschutz/-fürsorge hingewiesen wird.

Sonntag, 8. Februar 2009

Knessetwahl in Israel als Kriegsgrund? Wohl kaum

Als „rationaler“ Grund für den israelischen Angriff auf Gaza wird u.a. die am 10. Februar 2009 anstehende Knessetwahl in Israel genannt. Mein erster Gedanke dazu ist: Selbst wenn dies ein wichtiger Hintergrund des Angriffes wäre und sich die Regierungsparteien dadurch einen höhern Wahlerfolg ausgerechnet hätte, wäre dieser Entscheidungsprozess ein kranker und nicht einer von psychisch gesunden Menschen. Denn dies würde bedeuten, dass das israelische Volk das Töten von ca. 1.400 Palästinensern mit ihrem Urnengang belohnen würde. Wenn dem dann am 10.02. so sein sollte, würden hier im israelischen Volk starke Bedürfnisse nach einer kollektiven Bestrafung ihres Nachbarn zu Tage treten (ein Zeichen für tiefere emotionale Gründe). Die Regierung wäre dann nur der ausführende Part dieser Bedürfnisse und würde dem Willen des Volkes entsprechen.

Dazu kommt: Unter dem Eindruck eines Krieges wählen die Menschen erfahrungsgemäß meist rechts (was sicherlich auch den PolitikerInnen bekannt sein dürfte). So wird derzeit auch in Israel ein Rechtsruck erwartet. Verlierer könnten hier entsprechend die Regierungsparteien sein. Insbesondere die Hardliner Benjamin Netanjahu (Likud Partei) und vielmehr noch Avigdor Lieberman (Partei Yisrael Beiteinu) könnten Stimmen dazu gewinnen. Wo ist hier also der rationale Grund für den Gaza-Krieg, wenn doch sogar ein Regierungsverlust zu erwarten war und ist?

Interessant finde ich an dieser Stelle eine gemeinsame israelisch-palästinensische Umfrage (durchgeführt vom 27. Mai bis zum 7. Juni 2008), veröffentlich von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. am 12. Juni 2008.

U.a. wird als Ergebnis genannt:
50 % der Israelis lehnen einen Waffenstillstand mit der Hamas ab, welcher die Einstellung von gewalttätigen Aktivitäten und Kassam-Angriffen auf Israel durch die Hamas sowie militärische Operationen der Israelis im Gazastreifen und die Aufhebung. der Blockademaßnahmen beinhalten würde. 47 % befürworten solch eine Vereinbarung. Die Ablehnung steigt auf 68 %, sollte eine Vereinbarung mit der Hamas nicht die Freilassung von Gilad Svhalit (Anmerkung: vor zweieinhalb Jahren entführten israelischer Soldat) beinhalten.

Auf palästinensischer Seite sprechen sich 78 % für einen Waffenstillstand mit Israel aus. Diese Unterstützung fällt jedoch rapide ab auf 23 %, sollte ein Waffenstillstandsabkommen lediglich auf den Gazastreifen begrenzt bleiben und nicht die Westbank mit einbeziehen. Darüber hinaus fällt die Unterstützung weiter auf 20 % für den Fall, dass eine Vereinbarung nicht die unmittelbare Öffnung der Grenzen, insbesondere des Ra-fah-Grenzüberganges zwischen Gazastreifen und Ägypten, zur Folge haben sollte.

Wenn man es mal von der positiven Seite betrachtet, waren also grundsätzlich fast die Hälfte der Israelis bereit, einen Waffenstillstand mit der Hamas zu vereinbaren. Rein rational betrachtet ist dies ein ganz erheblicher Teil der Wählerschaft. Israel hätte also auch aus einem inneren Interesse heraus den ab dem 19.Juni verhandelten Stopp des Raketenbeschusses weiter ausdehnen und festigen können. Gleichzeitig zeigt sich an Hand der Umfrage, dass 78 % der Palästinenser unter o.g. Bedingungen für einen Waffenstillstand waren. Diese Mehrheit hätte man entsprechend ansprechen können, durch politische Entscheidungen, nicht durch militärische.

Ein politischer Weg, der Frieden schafft, ist nicht nur ein menschlicher, sondern immer auch ein rationaler Weg. Also Leute: Kommt mit nicht mit rationalen Gründen für einen Krieg!

Dieser Beitrag ergänzt folgende Beiträge zum Thema:

- Ergänzung des Beitrags "Nahostkonflik"
- Nahostkonflikt: Krieg in Gaza - eine Ursachensuche

Donnerstag, 5. Februar 2009

Ergänzung des Beitrags "Nahostkonflikt"

Auf der Homepage der AG Friedensforschung, Uni Kassel fand ich einen interessanten Text, auf den ich hier hinweisen möchte: Kollektive Bestrafung. Israels Verbrechen an der Zivilbevölkerung in Gaza (Von Rolf Verleger, u.a. Direktoriumsmitglied im Zentralrat der Juden und ehemaliger Vorsitzender der Jüdischen Gemeinschaft Schlewig-Holstein)
Dieser ergänzt meine Gedanken zum Nahostkonflikt sehr gut, wie ich finde.

