Donnerstag, 31. Januar 2013

Ägypten. Die Ursachen der gescheiterten Revolution liegen im Verborgenen






 (Bild: Graffiti in Ägypten. Präsident Mursi als Krake. Ein Anzeichen dafür, dass auch beim aktuellen Handeln der Opposition emotionale Prozesse im Hintergrund wirken. Mehr zu der Bedeutung derartiger Bilder siehe hier)


Am 01.02.2011 zitierte ich eine Studie aus dem Jahr 1998, die ergab, dass in Ägypten  26 % der Kinder auf Grund von Misshandlungen über Knochenbrüche, Bewusstlosigkeit oder eine bleibende Behinderung berichteten. Ich fragte, ob eine Nation, die zu einem erheblichen Anteil aus einst schwer misshandelten Kindern besteht, eine friedliche Revolution schaffen  und eine echte Demokratie aufbauen kann. Grundsätzlich ist vieles möglich. Aber: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Wege einer derart in der Tiefe traumatisierten Nation friedlich verlaufen, sind nicht wirklich hoch. Dies möchte ich jetzt weitgehender kommentieren. Aber vorher noch ein paar ergänzende Zahlen:

Laut UNICEF (2009 – „Progress for Children. A Report Card on Child Protection“) erlebten in Prozent der ägyptischen Kinder (2- bis 14-Jährige) psychische und/oder körperliche Gewalt (wobei die Mehrheit beides erlebte) 92 %. 68 % erlebten körperliche und psychische Gewalt, 22 % nur psychische Gewalt und 2 % nur körperliche Gewalt. (S. 8) 40 % der Kinder erlebten besondes schwere Formen der körperlichen Gewalt. Dazu zählten Schläge ins Gesicht, an den Kopf oder auf die Ohren, wiederholt oder besonders hart ausgeführt. (S. 29)

Weitaus mehr in die Tiefe ging die Studie „International Variations in Harsh Child Disciplin“, veröffentlicht 2010 in dem Journal Pediatrics. Diese zeigt, das Kinder in Ägypten häufig u.a.  besonders brutale/schwere Formen  körperliche Gewalt erleben, nämlich insgesamt 28 % (darunter fielen: Schütteln von Kindern unter 2 Jahren = 12 %, Verbrennungen zufügen = 2,2 %, zusammenschlagen/durchprügeln = 24 %, würgen = 0,8 %, Luft zum Atmen nehmen = 0,6 %, Tritte = 5,4 %) Werden Schläge mit einem Gegenstand mit eingerechnet (was – so die Forscher - auch als schwere Gewalt bezeichnet werden kann) dann erleben sogar insgesamt 46 % der Kinder schwere körperliche  Gewalt. Leichtere Formen von körperlicher Gewalt erleben 81 % der Kinder. Besonders schwere Formen von psychischer Gewalt erleben 64 % aller Kinder, leichtere Formen 77 %.
Schaut man gesondert auf die Datenauswertung bzgl. der verschiedenen Altersgruppen, ergibt sich zusätzlich ein ergänzend erschreckendes Bild. Die besonders sensible Gruppe der unter 2 Jahre alten Kinder erlebt bereits zu 14 % schwere Formen Körperlicher Gewalt (diese Zahl gilt sowohl ohne die Verwendung von Gegenständen laut o.g. Definition wie auch mit Gegenständen), also ca. jedes 7. Kind! Ebenfalls 14 % dieser Gruppe erlebt besonders schwere Formen psychischer Gewalt.

Die o.g. Zahl von 46 % (inkl. Körperstrafen mit einem Gegenstand) ist ein Durchschnittswert, der sich u.a. daraus ergibt, dass die unter 2 Jahre alten Kinder weniger schwere Formen erleben. Um so erschreckender ist es, dass zwei Altersgruppen deutlich über 46 % schwere körperliche Gewalt erleben; die 2-6 Jahre alten Kinder zu 50 % und die 7-11 Jährigen zu sogar 58 %. Die 12-17 Jährigen zu 45 %. Wenn man also die gesamte Lebensspanne der Kinder betrachtet, wird weit aus häufiger schwere Gewalt erlebt, als der Durchschnittswert von 46 % ausweist.

