Wirklich überrascht hat mich der aktuelle, ausführliche Artikel „Tatort Elternhaus“ von Caroline Fetscher, der in der ZEIT und auch im Tagesspiegel erschienen ist. Solcher Art Artikel sind es, die unsere Gesellschaft braucht, um sich zu bewegen und um Dinge bewusst zu machen! Ich denke, dass wir zukünftig mit mehr in dieser Richtung rechnen können. Jüngere AutorInnen wie die oben benannte machen sich in der Medienlandschaft breit. Diese neue Generation wird ganz anders mit dem Thema umgehen können, als die Generationen davor. Wir dürfen auf die weitere Entwicklung gespannt sein.
Hervorheben möchte ich, dass in dem Artikel auf die Schwedin Ellen Key („Jahrhundert des Kindes“) und auch auf Lloyd de Mause und seine „Evolution von Kindheit“ relativ ausführlich eingegangen wurde. Auch die möglichen politischen Auswirkungen der Gewalt gegen Kinder wurde zumindest in einem Satz erwähnt: „ (…) Einschüchterung, Schuld und Gewalt geprägte Klima, in dem Anfang des 20. Jahrhunderts jene deutschen Kinder heranwuchsen, die später als Täter oder Mitläufer den Faschismus möglich machten.“
Besonders interessant fand ich auch folgende Textstelle: „Keine Frage, gewaltige Residuen aller vergangenen Epochen wirken bis heute nach und weiter. Auffällig offen überwintert die Gewalt in der Sprache, die wir verwenden. Gewaltmetaphern werden täglich und sorglos verwendet: Menschen bei Maischberger fragt, "Warum verprügeln wir Schwarz-Gelb?", der Steuerzahler "muss bluten", die Regierung "plant Grausamkeiten", ein Politiker "wird abgewatscht". Abend für Abend serviert das Fernsehen Schlägereien, Schießereien, Vergewaltigungen, Raub und Mord. Gewalt ist omnipräsent. Überwunden ist die Vorstellung, Konflikte durch Gewalt auszuagieren, noch lange nicht.“ Das ist etwas, was ja auch die psychohistorische Forschung mit ihrer Fantasieanalyse von Medien, politischen Reden und Cartoons darzustellen versucht: Wie führt sich die Kindererziehungspraxis (verdeckt) in Worten und Bildern in den Medien wieder auf?
Wichtig fand ich auch den Hinweis auf psychische Gewalt, darauf wird leider viel zu selten hingewiesen. „Zahllose Kinder hören Tag für Tag abwertende, entmutigende, gebrüllte, lieblose Botschaften. "Du machst mich krank", "du bist dumm", "immer bist du im Weg", "geh mir aus den Augen", "mit dir ist nichts anzufangen", "seit du auf der Welt bist, gibt es nichts als Ärger" – die Litanei ist uferlos. Wer als Kind mit diesem Hagel aufwächst, erfährt weder Selbstwert noch Schutz. Das ist die Entwürdigung, die im Gesetz zur gewaltfreien Erziehung ebenfalls erwähnt wird. Psychische Gewalt. Aber "Entwürdigung" – diese Diagnose werde gar nicht gestellt, bedauert die Kinderärztin Winter. Den Kindern aber, die wie Hauspflanzen keine Wahl haben, zu entscheiden, wo sie leben, bleibt nichts übrig, als das vergiftete Wasser aus der Gießkanne im Elternhaus in sich aufzunehmen.“
Aufschlussreich und – ich muss gestehen - für mich nicht wirklich neu, weil ich solche Aussagen schon zu oft gehört habe, fand ich auch einige Kommentare der LeserInnen. Hier findet man u.a. die "Identifikation mit dem Aggressor" wieder. Besonders erschreckend, aber leider Realität und hoch wirksam, ist die „Dankbarkeit“ für Schläge und „Einsicht“ der Geschlagenen.