"Premierminister Olmert, Armeeminister Barak und Außenministerin Livni behaupteten, daß der Raketenbeschuss israelischer Städte aus dem Gazastreifen unerträglich geworden und nicht anders zu stoppen sei als mit massivem israelischen Eingreifen. Die Unwahrheit dieser Behauptungen war ebenso offensichtlich wie bei den Lügen des George W. Bush. Wieder gibt es genügend Politiker und Journalisten, diesmal gerade und besonders in Deutschland, die diese Märchen gerne nachplappern.", schreibt Verleger. Der Autor führt seine Gedanken im Text dazu weiter aus. Auf eine Stelle möchte ich hier besonders hinweisen:

Die Zahl der Raketeneinschläge auf israelischem Boden war vom 19. Juni bis 31. Oktober 2008 auf fast null zurückgegangen! (ausführliche Statistik der Raketenangriffe hier) Rolf Verleger fragt: „Wenn es eine nicht-kriegerische Methode gab, diesen Raketenbeschuss für mehr als vier Monate zum Verschwinden zu bringen, warum ging dann diese Methode nicht mehr ab November?“ Der Autor verweist als Antwort auf diese Frage auf den Artikel „An Unnecessary War“ (Washington Post vom 08.01.2009) des ehemaligen US-Präsident Jimmy Carter. Dort erfährt man, dass es Verhandlungen zwischen Israel - über den Vermittler Ägypten - und der Hamas gab. Alle Raketenabschüsse der Hamas sollten am 19.Juni für einen Zeitraum von sechs Monaten aufhören, wenn humanitäre Lieferungen auf das normale Niveau gebracht würden, das vor Israels Rückzug 2005 bestand (etwa 700 Lastwagen pro Tag). Der folgende Zuwachs an Lieferungen von Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten und Treibstoff erfolgte im Durchschnitt nur in 20 Prozent des normalen Niveaus. Diese fragile Waffenruhe wurde zu einem Teil am 4. November gebrochen, als Israel einen Angriff nach Gaza startete, um einen Verteidigungstunnel zu zerstören. Weitere Konflikte und Unstimmigkeiten um die unzureichenden Warenlieferungen blieben ungelöst und die Feindseeligkeiten brachen erneut aus. „Kann man dies eine »einseitige Aufkündigung des Waffenstillstands durch die Hamas« nennen?“ fragt Verleger.
Allen Interessierten empfehle ich das Lesen des o.g. Textes. Für mich wird hier erneut klar, dass an einem wirklichen Frieden kein Interesse besteht, obwohl es ganz offensichtlich auch Mittel und Wege gab und gibt, die Gewalt auf ein Minimum zu reduzieren.

Allem Anschein nach bereitete die israelische Führung den Gaza-Krieg auch lange Zeit (wohl auch noch vor dem verhandelten Waffenstillstand) systematisch vor. Man wollte nicht die gleichen Fehler wie im Libanon-Krieg machen, in dem zu kurzfristig geplant und agiert worden war. Und man wollte diesen Krieg in Gaza um jeden Preis.

Wohin mit all dem Schmerz und dem Hass, wenn kein Feind mehr da ist, um diesen als "Giftcontainer" zu nutzen? (diese Frage gilt beiden Seiten, Isarael und der Hamas)

Sonntag, 1. Februar 2009

Ergänzung "Grundsätzliche Hinweise"

Ich habe die "Grundsätzlichen Hinweise" um nachfolgenden Text ergänzt. Gerade zu Beginn des Jahres war es mir auch mal wichtig, meine grundlegend optimistische Sicht auf die gesellschaftlichen Entwicklungen kurz aufzuschreiben. Dies kommt leider oft zu kurz, wenn man sich mit dem Thema Krieg auseinandersetzt.

