Dienstag, 28. Mai 2013

Grausame Taten. Der Unterschied zwischen "verstehen" und "erklären"

Vor einiger Zeit erschütterte ein Bericht über den Tod eines Mädchens die Öffentlichkeit. Die zwei Jahre alte Lea-Sofie war von dem Freund der Mutter so schwer misshandelt worden, dass sie verstarb (nach Medienberichten war dies wohl nicht das erste Mal, dass das Kind misshandelt wurde). Ihre Mutter ließ ihre Tochter nach den Misshandlungen drei Tage in der Wohnung gegen den Tod kämpfen und unternahm nichts.  Mutter und Freund lebten  während des Todeskampfes des Kleinkindes so weiter, als ob nichts geschehen wäre. Die Leiche des Mädchens legten sie dann entkleidet in einen Park, um ein Sexualdelikt vorzutäuschen. Beide sind jetzt zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Der Autor eines SPIEGEL Artikels über den Fall, Jörg Diehl, hat auch auf die Ursachen hingewiesen, die hinter dieser Tat stehen. 

Der Freund der Mutter war „arbeitslos, perspektivlos, ständig betrunken“, schreibt der Autor. Als er wieder einmal betrunken war und die kleine Lea-Sofie einen Schreikrampf  bekam, rastete er aus. „Wie er als Kind geprügelt worden war, so prügelte jetzt er. Er schlug Lea-Sofie mit der Faust ins Gesicht, riss sie an den Haaren hoch, schlug wieder zu, insgesamt fünfmal. Das Mädchen erlitt dabei schwerste Gehirnverletzungen.“ Über die Kindheit des Täters wird weiter berichtete, dass er bereits als Grundschüler mit einem Messer auf seine Mutter losging und dann in ein Heim kam.

Die Mutter von Lea-Sofie hatte ebenfalls eine sehr traumatische Kindheit. „Aufgewachsen mit einem brutalen Vater, der sie missbrauchte, und einer alkoholkranken Mutter habe Franziska M. "extreme Bindungssehnsüchte, deutliche Abhängigkeitstendenzen und eine erhebliche Hinnahmebereitschaft" entwickelt, so ein Psychiater vor Gericht.“ Sie habe sich in schwierigen Situationen schon immer „weggebeamt“, was vor Gericht als „dissoziatives Verhalten“ bezeichnet wurde.

Die Hintergründe der Tat sind somit eindeutig belegt. Natürlich haben solche Täter-Eltern selbst eine traumatische Kindheit erlebt. Anders sind solche Taten nicht erklärbar.

Der Autor hat in der Titel Überschrift folgendes geschrieben: „Eine Frage bleibt: Wie ist so etwas möglich?“ Diese Frage ist der Grund für diesen Beitrag. Meine Frage ist, warum trauen wir uns eigentlich nur selten, in der Öffentlichkeit deutliche Worte zu finden und deutlich zu kommentieren? Warum sagen wir nicht: „Diese Tat war unvorstellbar grausam, aber sie ist auch erklärbar“? Warum schreibt man nicht sinngemäß: „Natürlich waren diese Eltern schwer traumatisiert und dadurch emotional gestört, ohne dieses Grundgerüst wäre eine solche Tat nicht möglich.“? 
Der Autor hätte in der Überschrift ja auch nur schreiben können: „Wie ist so etwas möglich?“ Sein Artikel an sich erklärt im Grunde sehr gut die Ursachen solcher Taten. Aber dieses „Eine Frage bleibt“, stört mich einfach. Denn im Grunde bleibt keine Frage. Das Verhalten der Eltern ist erklärbar, aber trotzdem nicht zu entschuldigen. Dass beide zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden, finde ich gerechtfertigt.  Wenn beide wieder frei kommen, sollte unbedingt verhindert werden, dass wieder ein Kind in ihre Hände gerät.

Deutliche Worte bzgl. solcher Taten wären auch immer ein Aufruf zur Prävention. Als Kind schwer traumatisierte Menschen, die später Kinder haben, sollten gezielt Hilfsangebote bekommen.  Man kann von schwer misshandelten Menschen nicht erwarten, dass sie von alleine zu besonders liebevollen Eltern werden.

Der Anwalt der Mutter formuliert in einen Interview, dass wir alle diese Tat im Grunde nicht verstehen können. Verstehen müssen wir dies in der Tat nicht. „Verstehen“ hat ja auch etwas mit Verständnis zu tun, etwas mit „wäre ich in Deiner Situation, hätte ich vielleicht ähnlich gehandelt“. Nein, verstehen kann mensch diese Tat nicht! Aber sie kann erklärt werden. Das ist ein feiner  aber bedeutender Unterschied in der Wortwahl. Nur wer emotional schwer gestört ist und nichts fühlt, kann so handeln. Für Menschen, die fühlen können, sind solche Taten nicht zu verstehen und sie müssen auch nicht verstanden werden.  Aber wir sollten nicht so tun, als ob sich solche und andere (auch „politisch“ motivierte) Taten nicht erklären lassen.

6 Kommentare:

Matthias Mala hat gesagt…

Nur wer emotional schwer gestört ist und nichts fühlt, kann so handeln. Nein, es handeln so auch Menschen, die weder emotional schwer gestört noch gefühllos sind. Solche Taten sind nicht nur Unterschichtentaten. Kinder werden in Villen wie in Baracken gequält. Die Täter als Opfer vorangegangener Gewalttaten ist eine zu billige Erklärung. Es gibt sie, gewiss; aber es gibt auch jene, die sich ohne Vorgeschichte aus Lust und Laune für die Verderbtheit entscheiden.
Gruß M. M.