Im Tagesspiegel:
„Eine gewisse Züchtigung hatte mir keineswegs geschadet, sondern vor größerem Schaden bewahrt und auch ein klein wenig Gehorsam beigebracht.“
„mein gott, was fuer ein sozialarbeitergewinsel. eine ohrfeige ist keine physische misshandlung. um ein kind von grossem bloedsinn abzuhalten wenn alle noch so gute argumente und strenge worte nichts helfen, kann man auch mal einen klapps auf die finger geben.“
In der Zeit:
„aus persönlicher Erfahrung während meiner eigenen Kindheit weiß ich, dass das vorhandensein von körperlicher Gewalt nicht im Allgemeinfall schädlich für ein Kind sein muss. (…) Aber wenn ich und mein Bruder mal so richtig scheiße gebaut haben, gab es als Bestrafung durchaus Klapse auf den Arsch. Ja, die taten schon weh, auch wenn wir irgendwann merkten, dass sie gar nicht so schlimm waren (der psychologische Effekt war ziemlich groß). Aber ich habe dies nie als Misshandlung empfunden, sondern als ziemlich gerechtfertigte Bestrafung. (…)würde mich persönlich wirklich interessieren, ob hier jeder der Meinung ist, dass eine Erziehung grundsätzlich gewaltfrei sein muss. Das sehe ich ehrlich gesagt nicht so - es gibt nur eben verschiedene Formen von Gewalt.“
„Kinder brauchen Grenzen, Grenzverletzungen erfordern Konsequenzen. Konsequenzen müssen dem Kind in irgendeiner Form "weh" tun, sonst sind es keine. Ein unmittelbarer "Klaps" auf den Hintern ist manchmal für BEIDE Seiten die beste Lösung.“
„Der Klaps auf dem Hinterkopf kann ein probates Mittel sein, um Kindern Grenzen zu setzen. Gewalt ist dem Kind dabei im eigentlichen Sinne nicht widerfahren." Selber Leser an anderer Stelle: „Ich selbst habe mal 10 Ohrfeigen hintereinander bekommen als 12-jähriger. Das war einem Machtkampf geschuldet, ich habe das nie dem Erzieher nachgetragen, im Gegenteil, weil ich verstand, warum dies geschah, habe ich mich schließlich gebeugt und die Angelegenheit als notwendig betrachtet. Bis heute bin ich diesem Erzieher (Internat) dankbar, nicht wegen der Ohrfeigen, die eine Ausnahme darstellten. Aber sie gehörten dazu.“
„Mit einem "Klaps" auf den Po kann ich mit mir noch reden lassen. Ein Schlag auf den Hinterkopf ist eine ganz andere Dimension.“
„einem Kind das sich nach Vorwarnungen weiterhin total daneben benimmt,eine runterzuhauen, finde ich gerechtfertigt. Sonst passiert ihm das als Erwachsener, und dann ist es schlimmer. Wir haben das bei unseren jetzt erwachsenen Kinder praktiziert (weniger als 1 mal pro Jahr und nie mehr ab 6 oder 7) und sie sind uns dankbar dafuer.“
"Zudem sind körperliche Erziehungsmittel (wozu ja beispielsweise auch Festhalten zählt) eher für jüngere Kinder geeignet (...) warum schließlich sollte mich jemand strafen, es sei denn, dass ich aus Mutwillen provoziert habe. Und ich habe gerne provoziert und sehr bewusst die Grenzen ausgetestet. Die Strafe habe ich mutwillig in Kauf genommen. Einmal sagte meine Großmutter mir, es gäbe eine Ohrfeige für jede Minute, die ich zu spät komme (zugegebenermaßen etwas übertrieben). Ich war pünktlich daheim, habe aber 3 Minuten vor der Tür gewartet, nur um zu sehen, ob sie es durchzieht. Hat sie. Aber ich bin bis heute stolz, dass ich es probiert hab und ihr nicht böse. Ich hätte die Strafe ja vermeiden können, wenn ich gewollt hätte."
"Tatsächlich sind Backpfeifen auch eine Art der Zuwendung, sogar positiv zu werten, falls es die einzige ist. In der Not frisst der Teufel Fliegen."
Einen Kommentar anderer Art möchte ich hier abschließend auch zitieren: „Wenn eine Ohrfeige keine körperliche Gewalt ist, dann müsste das ja für alle gelten und jeder jeden ohrfeigen dürfen. Und Sie hätten sicher nichts dagegen, wenn ich davon Gebrauch mache, falls wir uns mal begegnen sollten.“
Mittwoch, 8. Dezember 2010
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7 Kommentare:
Schlimm. Eine Ergänzung aus subjektiver Erinnerung: Ich war auf Beschluss des Jugendamtes und trotz erheblicher Gegenwehr seitens der Familie meines toten Vaters einer psychisch kranken allein erziehenden Mutter ausgesetzt. Ich wurde nicht geschlagen. Ich wurde jeden Tag nach der Schule eingesperrt und psychisch fertig gemacht als der an ALLEM in ihrem Leben Schuldige. Meine gesamte Existenz war SCHULD. Ich MUSSTE dabei auch stets dankbar sein, NICHT geschlagen zu werden. Ich hatte dankbar, verständnisinnig und liebevoll zu lächeln. Ich weiß nicht, was diese Frau bemacht hätte, wenn sie handgreiflich geworden wäre. Aber wenn ich von anderen hörte, dass mit einer strafenden Tracht Prügel ein Thema "erledigt" sein kann, dann beneidete ich sie.
Psychische Gewalt ist schlimm und folgenreich. Vor allem wird sie wenig bis selten wahrgenommen, weil sie keine offenen Spuren hinterlässt.