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Mir wurde schon einmal vorgeworfen, dass aus meinem Grundlagentext nur ein Entweder/Oder, ein hier „die guten nicht-misshandelten“ und dort die „bösen misshandelten Menschen“ hervorgehen würde. Ich sehe die Gefahr, dass eine solch schwarz-weiße Deutung je nach dem, wie der Text individuell verstanden und empfunden wird möglich ist. Allerdings möchte ich auch auf die „Grautöne“ im Text verweisen: Stichworte z.B. „Helfender Zeuge“, unterschiedliche Formen und Auswirkungen der Gewalterfahrungen, Einfluss gesellschaftlicher Prozesse wie sie z.B. der „Hamburger Ansatz“ beschreibt.
Wichtig ist mir hier zu sagen, dass meinem Empfinden nach unsere Welt auch kompliziert, ungerecht, herausfordernd und manches mal auch unglücklich machend bleiben würde, wenn die meisten Menschen als Kind Liebe und Achtung erfahren hätten. Ich behaupte nicht, dass das Leben einfach ist (was es ja auch so spannend macht :-) ) Außerdem sind wir nun mal Menschen, wir machen Fehler. Ich glaube aber in der Tat, dass so etwas enorm destruktives wie Krieg nicht mehr entstehen würde, wenn ein bedeutender Teil der Menschheit liebevoll und ohne Gewalt heranwachsen dürfte. Ich bin dabei im Grunde auch Optimist. Es wird noch so einige Generationen dauern, aber es zeichnet sich im historischen Rückblick ab, dass sich die Kindererziehung von Generation zu Generation verbessert und die Menschen dadurch immer emphatischer werden. Nie zuvor in der Geschichte wurden Kinder zu gut behandelt, hatten Kinder so viele Rechte und wurde Kindern und ihrer Entwicklung so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie heute (trotz aller immer noch erschreckender Zahlen, die vorliegen). Es ist somit nur eine Frage von Zeit. Haltet mich für verrückt: Ich bin mir sicher, dass spätere Generationen mit dem gleichen Erschrecken und Unverständnis in die Geschichte auf Kriege blicken werden, wie wir dies heute in Europa tun, wenn wir uns z.B. mit der mittelalterlichen Hexenverbrennung oder der mittelalterlichen Medizin beschäftigen. Kriege werden für spätere Generationen nicht mal mehr theoretisch vorstellbar sein.

Mittwoch, 28. Januar 2009

Krieg der Kindergangs

Am Sonntag (25.01.2009) sah ich im Ersten den "Weltspiegel"-Bericht "Krieg der Kindergangs".
Es ging um den aufgegebenen Stadtteil Norris Green in Liverpool. Dort beherrschen Jugendgangs die Straße. „Sie handeln mit Crack und Heroin, sind zwischen 12 und 18 Jahre alt, die meisten von ihnen bewaffnet. Jugendliche, die Krieg statt Fußball spielen, und die hier oben im Norden Liverpools jetzt die Macht übernommen haben.“, heißt es in dem Bericht.

„Was geht euch durch den Kopf wenn ihr mit den Waffen schießt?“, fragte ein Reporter.
„Glücklich. Das ist ein glückliches Gefühl. Ein normales Leben würde keiner mehr haben wollen, von uns keiner mehr. Viel zu langweilig. Wenn Du einmal in der Gang bist, willst du nicht mehr aufhören. Willst immer so weitermachen. So einfach ist das.“

Wer sich glücklich fühlt, wenn er auf andere schießt, zeigt deutlich, wie innerlich leer und tot er selbst bereits ist. Gefühlsregungen sind nur noch unter dem "Kick" von kriegsähnlichen Bedingungen möglich.

Eine solche Aussage erinnert mich auch wieder an einen Bericht, den ich bereits im Nachwort des Grundlagentextes erwähnt habe:
Am 18.10.07 gab es auf dem Sender N-TV eine Dokumentation über den „Terror der RAF“, in der auch der Ex-Terrorist Peter-Jürgen Boock interviewt wurde. Er sagte dort aus, dass der Moment der Schleyer Entführung (damals kamen während der Entführung auch Begleiter von Schleyer ums Leben; Schleyer selbst wurde später umgebracht) und nachdem alles so „glatt gelaufen“ wäre, er sich so lebendig gefühlt habe, wie nie zuvor in seinem Leben. Wenn sich ein Mensch nur mit Hilfe von Terror „lebendig“ fühlen kann, dann sagt das viel über tiefere, emotionale Ursachen seiner Taten aus, die im Kern nichts mit politischen Zielen oder der Zeit usw. zu tun haben, wie ich meine.

Lloyd deMause zitierte in seinem Buch den Gefängnispsychiater James Gilligan, der sein Leben damit verbracht hat, Kriminelle zu analysieren: „Manche Leute glauben, bewaffnete Räuber begehen ihre kriminellen Handlungen, um zu Geld zu kommen. Aber wenn du dich hinsetzt und mit den Leuten redest, die wiederholt solche Verbrechen begehen, ist die Antwort, die du hörst: "Noch nie in meinem Leben wurde mir so viel Respekt erwiesen, als zu dem Zeitpunkt, als ich das erste Mal die Waffe auf jemanden richtete." (vgl. deMause, 2005, S. 110ff)

Die Gefühle, die oben beschrieben werden, müssen dabei im Grund unecht und von ihrem eigentlichen Sinn her entleert und abgetrennt sein.

