Montag, 15. April 2019

Kindheit von Boris Johnson und die Irrationalitäten des Brexit-Lagers

Aktualisiert am 10.08.2019


Rachel Johnson, die Schwester des konservativen Politikers Boris Johnson, hat einen Einblick in das gegeben, was sie und ihr Bruder in der Kindheit zu Hause erlebt haben. (The Times, 15.10.2012, "Me, Boris Johnson and our brilliantly hands off parents")
Sie beschreibt, dass sie in ihrer Kindheit kaum eine Wahl hatte, außer was die Wahl von Büchern anging, die sie lesen wollte. Ihre Eltern scheinen alles bestimmt zu haben. Deutlich wird auch elterliche Vernachlässigung, was sich in folgendem Satz zuspitzt: „Our parents provided us with the essentials, then got on with their own lives.“ Sie hätten als Kinder niemals Freunde zum spielen zu Hause gehabt. Und sie fügt an: „Keeping children busy and happy was not a parental priority.
Sie beschreibt eine Szene, in der sie sich als Kind geweigert hatte, eine Straße zu überqueren. Ihre Mutter packte sie daraufhin an den Haaren und zog sie rüber. Überhaupt scheinen körperliche Übergriffe, auch schwerer Art, Routine gewesen zu sein: „(…) my father and mother both believed enthusiastically in corporal punishment. My mother once broke a large stick over my legs after Boris and I had spent a happy and, we felt, productive morning carefully filling every Wellington boot in the passage to the brim with water. I bear neither parent any ill feeling for beating me. I would have done the same.“ Klassisch ist an dieser Stelle, wie das einst misshandelte Kind seine Eltern in Schutz nimmt und anhängt: An ihrer Stelle hätte ich das Gleiche getan...

Zu dieser Gewaltbelastung kommt eine weitere, schwere Belastung hinzu: Die Mutter von Boris Johnson litt unter Depressionen und einer massiven Zwangsstörung. Dies ging zu weit, dass sie sich in wohl unterschiedliche Kliniken einweisen ließ und die Kinder von einer "Nanny" (die Kettenraucherin war) betreut wurden. Diese "Nanny" wurde zur Ersatzmutter für die Kinder.
(Mail Online (2019, 14. April):  Revealed: How a chain-smoking Norland nanny raised Boris Johnson and his siblings while their mother was in and out of hospital being treated for crippling mental health issues)

In der Familie Johnson sei alles auf Wettkampf eingestellt gewesen, berichtet der SPIEGEL. Der Druck kam dabei vor allem vom Vater. Boris` Halbschwester Julia sagte dazu: "Wenn ich im Lateintest nur Zweite wurde, fragte mein Vater sofort: Wer war Erster? Das war eine Standardfrage in unserem Haushalt und eine eindringliche Mahnung, nie woanders zu landen als ganz oben" (DER SPIEGEL, Nr, 30, 20.07.2019, "Der Fesselungskünstler", S. 12).
Und natürlich sollte Boris auch auf ein Eliteinternat kommen. Im Alter von 13 Jahren wurde er somit von seiner Familie getrennt und lebte die folgenden ca. fünf Jahre lang in Eton. Wichtige Teile des damaligen Erziehungssystems in solchen Internaten seien damals Angst und Erniedrigung gewesen (DER SPIEGEL, Nr. 32, 03.08.2019, "Kinder an der Macht", S. 80-84.)

Boris Johnson stand für einen harten Brexit ohne Diskussionen. Er fiel vor dem Referendum vor allem auch durch diverse irrationale Reden und Vergleiche auf. So z.B. als er die Einflussnahme der Europäischen Union mit Hitlers kontinentalen Machtansprüchen verglich. Es ist gut möglich, dass Johnson und sein Wirken die wesentlichen Prozentpunkte beim Wahlvolk für den Brexit erbrachten.

Was in Großbritannien seit dem Referendum (und auch schon davor) passiert, kann – und das wohl nicht nur in meinen Augen – nur noch als irrational und neurotisch bezeichnet werden.
Was ist eigentlich, wenn die EU und ihre Institutionen symbolisch für „Eltern“ stehen, für Vater und Mutter (siehe ausführlich zu solcher Symbolik den Beitrag hier)? Was, wenn die Ängste vor Einflussnahme, Ausbeutung, Abstrafung, Unterdrückung und Bevormundung durch EU-Institutionen eigentlich nur Projektionen aus eigenen Kindheitstagen sind? Wenn man sich unter dieser Prämisse die Reden und Verhaltensweisen in Großbritannien anschaut, dann wird einiges deutlicher.