Sven Fuchs hat gesagt…

Hallo Matthias,

natürlich ist Gewalt gegen Kinder etwas, dass in allen Schichten auftritt. Etwas Gegenteiliges habe ich ja auch nicht geschrieben.

Zudem muss ich ergänzen, dass "eomotional gestört sein" und "keine Gefühle haben" etwas ist, was nicht selten auftritt. Menschen, die innerlich derart strukturiert sind, können ganz "normal" wirken, teils auch beruflich sehr erfolgreich sein usw. und können natürlich auch aus sehr bürgerlichen Familien stammen, bei denen nach Außen hin alles ganz harmonisch wirkt.

Ansonsten kann ich deinem Beitrag nur widersprechen. Ohne Vorgeschichte (den Menschen spaltende Gewalterfahrungen in der Kindheit) keine grausamen Taten als Erwachsener. Oder anders herum: Wirklich geliebte Kinder können keine grausamen Taten begehen. Bzgl. der o.g. eltern ist dies doppelt deutlich. Warum sollte eine Mutter und ein Vater, die selbst mit Respekt behandelt wurden, die gewaltfrei aufwuchsen, die geliebt wurden, die Fürsorge und Geborgenheit erlebten, ihre Kind misshandeln und töten? Einfach aus "Lust und Laune", wie Du schreibst? Nein, dies ist unmöglich.

Mein Blog ist voll mit entsprechenden Beiträgen und auch Studien. Wenn du magst, lies doch ein wenig.

Anonym hat gesagt…

Ich denke, der Punkt ist folgender: Für viele Menschen ist etwas erst dann eine Erklärung - jedenfalls wenn es um psychische Hintergründe geht -, wenn sie es selbst nachempfinden können. Dafür muss man aber erst einmal Zugang zu eigenen Verlassenheits- und Bindungsängsten, zu unterdrückten Aggressionen etc. haben, glaube ich.

Ich sage manchmal, dass ich so ein Verhalten wie das von Lea-Sophies Eltern verstehen kann - und werde dann fast gelyncht. Als ob ich selbst jederzeit bereit wäre, mich so wie diese Eltern zu verhalten. Ich glaube, das Nichtverstehen brauchen die Leute einfach, um sich selbst normal zu fühlen. Wer sagt, er verstehe so etwas nicht, und auch die von dir beschriebenen Hintergründe wären ja keine "Entschuldigung", fühlt sich einfach besser. Er steht dann auf der richtigen Seite. Ist normal. (Nicht falsch verstehen: Es ist keine Entschuldigung, das sehe ich auch so.)

Die Leute finden es eher nachvollziehbar, wenn ein Mann "aus Eifersucht" Frau und Kinder umbringt. Eifersucht ist ein "normales" Gefühl, das viele von uns kennen und das nicht zwangsläufig auf eine schlechte Kindheit zurückgeführt wird (auch falsch, wird aber so gesehen).
Die beiden Begriffe, die hier eine Rolle spielen, sind meines Erachtens eher "verstehen" und "entschuldigen". Ich kann mir die Gefühle solcher Menschen, auch von Mördern, vorstellen - aber natürlich müssen sie trotzdem bestraft werden.
Dass ich mich einfühlen kann, ist für viele aber schon zu viel.

Anonym hat gesagt…

Bevor man mich falsch versteht: Ich meine, ich kann mich einfühlen in die Kinder, die diese Leute einmal waren, und die emotionale Last, die diese Menschen mit sich rumtragen, nachempfinden.

Sven Fuchs hat gesagt…

Danke für diese nützlichen Gedanken.

Auf Grund dieser häufigen Reaktionen von Menschen halte ich das Wort „verstehen“ für ungeeignet. „Erklären“ mildert etwas ab und bringt das ganze auf eine andere Ebene.

Dass solche Taten nicht zu entschuldigen sind, ist eigentlich selbstverständlich. Trotzdem habe ich mir diesen Nebensatz bei Diskussionen angewöhnt.
Du hast sicher recht, dass ein wirkliches Hinsehen auch bedeuten würde, dass Menschen sich nicht mehr komplett von Tätern abgrenzen könnten. Eigene Täteranteile wollen, denke ich, noch mehr abgewehrt werden, als das eigene Opfersein.

Insofern ist meine Hoffnung – und ich finde, dass sich diese Entwicklung auch etwas abzeichnet – dass von der neuen Generation, die mehrheitlich kaum elterliche Gewalt und viel mehr Fürsorge erfahren hat, neue Impulse ausgehen. Oder besser gesagt, dass diese Generation keine Scheuklappen mehr vor den Hintergründen grausamer Taten haben muss, weil sie selbst innerlich nichts abwehren muss. Der o.g. SPIEGEL Autor gehört ja auch einer jüngeren Generation an. Er hat die Hintergründe der Tat im Grunde gut zusamengefasst, auch wenn er deutliche Kommentare ausgespart hat.

Anonym hat gesagt…

Danke, dass du mich nicht missverstanden hast. ;-) Wie es mir sonst immer passiert.

Ute