„sich glücklich fühlen“ = Ich schieße auf Menschen
“sich lebendig fühlen“ = Ich entführe und töte Menschen
„sich respektiert fühlen“ = Menschen mit Waffen bedrohen
Das ist schon ziemlich pervers...

Ich las einmal als Schüler - ich glaube in Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ - von einem Hauptmann, der in etwa sagte: „Ich musste erst in den Krieg ziehen, um mein Leben zu lieben.“ Diese Stelle fällt mir hier wieder ein und sie beschreibt dasselbe Phänomen. Positive Gefühle werden mit Tod, Gewalt und Vernichtung vermischt. Dies erschreckt uns Menschen natürlich. Es wird aber verstehbar, wenn man sich bewusst macht, dass – so nehme ich stark an - einst auch die Eltern der Akteure positive Wörter und Gefühle mit Gewalt vermischten: „Ich schlage Dich und nenne dies Liebe“ usw. usf.
Ganz offensichtlich scheint es den Akteuren auch eine emotionale Befriedigung und Erleichterung zu verschaffen, Gewalt anzuwenden. DeMause hat hier entsprechend den sehr gut passenden Begriff von "Giftcontainern" gewählt. Eigene unerträgliche innere Gefühle von Terror, Angst, Wut usw. all das Destruktive, was auf Grund früher kindlicher Gewalterfahrungen in den Menschen brodelt, wird in diese "Giftcontainer" gepackt; dies verschafft den Akteuren ein (kurzfristiges) "gutes Gefühl".

Ich denke, dass diese Gedanken u.a. sehr gut die beiden vorangegangenen Beiträgen zur "Irrationalität des Krieges" und zum "Gaza Krieg" ergänzen. Kriege müssen im Grundsatz immer auch emotional analysiert werden. Sonst wird sich dem jeweiligen Betrachter kein komplexes Bild der Wirklichkeit offenbaren.

Sehr deutlich wird der Zusammenhang der o.g. Gedanken zur kollektiven Gewalt auch durch folgendes: Als Deutschland Frankreich 1914 den Krieg erklärte, frohlockte eine deutsche Zeitung: "Es ist eine Freude zu leben, Deutschland jubelt vor Glück." (vgl. deMause,L. 2000: Was ist Psychohistorie? Psychosozial-Verlag, Gießen, S. 133)
Nationen sind eben keine "technischen", "rationalen" Gebilde (so wie es die Sozialwissenschaft oft sieht), die für sich stehen. Sie bestehen aus Menschen, die alle eine Psyche und Emotionen haben. Wenn eine Mehrheit dieser Menschen, die eine Nation bilden, als Kind traumatische Erfahrungen machen musste, wird auch das "kollektive Glück" bei einem Kriegseintritt verständlich, so wie es auch für einzelne Mitglieder von Kindergangs und Kriminelle verständlich ist.

Freitag, 9. Januar 2009

Nahostkonflikt: Krieg in Gaza - eine Ursachensuche

Am 16.12. schrieb ich einen Text zur Irrationalität des Krieges. Wenig später begann Israel seinen Krieg in Gaza. Natürlich bin ich ein Mensch, der das ganze Geschehen nur aus der Ferne beobachtet. Dass diese militärische Operation der Israelis wenig Sinn macht, scheint allerdings eine leicht festzustellende Wahrheit zu sein, auch wenn man nicht über umfassendes strategisch-politisches Hintergrundwissen verfügt. Gerade auch wenn man sich in der Art mit dem Thema Krieg beschäftigt, wie ich dies hier tue, wird deutlich, warum Kriege so unverständlich und unsinnig erscheinen, warum uns die Reden, Sprüche und Entscheidungen der Regierungsführung Kopfschütteln lassen.

Oft sucht dann die Öffentlichkeit nach rationalen Erklärungen. Laut Israels Führung hat die Operation "Gegossenes Blei" zum Ziel, die Hamas entscheidend zu schwächen, wird berichtet. Sicherheit im Süden, das ist das eine „rationale“ Ziel. Darüber hinaus geht es darum, das Image eines starken Landes, das sich gegen jede Anfeindung mit Erfolg wehren kann, wiederherzustellen. (Auch die anstehenden Wahlen werden als Grund genannt. Dazu habe ich mich hier geäußert: "Knessetwahl in Israel als Kriegsgrund?")
Im Ergebnis erreichen sie genau das Gegenteil: Die Extremisten werden mittel- bis langfristig Auftrieb bekommen und das Image von Israel in der Welt ist schwer angekratzt.
Ach ja, in der öffentlichen Debatte wird auch als eine „Logik“ dieser Militäraktion die Abstrafung der palästinensischen Bevölkerung genannt, mit dem Ziel, dass diese sich dann gegen die Hamas auflehnen soll. Nach dem Motto: “Seht her, mein Haus liegt in Trümmern meine Kinder sind verletzt oder tot und wenn Ihr Hamasleute keine Raketen auf Israel abgefeuert hättet, dann wäre dies nicht passiert, also jage ich Euch aus dem Land!“
Man fragt sich, wer ernsthaft eine solche Logik glaubt? Wenn ich wirklich eine Opposition gegen radikale Kräfte stützen will, dann unterstütze ich die zivilen Strukturen und die Bevölkerung. Dann helfe ich ihnen bei dem Aufbau einer lebenswerten Zukunft. Dann stelle ich mich selbst nicht als Feindbild zur Verfügung. Wie soll denn ein Palästinenser Kraft und Mut dazu sammeln, alternative Wege als die der Radikalen zu unterstützen, wenn sein ganzes Leben am Boden liegt und er kriegstraumatisiert in eine ungewisse Zukunft schaut?