Für die Studie wurden Mütter zu dem Bestrafungsverhalten beider Elternteile innerhalb eines Jahres vor der Befragung befragt. D.h. das erstens evtl. manche Mütter das reale Ausmaß der Gewalt nicht genau angegeben haben und dass zweitens Gewalterfahrungen, die vor über einem Jahr stattgefunden haben (z.B. bei befragten Müttern, die ältere Kinder hatten, bei denen erfahrungsgemäß die Gewalt etwas abnimmt, da vor allem jüngere bis mittlere Kinder Gewalt erfahren), nicht erfasst wurden. Insofern ist davon auszugehen, das rückblickende Befragungen von Erwachsenen zu eigenen Opfererfahrungen sogar noch einmal höhere Raten ergeben würden, als die oben ermittelten.

Eine andere Studie (die ich hier ausführlich besprochen habe), hat auch die Häufigkeit des Gewalthandelns von Müttern abgefragt. Insgesamt werden dieser Studie folgend 76,3 % der ägyptischen Kinder durch Mütter körperlich bestraft. 2,8 % der Kinder werden mehr als einmal pro Tag körperlich bestraft, 3,5% einmal täglich und 39 % ein oder zweimal die Woche. Insgesamt werden also fast die Hälfte der Kinder (45,5 %) regelmäßig und oft geschlagen!

Eine große Studie (ausführlich hier von mir besprochen), die in Kairo und Alexandria durchgeführt wurde, ergab falgendes Bild:  Ca. 81 % der Kinder wurden zu Hause und 91 % in der Schule geschlagen. 27 % der Kinder, die arbeiten mussten, berichteten auch dort geschlagen worden zu sein. 90 % der Kinder erlebten emotionale Bestrafungen/Gewalt zu Hause und 70 % in der Schule, ebenso 50 % der arbeitenden Kinder an ihrem Arbeitsplatz. 40 % der Schulkinder zeigten Anzeichen für eine Entfremdung von ihren Familien.
51 % der Pflegepersonen (Haushaltsbefragung) berichteten, dass die Kinder in der Woche vor der Befragung geschlagen worden sind, 76 % berichteten von Schlägen innerhalb eines Monats vor der Befragung und 81 % von Schlägen innerhalb eines Jahres.
Schaut man gesondert auf die Altersstufe der 5-8Jährigen, dann werden ganze 94,7 % in irgendeiner Form körperlich bestraft/geschlagen (also deutlich mehr als der Durchschnittswert von 81 %).
51 % dieser Altersgruppe wird mit einem harten Gegenstand wie Gürtel oder Stock geschlagen. 46,5 % wird ins Gesicht geschlagen, 21,3 % werden niedergeschlagen. 7,2 % mit einem Messer verletzt, 5,9 % verbrannt u.a.

Außerdem sind Kinder auch in der Schule nicht sicher (was auch die vorgenannte Studie zeigte). In Ägypten werden 80 % der Jungen und 67 % der Mädchen in der Schule von Lehrern geschlagen. (Prohibiting all corporal punishment in schools: Global Report 2011, S. 7)

Für eine Studie zum Gewaltaufkommen gegen Frauen in Ägypten wurde vorhandene Literatur ausgewertet. Beispielsweise ergab eine Studie aus dem Jahr 1995, für die 6.566 Frauen befragt worden sind, dass 35 % körperliche Gewalt durch ihren Ehemann erlebt haben. Eine andere Studie aus dem Jahr 2005 (mit 5.613 Frauen) ergab, dass 36 % emotionale, körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch ihren Ehemann erlebt haben. 34 % berichten über körperliche und/oder sexuelle Gewalterfahrungen  (emotionale Gewalt weggelassen). (Somach, Susan D. & AbouZeid, Gihan (2009): EGYPT VIOLENCE AGAINST WOMEN STUDY. LITERATURE REVIEW OF VIOLENCE AGAINST WOMEN. S. 9+10) Sofern Kinder diese Gewalt miterleben, hat auch dies psychische Folgen für die Kinder.

Dies alles sind zudem wohlgemerkt relativ aktuelle Zahlen. Die älteren Generationen (die heute u.a. Machtpositionen in Ägypten inne halten) werden sehr wahrscheinlich sogar noch mehr Gewalt erfahren haben, als die Jüngere.

