Als ich das erste mal „Das emotionale Leben der Nationen“ von Lloyd deMause las (seine Zusammenfassung psychohistorischer Forschung der letzten Jahrzehnte) war die Fantasieanalyse der Teil, den ich einfach erst mal merkwürdig fand. Psychoanalytiker arbeiten mit ihren PatientInnen ja routinemäßig mit der Deutung von Träumen, Bildern, Fantasien usw., um unbewusste Vorgänge deutlich zu machen. Dieses Verfahren ist anerkannt und verwundert heute keinen Menschen mehr.
Die PsychohistorikerInnen wenden im Prinzip in ganz ähnlicher Weise dieses Verfahren auf Nationen an. Stellvertretend für die vorherrschenden Gruppenfantasien werden Zeitungen, (politische) Comics, Zeitungstitel- und bilder, Reden von PolitikerInnen usw. analysiert. DeMause machte mir deutlich, dass dieses ungewöhnliche Verfahren recht brauchbare Erkenntnisse zu Tage führen kann. Das Verfahren hat für mich immer mehr an Merkwürdigkeit verloren. Es macht Sinn, auch wenn es im ersten Moment geradezu dazu verleitet, sich über die Psychohistorie lustig zu machen, die „sich ja mit Comics beschäftigt“. Wenn man sich darauf einlässt, wird einem allerdings der Ernst der Sache deutlich. DeMause versucht durch dieses Verfahren z.B. Kriege oder auch Anschläge auf Staatschefs vorherzusehen (ohne Anspruch auf Perfektion und Eindeutigkeit der Methode). In seinem Buch machte er z.B. deutlich, wie sich das Attentat vom 30. März 1981 auf Ronald Reagan vorher in Medienbildern andeutete.
Ich selbst habe meinen Blick auf Nachrichten und Bilder nach der Lektüre von deMause verändert. (Mit einer Redeanalyse von Angela Merkel hatte ich schon ganz gute erste Erfahrungen gesammelt) Ob das brauchbar ist, wird sich zeigen. Ich komme ehrlich gesagt da ich beruflichen und familiär sehr eingebunden bin nicht dazu, jeden Tag ausführlich in den Medien zu lesen. Mein Blickfeld ist also sehr beschränkt und lückenhaft.
Am Montag, den 01.11.2010 fiel mir bei SPIEGEL Online ein hohes Ausmaß von emotionalen Kraftwörtern (möglichen Fantasiewörtern) in den Titeln und kurzen Unterschriften auf der Eingangsseite auf. Ich machte mir also die Mühe und schrieb diese einfach mal zusammenfassend auf:
Tödliche Erdrisse, verschluckt, unheimlicher, Untergrund, Bomben, Terror, Blutbad, Kämpfe, Terror, Angriff, Herz, verzweifelt, Trauer, Alleinsein, Einsamkeit, Trauer, Generalabrechnung, Watsche, attackiert, Wutanfall, Autoritär, Verletzung, großer Gier, Himmel und Hölle, Kämpfer, Heiliger, Held, Zombiejagd, Prügelkönig, vermöbelt, Gegner, Zombies, Werwölfe, Tod, Helden, Geburt, attackiert, Anorexie, hungert, Essstörung, Frauen, erschießt, Riesen, abgekippt, Terror, Terror, Sticheln, schimpfen, schelten, Wutanfälle, Himmel und Hölle, Finanzkrise, Armut, schlimm, Drogen, Alkohol, Heroin, Leichen, Prostituierte, schützen, Baby, vertuscht, heulen, verdammt, gefährliche, Gruseln, Kriege, Revolution, Bordell, stirbt, schlägt, Bösen, Terror.
Danach beobachtete ich die Folgetage und fand ähnliche Kraftwörter. Insofern dachte ich, Sven, vergiss das, Tagesnachrichten sind nun mal voll von negativen Kraftwörtern. Mach Deinen Blog nicht scheinbar „unseriös“, wenn Du auf solche Beobachtungen hinweist… Am 05.11. schrieb ich dann einen Beitrag: „Nachdenkliches zu Deutschland“. Denn mir fielen z.B. auch sehr emotionale Fernsehfilme, die über Kindesmisshandlung gingen auf (übrigens auch in der Folgezeit, nach diesem Beitrag). Ich beobachtete in diesem Monat vor allem die Onlinenachrichten vom SPIEGEL, DER ZEIT und der FAZ.
Am 15.11. fielen mir drei Titelsätze besonders auf:
„Mein Gott, wir müssen alle, alle sterben!“ FAZ 1511.2010
„Frau Merkel spaltet die Gesellschaft“ ZEIT 15.11.
„Auf der Suche nach dem Feind“ ZEIT 15.11.2010
Angst zu sterben, Angst vor Spaltung, auf der Suche nach dem Feind. Alles ganz normale Tagesnachrichten? Ich dachte, ja, wahrscheinlich. Vielleicht übertreibe ich ja auch?
Am 17.11. folgten dann die Medienmeldungen für eine konkrete Terrorwarnung für Deutschland von Thomas de Maizière. Seit dem verschwanden die vielen Kraftwörter, wie ich sie oben dargestellt habe aus den Nachrichten. Natürlich fanden sich weiter Wörter wie „Terror“, „Bedrohung“ usw. Aber nicht dieses Wirrwarr an diversen Kraftausdrücken, wie ich es oben z.B. für den SPIEGEL beschrieben habe. Dieser Wegfall machte mich dann doch stutzig und deshalb schreibe ich jetzt doch etwas in Form diesen Beitrages dazu.
Deckelt ein konkreter möglicher Feind von außen also in der Tat angsterfüllte Fantasien, die mit destruktiven Kindheitserfahrungen zusammenhängen?
Ich will hier nicht sagen so und so ist es. Dafür bin ich zu sehr Laie und Neuling bzgl. der psychohistorischen Fantasieanalyse. Ich möchte hiermit also erst mal meinen aktuellen Stand der Dinge festhalten, so wie ich gerade die emotionalen Entwicklungen beobachte. Vielleicht kann ich das noch in einigen Wochen ausweiten. Für mich ist das ganze ein persönliches Experiment und ein Ausprobieren. Es kann alles Quatsch sein, es kann vielleicht auch etwas aussagen. Mal sehen, wie sich die Medienbilder weiter entwickeln.
Freitag, 19. November 2010
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2 Kommentare:
Neulich habe ich gehört, daß solche großen Angstthemen wie Terror als "Angstsammler" dienen, die quasi die vielen kleinen Ängste die nunmal zum täglichen Leben gehören 'absorbieren' oder überdecken oder wie immer genau dieser Mechanismus funktionieren mag.
Ich bin auch nicht vom Fach, aber für mich klingt das sehr einleuchtend.
Dumm nur, daß es meisstens gar nicht die realen Bedrohungen sind, vor denen die Masse am meissten Angst hat sondern sich die Ängste auf Nebenprobleme oder sogar auf ganz falsche Objekte richtet.
"Dumm nur, daß es meisstens gar nicht die realen Bedrohungen sind, vor denen die Masse am meissten Angst hat sondern sich die Ängste auf Nebenprobleme oder sogar auf ganz falsche Objekte richtet."
Sehr schöner Satz! Den kann ich nur unterschreiben.
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