Man fragt sich also, ob die Führung überhaupt an Frieden und Sicherheit interessiert ist? Oder ob sie den Konflikt auch für die nächste Generation am Laufen halten will, damit wieder aufeinander geschossen werden kann, damit wieder ein äußerer aktiver Feind bereit steht, damit weiterhin „Giftcontainer“ gefunden werden können?

Eine militärische Operation, die rein zur Verteidigung dient, nennt man wohl kaum „gegossenes Blei“ (übrigens laut Wikipedia - Stand 05.01.2009 - lehnt sich diese Bezeichnung an ein israelisches Kinderlied an, was ich schon mal sehr merkwürdig finde, gerade auch im Kontext dieses Blogs); man spricht nicht von einem „Kampf bis zum bitteren Ende“ (Verteidigungsminister Ehud Barak, vgl. ZEIT-Online, 31.12.2008, „Der Krieg nach dem Krieg“), wenn man „verhältnismäßig“ vorgehen möchte; da Militante wohl kaum damit aufhören werden, Israel regelmäßig mit Raketen zu beschießen, wird es wohl - wenn es nach der Außenministerin geht - kein Ende der Offensive geben; denn Zipi Livni hatte laut einem SPIEGEL-Online Artikel betont, Israel werde die Militäroffensive im Gaza-Streifen so lange weiterführen bis der Beschuss aufhöre (vgl. SPIEGEL-Online, 02.01.2009, Israel rüstet sich für "Tag des Zorns"); dass haufenweise Zivilisten in einem der am dichtesten bevölkertsten Landstriche der Welt getroffen werden, war sagen wir todsicher, die Botschaft des Staates Israel ließ dagegen am 28.12.2008 verlauten, dass es sich beim Großteil der Opfer der gegenwärtigen Militäroperation im Gaza-Streifen ohnehin um Terroristen der Hamas handele. Ein Hohn, wenn man sich im Rückblick vor Augen führt, dass schätzungsweise 1,5 Millionen Tonnen Sprengstoff auf Gaza abgeworfen wurden, das macht pro Kopf der Bewohner eine Tonne! (vgl. Bericht "Eine Tonne Sprengstoff pro Kopf")

An dieser Stelle möchte ich auf einen Text hinweisen, der erschreckende Ansichten und Verhaltensweisen von israelischen Soldaten während der 1. Intifada darstellt: „Wenn israelische Soldaten das Schweigen brechen“ von Dalia Karpe, 21.09.2007 (gekürzte Übersetzung einer akademischen Forschungsstudie von Nofer Ishai-Karen und dem Psychologieprofessor Joel Elzur der hebr. Universität, die im ALPAYIM-Magazin, Vol.31 veröffentlicht wurde). Vier kurze Auszüge:

Ilan Vilenda, ein israelischer Soldat: „Wir - israelische Soldaten - wurden dorthin gebracht, um Palästinenser zu bestrafen. (...) Unser Job war es, sie zu schlagen. Ich persönlich schlug zwei Jungen Ich benützte meine Hände oder den Gummiknüppel. Die erwachsenen Palästinenser schlugen wir stärker. Wir handelten wie Polizisten, aber wir handelten jenseits des Gesetzes.“

Soldat B.: “Es war meine erste Patrouille. Die andern schossen einfach wie verrückt. Ich begann, so wie sie zu schießen. Sie hetzten mich auf. Ich nahm meine Waffe und schoss. Keiner war da, der mir etwas anderes sagte.”

Soldat C: “Die Wahrheit ist, dass ich dieses Chaos liebe - ich habe Spaß daran. Es wirkt wie Drogen. Wenn ich nicht wenigstens einmal die Woche eine Rebellion niederschlagen kann, dann werde ich verrückt.”

Soldat D: “Was großartig ist, ist dass man hier keinen Gesetzen und Regeln folgen muss. Man hat das Gefühl, selbst Gesetz zu sein. Ich kann entscheiden. Wenn man in die besetzten Gebieten geht, ist man wie Gott.”