Dazu kommen erschütternde Daten über die Genitalienverstümmelung. 91 % der ägyptischen 15-49 jahre alten Frauen haben diese traumatische Prozedur als Kind erlitten. (UNICEF, Jan 2013)

Die Mehrheit der Ägypter ist - den genannten Zahlen folgend - als Kind im Elternhaus traumatisiert worden, eine enorm große Zahl auch besonders schwer.

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Leider bestätigen aktuelle Berichte, dass Ägypten heute sogar weit aus schlechter aufgestellt zu sein scheint, als vor der Revolution. Wenn die Entwicklungen so weiter gehen, besteht sogar die Gefahr eines Bürgerkrieges. Solche Entwicklungen sind vorhersehbar, wenn man sich mit den Kindheiten vor Ort befasst. Statt planlos den Sturz von Diktatoren zu stützen, wie der Westen dies tat, teils sogar militärisch wie in Libyen, muss man sich vorher die Frage stellen, ob die Bevölkerung vor Ort emotional überhaupt reif für echte demokratische Prozesse ist.
Schwer misshandelte Menschen klammern sich oftmals an äußere Strukturen, Rahmen und Rollenmodelle, die ihnen Sicherheit und Stabilität geben. Arno Gruen hat sehr viel dazu geschrieben (Stichwort „Nicht-Identität“). Er schrieb auch in seinem Buch „Verratene Liebe – Falsche Götter“ (2003):  „Solange der gesellschaftliche Rahmen hält – das heißt, solange man seine eigene Identität, seine Bedeutung, durch äußere Strukturen aufrechtzuerhalten in der Lage ist -, kann die innere Malaise des nicht-autonomen Selbst gezügelt werden. Da diese Menschen aber keine komplexe Sicht ihrer Lage ertragen, sind sie auch die ersten, die die Strukturen gefährden, wenn diese ins Wanken geraten, wenn zum Beispiel die Gesellschaft von Arbeitslosigkeit und dem Verfall ihrer Regeln bedroht ist. Solche Menschen haben nicht die inneren Kräfte, etwas Neues aufzubauen, weil ihnen ein empathischer Kern fehlt.“ (S. 57,58)

Bei Extremisten, so Gruen, dreht sich immer alles um Symbole der Identität wie Rasse, Nationalismus, Religion und Freiheit. „Nie geht es um die aktuelle Analyse der Bedrohung. Wenn der gesellschaftliche Rahmen zerbricht, bleiben Menschen, die für ihren Selbstwert und ihre Bedeutung davon abhängig sind, ohne Halt. Sie sind jetzt dem inneren Hass ausgeliefert. Dieser Hass richtet sich auf alles, was an die eigene verschmähte Lebendigkeit erinnert.“ (S. 59) Und ganz besonders wichtig und erhellend: „Das Bedürfnis nach Strukturen ist kennzeichnend für Menschen, die kein eigenes Selbst haben. Autoritäre Strukturen verleihen ihnen das Gefühl einer Identität, und daher gibt ihnen, solange die Autorität autoritär bleibt, solch ein Gefüge persönliche Bedeutung und Sicherheit. Es ist das Auseinanderbrechen dieser Strukturen, das die angestaute Wut zum Ausbruch bringt. Die Rebellion, die dadurch ausgelöst wird, hat nicht Freiheit zum Ziel, sondern sie will sich neuen Autoritäten/Strukturen ergeben. Diese erneute Unterwerfung, getrieben von der Angst vor Identitätsauflösung und innerem Hass, ist Erlösung. Die neue Unterwerfung ist eigentlich die alte Unterwerfung (…).  Die Ketten der früheren Anpassung an das Schlechte, das man für gut hielt, weil seine Autorität einem ein Sicherheitsgefühl gab, können gesprengt werden. Aber für den Erfolg jeder Revolution, Reform und Erneuerung muss die menschliche Abspaltung vom seelischen Inneren berücksichtigt werden.  “ (S. 65,66)