Allerdings geht körperliche Gewalt immer auch mit psychischer Gewalt einher. Das sollte nicht vergessen werden.
Alles Gute für Dich, Kalif!
Es ist alles sehr schwierig und ich kann mich nur vorsichtig vorantasten, da ich nur von dem reden kann, was ich selbst erfahren habe. Hast Du physische Gewalt erfahren? Die psychische, die ich erfahren habe, hat sich auch physisch ausgewirkt und ich kenne Menschen, die psychisch unter physischer Gewalt gelitten haben. Ich selbst habe sehr selten (drei-, viermal) von Stärkeren bzw. Älteren physische Gewalt erlitten, aber nie sehr ernsthaft (mit ernsthaften Verletzungen oder so). Psychisch hat mich das nicht mitgenommen - ich war schon anderweitig "besetzt" und mit den Zufallstätern verband mich nichts, so dass es mit rasch abklingendem physischem Schmerz getan war. Dies soll natürlich kein Urteil über Erfahrungen anderer sein, aber - es ist nicht so einfach... Wie sind Deine persönlichen Erfahrungen? Du beschäftigst Dich ja auffällig intensiv mit Gewalt.
Ich selbst habe nie körperliche Gewalt erlebt, nicht mal einen kleinen Klaps oder so. Ansonsten habe ich mich auch dazu hier geäußert: http://kriegsursachen.blogspot.com/2010/06/alice-millers-sohn-martin-uber-eine.html (letzter Teil im Text) Vielleicht reicht Dir das als Antwort.
Ich beschäftige mich in der Tat auffällig viel mit Gewalt :-). Irgendwie ist das ein Selbstläufer geworden, aus persönlichen Hintergründen (wobei ich auch viel für mich bearbeitet habe), aber ganz sicher auch aus dem Willen, dass sich etwas in der Gesellschaft bewegt und die Leute die tieferen Ursachen von Gewalt besser verstehen. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass die Punkte, die ich in meinem Blog bespreche, in gesellschaftlichen, medialen Diskussionen unter den Tisch fallen. Irgendwie treibt es mich da an, dies etwas zu verändern.
Hallo,
aber sind denn wirklich viele Eltern so, wie in dem Zeitungsartikel beschrieben?
Vielleicht haben Sie auch schon von dem Thema verlassene Eltern in den Medien gelesen oder TV-Berichte gesehen. Es gibt da auch so eine Selbsthilfegruppe mit eigener Homepage.
Über die Google-Suche findet man sehr viel zu diesem Thema und auch viele Kommentare von verlassenen Eltern und auch erwachsenen Kindern (nicht die eigenen) dazu.
Inzwischen gibt es immer mehr erwachsene Kinder, die von ihren Eltern sehr liebevoll erzogen worden sind, die aber ohne Grund und ohne sich ihren Eltern zu erklären, den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen haben.
Man könnte an den Universitäten doch vielleicht mal über Studien untersuchen, warum Kinder grundlos den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen. Viele Eltern leiden sehr darunter. Und Kontaktabbrüche seitens der erwachsenen Kinder sollte man am besten verhindern, damit ihre Eltern nicht mehr leiden. Vielleicht könnten ja Universitäten, Psychologen und vielleicht auch die Politik zusammenarbeiten, um Kontaktabbrüche von erwachsenen Kindern zu ihren Eltern zu verhindern und die erwachsenen Kinder, die jetzt schon den Kontakt abgebrochen haben, wieder zu ihren Eltern zurückzuführen. Dann brauchten ihre Eltern nicht mehr traurig sein.
Hallo Anonym,
ich glauibe nicht daran, dass Kinder ihre Eltern "einfach so" und "ohne Grund" verlassen bzw. den Kontakt abbrechen. Ich bin allerdings sicher, dass betroffene Eltern real unter dem Verlust leiden und sich auch "keiner Schuld" bewusst sind. Die meisten Eltern, die ihre Kinder schlagen, sagen ja auch, dies geschieht aus "Liebe" und "Fürsorge" heraus.
Man sollte da vorsichtig sein, was entsprechende Eltern so alles erzählen, ohne dass man die Sicht des Kindes hört.
Zu den verlassenen Eltern kann ich aus eigener Erfahrung sagen: Es gibt immer einen Grund, aus dem die Eltern verlassen werden. Es gab ihn bei mir, und wann immer ich mich mit anderen Beispielen beschäftige, stelle ich fest, dass es einen oder mehrere Gründe bei anderen Kindern gibt, die den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen.
Die Eltern können oder wollen den Grund nicht sehen. Das ist sicher auch sehr schwer, aber es ändert nichts daran, dass sie den Grund wissen könnten, wenn sie sich intensiv und ehrlich mit den Kindern und sich selbst auseinandersetzen würden.
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