Hier zeigt sich exemplarisch insbesondere an Hand der Aussagen von C. und D., dass emotionale Gründe im Vordergrund stehen, wenn man sich mit den Akteuren in Ruhe unterhält. Vermutlich wird man in einigen Jahren ähnliche Aussagen von israelischen SoldatInnen bekommen, wenn man diese rückblickend zu ihrem Einsatz in Gaza befragt.
Man fragt sich was wohl die Führung bei ihrer Entscheidung zur aktuellen militärischen Aktion gefühlt hat? Meines Wissens nach werden Führungspolitiker von JournalistInnen selten oder nie nach ihren Gefühlen gefragt, was eine erhebliche Lücke darstellt. „Herr George W. Bush, was fühlten Sie, als sie den Befehl zum Angriff auf den Irak gaben?“ „Herr Ehud Olmert, was fühlten Sie, als Sie ihre Zustimmung zur Operation gegen die Hamas gaben?“ Nun sind Politiker Vollprofis und antworten vielleicht nicht so direkt, wie einfache Soldaten. Trotzdem wäre eine solche Fragestellung und die Reaktion interessant. Wenn dann z.B. als Antwort käme, „ich fühlte gar nichts“, dann wäre das auch eine sehr aussagekräftige Antwort.

Oft heißt es, bei einem Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Ich würde sagen, dass zuerst der rationale Verstand und das Mitgefühl stirbt und dann eine kollektiv psychotische Episode folgt.

Es gibt bei Kriegen eigentlich immer drei entscheidende Punkte, die das ganze schon vor der Offensive zur Niederlage machen.

1. Es werden insbesondere auch Kinder (die nächste Generation) traumatisiert.
2. Es sterben Zivilisten, was den Hass auf den Angreifer und den Extremismus nährt.
3. Eine Generation von jungen SoldatInnen wird durch die Kriegshandlungen traumatisiert und brutalisiert. Ihre Taten, Erlebnisse und Gefühle nehmen sie mit zurück in Ihre Heimat und in ihre Familien.

Hier noch einige kurze aussagekräftige Positionen zum Nachdenken:

Eyad al-Sarat (Leiter der einzigen Psychiatrie in Gaza) macht sich Sorgen - nicht nur wegen der aktuellen Situation, sondern auch wegen dem, was die gegenwärtigen Erfahrungen der Kinder im Gaza-Streifen in der Zukunft auslösen könnten. Denn die Kinder erlebten sehr bewusst mit, dass niemand ihre Sicherheit garantieren könne, nicht einmal die eigenen Väter. Das mache sie anfällig dafür, später radikaler Rhetorik anheimzufallen. "So schafft man neue Extremisten", sagt der Arzt. "Das ist Israels größter Fehler." (vgl. SPIEGEL-Online,
29.12.2008, „Jeder hat nur noch Angst“)

"Am letzten Abend war ich eingeladen bei einer Familie mit einer siebenjährigen Tochter. Die sagte zu mir: »Wirst du denn auch jüdische Menschen treffen, wenn du jetzt ausreist?« Und da habe ich gesagt: »Selbstverständlich.« Dann fragte sie, ob ich denn da keine Angst hätte. Ich habe geantwortet: »Nein, es sind ja nicht alle Menschen in Israel solche, die euch vernichten wollen oder euch angreifen.« Das hat sie mir nicht geglaubt." Dr. Ralf Syring nach einem Besuch im zerstörten Gaza-Streifen.

Auf den Hinweis eines SPIEGEL Redakteurs, dass Israel die Raketenüberfälle von islamistischen Freischärlern ein für allemal beenden wolle antwortete der ehemalige UNO-Generalsekretär Butros Ghali: „Was das Militär jetzt tut, richtet hundertfachen Schaden an, mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Region, natürlich auch für die Israelis.“ und an einer anderen Stelle sagte er: „Schon jetzt steht fest, dass der israelische Angriff auf Gaza eine Katastrophe ist. Diese Militäroperation verschafft den Fundamentalisten Auftrieb - nicht nur in Palästina, sondern auch in allen anderen arabischen Ländern. Ich wundere mich, dass Israel das nicht gemerkt hat.„ (SPIEGEL-Online, 03.01.2009, "Israel ignoriert die Tatsachen")

Die Rufe nach Frieden in der israelischen Bevölkerung sind laut aktuellen Berichten bisher sehr leise. Doch ausgerechnet 500 Bewohner des Städtchens Sderot haben eine Petition unterschrieben, in der die Armee aufgefordert wird, ihre Operationen im Gaza-Streifen einzustellen und den Waffenstillstand zu erneuern. Sderot ist nah am Gaza-Streifen gelegen und der Ort, der am häufigsten von den Raketen palästinensischer Militanter getroffen wird. Denn eine militärische Operation, so Arik Yalin (der die Bürgerbewegung ins Leben gerufen hat), werde nur den Hass auf beiden Seiten vertiefen. (SPEIEGL-Online, 30.12.2008, "Es wurde höchste Zeit, dass Israel zurückschlägt")