Diese Abspaltung erfolgt im Kern in der Kindheit, indem Eltern ihre Kinder angreifen, ihre Bedürfnisse nicht sehen und ihnen nicht ermöglichen, ein eigenes Selbst aufzubauen. In einer Atmosphäre der familiären Gewalt und Kälte bleibt Kindern nichts anderes übrig, als sich von sich selbst zu entfremden, als ihre Gefühle und ihre Lebendigkeit zu begraben, da es unerträglich wäre, der realen Situation offen und fühlend ins Auge zu schauen. Auch später ist die eigene Wahrnehmung oftmals getrübt, da die Eltern idealisiert bleiben. Helfen würde – bestenfalls in einem therapeutischen Prozess- eine Aufarbeitung des Erlebten, ein Trauern um das Verpasste, ein realer Blick des Erwachsenen auf das Kind, das er einst war und auf die Eltern, die ihm gegenüberstanden und natürlich ein Zurückerobern von Gefühlen. Doch gerade in der arabischen Welt gelten sehr strenge Familienregeln. Die Ehre der Eltern darf nicht angekratzt werden. Dies wird es den Menschen vor Ort doppelt erschweren, ihre Eltern anzuklagen bzw. sie zu kritisieren und sich der Realität der eigenen Kindheit zu stellen.

Wer die Entwicklungen in der arabischen Welt verfolgt, sollte sich aktuell auch noch einmal mit dem auseinandersetzen, was Lloyd deMause „Wachstumspanik“ nennt. (Ich habe das hier  – etwas weiter unten im Text – etwas ausgeführt)  Denn in der Tat hatten die diversen Revolutionen – so mein Eindruck aus den Berichten der Tagespresse – bisher nur negative Folgen für die Menschen und die sozialen und ökonomischen Entwicklungen bzw. für das Wachstum und den Fortschritt.

Um Ägypten (und auch anderen Ländern dieser Region) echte Freiheit zu ermöglichen, muss in dem Land ein gut durchdachtes Kinderschutzprogramm ins Leben gerufen werden, das die ganze Gesellschaft durchdringt. Da derzeit islamistische Kräfte die Wege zu dominieren scheinen, ist Ägypten wohl weiter davon entfernt, als vor der Revolution. Denn die Islamisten setzten i.d.R. auf alte Werte (die ihnen Sicherheit und Halt geben), was vor allem die Unterdrückung von Frauen (und somit den Müttern) und Kindern bedeutet.

Nachtrag: Im Kapitel „Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie“ des Buches „Deutschland misshandelt seine Kinder“  (2014 erschienen) beschreiben die beiden Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat folgende Begebenheit:
"Am Institut für Rechtsmedizin der Charité werden häufig ägyptische Gastärzte geschult. Wenn sie unsere Vorträge über Kindesmisshandlung hören, zeigen sich viele von ihnen verwundert, dass Körperstrafen in Deutschland als Mittel der Kindererziehung verboten sind.  «Bei uns darf man seine Kinder ja auch nicht totschlagen», sagte einmal ein ägyptischer junger Arzt zu uns. «Aber wie erzieht ihr eure Kinder denn, wenn ihr sie nicht schlagt?» und ein Kollege von ihm fügt hinzu: «Das ist doch schließlich mein Kind, das ich schlage, nicht das Kind meines Nachbar.» "


Siehe ergänzend: "Das Fundament des Bürgerkrieges in Syrien"

Freitag, 25. Januar 2013

Kindheit und mögliche Lebenswege: Willi Voss

Willi Voss arbeitete einst eng mit der PLO zusammen; er war "Komplize palästinischer Terroristen", wie der SPIEGEL schreibt. In die Enge getrieben wechselte er zur CIA und verriet wichtige Informationen u.a. über geplante Anschläge der PLO. Heute schreibt der 68jährige u.a. Bücher, früher auch Drehbücher u.a. für den „Tatort“ und  auch ein Buch über sein Leben, was der Auslöser für den SPIEGEL Bericht war.  Daher der SPIEGEL (31.12.2012; Nr. 1/2013) Artikel-Titel: „Ein Mann, drei Leben“ . Genauer gesagt waren es wohl eher vier Leben, denn vor seiner PLO Zeit war er ein Kleinkrimineller, Mitglied einer „Halbstarken-Clique“ im Ruhgebiet, worauf ein Jahr Jugendstrafe ohne Bewährung folgte. Durch Begegnungen kam er über Umwege zur PLO.

Ich war ein verlorener Hund. Einer, der so oft getreten worden war, dass er zurückbeißen wollte, egal wie.“, wird Voss zitiert. „Hätte ich damals Andreas Baader getroffen, wäre ich vermutlich bei der Roten Armee Fraktion gelandet.“ Seine Kindheit sei von Gewalt, sexuellem Missbrauch und anderen Demütigungen geprägt gewesen, schreibt der SPIEGEL weiter. „Ich habe als Kind immer wieder Zustände absoluter Ohnmacht kennengelernt. Etwas, dass blanke Mordlust in mir ausgelöst hat, tiefste Scham und ein Gefühl, als sei ich das Wertloseste, dass es auf dieser Welt gibt.“, sagte Voss.