Diese o.g. Positionen sind für jeden nachvollziehbar und derart offensichtlich, dass man Israels Aktion – trotz des regelmäßigen Beschusses durch Raketen - als irrational bezeichnen muss! Das Unverständnis mit dem man als Mensch vor einem Krieg steht, ist wirklich berechtigt. Krieg ist in der Tiefe rational nicht zu erklären. Emotionale Gründe und Störungen scheinen hier zu dominieren und zwar sowohl bei den Palästinensern als auch bei den Israelis.

DeMause zeichnet ein eindrückliches Bild von der elterlichen Gewalt gegen Kinder in islamisch, fundamentalistischen Familien und Gesellschaften und betont die weite Verbreitung von sexuellem Missbrauch in Palästina. (vgl. deMause, 2005, S. 40)
Laut UNICEF erleben in Palästina nur 5 % der Kinder keine Gewalt (damit ist dieses Land "Spitzenreiter" im UNICEF Report), 70 % erleben psychische und körperliche Gewalt, 23 % erleben nur psychische Gewalt und 2 % nur körperliche Gewalt. Die Gewalt geht dabei häufig von nahen Bezugspersonen der Kinder aus. (diese Info wurde am 16.10.09 nachgetragen, vgl. UNICEF, September 2009: Progress for Children - A Report Card on Child Protection, S. 8)
Im Grundlagentext schrieb ich bereits unter Bezug auf eine Quelle aus dem Jahr 2003:
Die palästinensischen Kinder sind einer ständigen Angst ausgesetzt. Sie werden Zeugen der Bombardements und des panikartigen Verhaltens ihrer Eltern. Das Ergebnis dieser Situation ist, dass 40 % der Kinder glauben, ihre Eltern könnten sie nicht mehr schützen. Von 3.000 befragten Heranwachsenden bestätigten außerdem 55 %, dass sie hilflose Zeugen waren, wie ihr Vater von israelischen Soldaten geschlagen wurde. Fast 32 % der Kinder haben starke posttraumatische Störungen. Von 945 untersuchten Kindern litten alle an einem direkten oder indirekten Trauma sowie den Folgen posttraumatischer Störungen (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2003, S.51ff) „Besonders beunruhigend ist, dass 24 % der palästinensischen Kinder davon träumen als Märtyrer zu sterben, also Selbstmordattentäter zu werden. Das ist beängstigend, denn jeder Selbstmordattentäter von heute ist ein Kind der ersten Intifada. Und wenn die Kinder der ersten Intifada schon so traumatisiert sind, dass allein 24 % von ihnen Märtyrer werden wollen, dann kann man sich vorstellen, was für zukünftige Politiker, Lehrer und Richter wir in diesem Land haben werden.“ (ebd., S.55) (Interessant wäre es, die palästinensischen Kinder zusätzlich zu Gewalterfahrungen in ihren Familien zu befragen und evtl. Zusammenhänge zwischen kumulierten traumatischen Erfahrungen und eigenen Gewaltfantasien und –handlungen herauszufinden.)

Auch folgende Zahlen machen deutlich, wie sehr hier psychische Störungen auf beiden Seiten das Fundament des Konfliktes sind: Laut einer Untersuchung an der Universität Tel Aviv sind 70% der palästinensischen Jugendlichen und 30 % der Kinder israelischer Siedler wegen dem Nahost-Konflikt traumatisiert (645 jüdische Israelis und 552 arabisch-palästinensische Jugendliche wurden befragt). (vgl. National Zeitung und Baseler Nachrichten, 03.07.2002, „Die Gewalt im Nahen Osten zerfrisst die Seelen der Kinder“)
Gemäß einer Studie leiden beinahe die Hälfte der israelischen Eltern und ein Drittel der Kinder in Sderot an post-traumatischem Stress. (vgl. Artikel von Eli Ashkenazi und Auszüge aus einem Artikel von Amos Harel, Ha’aretz, 13.06.2006, „Kassam-Beschuss:
Kinder in Sderot leiden an post-traumatischem Stress“
)

Für die israelische Seite fand ich aussagekräftige Zahlen zum sexuellen Missbrauch an Kindern. Im Jahr 2007 gab es in Israel über 41.000 Missbrauchsfälle (Hellfeld), die zur Anzeige gelangten - 1997 waren es noch 21.000. (vgl. Jüdische Zeitung, Oktober 2008, „Rose Pizems Nachlass. Die Zahl der Kindesmisshandlungen in Israel ist drastisch gestiegen“) Die israelische Bevölkerung umfasste 2007 insgesamt 6.426.679 Menschen. Dazu mal ein Vergleich: Im Jahr 2005 kamen in Deutschland 17.526 Fälle von sexuellem Missbrauch zur Anzeige. Die deutsche Bevölkerung umfasste im selben Jahr 82.431.390 Menschen. Israel hat im Verhältnis zu Deutschland 7,8 % Einwohner und dabei 134 % mehr Missbrauchsfälle. Eine erschreckend hohe Zahl (auch wenn man die Zahlen aus dem Jahr 1997 zu Grunde legt und ins Verhältnis setzt)! Man bedenke an dieser Stelle auch, dass hinter jedem „Hellfeldfall“ ein vielfaches an Dunkelfeld steht. Es verwundert also kaum, dass nach einer Dunkelfeldstudie von Schein et al. (2000) 31% der befragten israelischen Frauen über eine Form von sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit berichten. Von den in der Studie befragten Männern gaben 16 % an, sexuell missbraucht worden zu sein.(Insgesamt wurden 1.242 Personen befragt) (vgl. Pagovich, O. 2004: Israel. In: Malley-Morrison, K. (Hrsg.): International Perspectives on Family Violence and Abuse. A Cognitive Ecological Approach. Routledge, S. 192)
Außerdem wird auf Grundlage von angezeigten Fällen geschätzt, dass von den ca. 2 Millionen israelischen Kindern 300.000 (also 15 %) gefährdet sind, Kindesmisshandlung zu erleben. (ebd.) Einer Studie von Sternberg & Krispin (1993) nach erlebten 30 % (33 von 110) der befragten israelischen Kinder körperliche Misshandlungen durch ihre Eltern innerhalb von 6 Monaten vor der Befragung. (ebd.)

Es sind zusammengefasst also zwei wesentliche tiefere Ursachen des Konfliktes sehr wahrscheinlich: Das hohe Ausmaß an Gewalt gegen Kinder und die hohe Traumatisierungsrate der Menschen durch das Kriegsgeschehen auf beiden Seiten. Somit kann der Konflikt aus meiner Sicht langfristig nur gelöst werden, wenn die Gewalt gegen Kinder erheblich reduziert wird und wenn traumatisierten Menschen systematisch und umfassend psychologische Hilfe zu Teil wird. Ein nachhaltiger Frieden ist immer ein innerer Prozess, kein äußerlicher, keiner durch Macht und Gewalt „gesicherter“.

"Die Armee kommt in Israel gleich nach Gott.", sagt eine Aktivistin von "Machsom Watch". Bereits Kinder würden dazu erzogen, den Armeedienst hochzustilisieren. Der Armeedienst in Israel sei das wichtigste gesellschaftliche Übergangsritual und würde zu einer starken Militarisierung der jüdischen Gesellschaft führen. (in Israel verrichten Frauen 2 Jahre und Männer 3 Jahre den Militärdienst.) (vgl. Jüdische Zeitung, September 2008, „Wir sind in Israel die Ausgestoßenen.“; ergänzend Homepage von Machsom Watch)
Ich denke, dass die israelische Gesellschaft auch hier umdenken und mehr an einer zivilen Gesellschaft arbeiten sollte. An dieser Stelle sei auch an das Kapitel 5. im Grundlagentext erinnert.

Im Übrigen frage ich mich, ob man dem israelischen Volk nicht vermitteln kann, dass – wenn man es mal ganz kalt und rechnerisch betrachtete – seit 2000 bei den Raketenangriffen der Hamas auf israelische Städte 22 Menschen starben (vgl. SPIEGEL-Online, 09.01.2009, „Israel trotzt der Uno - Gaza-Krieg geht weiter“), ca. 3 pro Jahr und dass man bei allem Verständnis für das seelische Leid der Bevölkerung nicht bereit ist, kriegerisch zu reagieren (im Zeitraum 27.12.2008 bis 09.01.2009 wurden übrigens nach palästinensischen Angaben 780 Palästinenser durch israelische Angriffe getötet. vgl. ebd.)?
Ich komme erneut zu dem Schluss, dass die israelische Reaktion irrational begründet zu sein schein. Sie macht einfach keinen Sinn. Man muss hier also vielmehr nach den emotionalen (unbewussten) Motiven suchen.

Ich frage mich, was passieren würde, wenn beide Seiten keine klaren Feindbilder mehr hätte? Könnten Sie überhaupt ohne Feind existieren? Wie sagte noch Soldat C.: „Wenn ich nicht wenigstens einmal die Woche eine Rebellion niederschlagen kann, dann werde ich verrückt.“

Hinweis: Diesen Beitrag habe ich um einige wichtige Informationen ergänzt, denn ganz offensichtlich gab es auch alternative Wege, den Beschuss zu stoppen. Lesen kann man diese hier.