Ein interessantes Interview mit Voss kann mensch hier lesen, darin beschreibt er u.a., was ihn an der PLO fasziniert hat. Voss hat sich längst vom Terrorismus distanziert. Über ihn als Person weiß ich zu wenig, als dass ich mir hier weitere Anmerkungen erlauben könnte. Ich denke, dass er selbst im SPIEGEL Interview genug darüber gesagt hat, was in der Tiefe seinen Lebensweg bestimmt hat. 

Mittwoch, 23. Januar 2013

Medien, Adam Lanza und sexuelle Gewalt in Indien

Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht in den Medien Dinge lese, die ich hier im Blog kommentieren könnte, weil sie überdeutlich die Zusammenhänge zwischen hasserfüllter Kindheit und Hass/Gewalt aufzeigen. Dies ist mir heute in einem Bericht aus Indien besonders aufgefallen (siehe unten). Auf der anderen Seite fällt allerdings auch immer wieder auf, dass ein Zusammenhang zwischen Kindheit und Gewaltverhalten ausgeschlossen wird, was der jüngste Amoklauf in den USA von Adam Lanza und entsprechende Kommentare zeigten. Sehr viele Medien zitierten sogleich eine Tante des Täters, die auf die liebevolle Erziehung der Mutter hingewiesen hatte. Kaum einer zog dies in Zweifel. In einem Artikel wurde die Familiensituation von Lanza besprochen. Am Ende hieß es: "Doch trotz aller Geschichten zieht niemand in Zweifel, dass sie ihren Sohn Adam innig geliebt hat. Warum er zuerst sie und dann die Kinder und Lehrerinnen an der Grundschule hinrichtete, das ist dagegen noch immer ein Rätsel."
Der Satz an sich ist schon verdreht. Denn in der Tat ist die eigentliche Frage, warum ein wirklich geliebtes Kind seine Mutter kaltblütig hinrichten sollte und danach Kinder in einer Grundschule erschießt? Es ist für mich immer wieder erstaunlich, dass nicht wenige Menschen wirklich glauben, dass geliebte Kinder zu solchen Taten fähig wären. Die Medien sollten da zumindest vorsichtig formulieren und nicht davon schreiben, dass Lanzas Mutter auf jeden Fall voller Liebe zu ihren Kindern war.

Das Thema sexuelle Gewalt in Indien ist ja derzeit sehr in den Medien präsent. Ein indischer Junge hat versucht, ein Mädchen zu missbrauchen. Diese konnte aber entkommen. Daraufhin zündete er sie an. "Zu Hilfe kamen ihm dabei seine Eltern. Der Grund: Die Familie des Täters wollte verhindern, dass das Opfer Anzeige erstattet. Nun ist die junge Frau an den Folgen ihrer schweren Verletzungen gestorben." (Welt-Online, 22.01.2013)
Diese Tragödie muss natürlich aufrütteln. Und es ist gut, dass die Medien berichten. Der beste Opferschutz ist allerdings, sich mit der Tätergenese zu befassen, ohne die Täter zu entschuldigen. Was sind das für Menschen/Eltern, die sofort bereit sind, einen Menschen anzuzünden, um ihren Sohn - den Täter - zu schützen? Sind das Eltern, die ihrem Sohn wirklich Liebe und Geborgenheit geben konnten? Die Antwort ergibt sich bereits aus ihrer Tat. Natürlich konnten sie dies nicht. Es müssen eiskalte Eltern ohne Mitgefühl gewesen sein, die vermutlich auch Gewalt gegen ihren Sohn ausgeübt haben. Der genannte Artikel enthält also bereits die Antwort auf die Frage, warum dieser Junge zum Täter werden konnte.

In der indischen Gesellschaft an sich ist Gewalt gegen Kinder sehr weit verbreitet. Dies wird allerdings kaum bis gar nicht erwähnt, wenn es darum geht, dortige Problemlagen, Konflikte und Gewaltverhältnisse zu analysieren.