Siehe ergänzend auch: Brexit - "Warum nicht auch mal im Kollektiv Amok laufen?" Oder: Die Identitätskrisen von Nationen

5 Kommentare:

Sven Fuchs hat gesagt…

Wie ich kürzlich las, war der Vater von Nigel Farage Alkoholiker und verließ die Familie, als Nigel 5 Jahre alt war. (https://www.bbc.com/news/uk-politics-36701855)

Farage hat ebenfalls wesentliche Beiträge für einen Brexit geleistet und fiel u.a. mit dem Slogan auf: "I want my country back".

Sven Fuchs hat gesagt…

Ich habe heute den Artikel um folgende Passage ergänzt:

Zu diese Gewaltbelastung kommt eine weitere, schwere Belastung hinzu: Die Mutter von Boris Johnson litt unter Depressionen und einer massiven Zwangsstörung. Dies ging zu weit, dass sie sich in wohl unterschiedliche Kliniken einweisen ließ und die Kinder von einer "Nanny" (die Kettenraucherin war) betreut wurden. Diese "Nanny" wurde zur Ersatzmutter für die Kinder.
(Mail Online (2019, 14. April): Revealed: How a chain-smoking Norland nanny raised Boris Johnson and his siblings while their mother was in and out of hospital being treated for crippling mental health issues)

Michael Thomas Kumpmann hat gesagt…

Zu dem Satz:

" So z.B. als er die Einflussnahme der Europäischen Union mit Hitlers kontinentalen Machtansprüchen verglich. "

Nur soviel. Ich hab vorgestern Abend das Hauptwerk des EU Vordenkers und Gründer der Paneuropa Union Coudenhove Kalergi gelesen. (Auf dem die EU zu großen Teilen basiert.) Der Nazi Vergleich ist leider durchaus berechtigt, wenn man den kennt.

Erst einmal ist dessen Buch zu ein Drittel Eugenik und beschreibt tatsächlich die Züchtung einer überlegenen Herrscherkaste. Dann ist das Buch von dem auch wirklich übelst rassistisch. Alle außer den Europäern sind in seinen Augen primitive Wilde, die es zu zivilisieren gilt. Und einige Religionen wie den Buddhismus will der im Namen des Fortschritts sogar vernichten.

Dann hat der gesagt, die Europäer sollten mit überlegener Technik den Rest der Welt erobern. Und der nannte Zwangsarbeit eine wichtige Stütze für die zukünftige Wirtschaft Europas.

Und Kalergi war kein obskurer Mensch. Der hat die EU Hymne mit ausgesucht und mit dafür gesorgt, dass die EU in Brüssel und Strassburg sitzt.

Weil der für die EU so wichtig war, bekamen Jean Claude Juncker, Angela Merkel, Otto von Habsburg, Ronald Reagan, Helmut Kohl, Franz Josef Strauss alle den sogenannten Kalergi Preis für besondere Verdienste für die EU. Neben dem Karlspreis ist der Kalergi Preis die wichtigste Ehrung für Verdienste um die EU.

Gerade wegen dem Kerl sind Nazi Vergleiche bei der EU nicht vollkommen aus der Luft gegriffen. Abgesehen davon weißt Du ja auch, dass erst in den 60ern ne richtige, volle Entnazifizierung begann. Die 68er haben dagegen protestiert, dass viele Altnazis noch Posten in der BRD nach dem Krieg inne hatten. Es ist leider Fakt, dass einige von denen maßgeblich bei der Ausarbeitung der römischen Verträge dabei waren.

Sven Fuchs hat gesagt…

Kalergi ist interessant. Wer weiß, vielleicht komme ich mal dazu, über seine Kindheitsbiografie zu recherchieren.

Michael Thomas Kumpmann hat gesagt…

Vielen Dank.

Ich hab mir den angelesen, weil ich seit nem Jahr selbst ein Buch schreibe. Und da hab Ich am Ende noch einen Teil Großraumpolitik drin. Und im Gegensatz zu Programmen wie Atlantropa, Eurasien, Septentrion und co wurde die EU ja verwirklicht.

Das Lustige bei Kalergi ist, manche seiner Formulierungen erinnern auf ulkige Weise an tatsächliche EU Politik. Aber eher so, als ob hinter dem "Blödsinn" manchmal macht, doch mehr System stehen könnte.

z.B. hat Kalergi gemeint, damit man den Hunger besiegt müsste die EU erreichen, dass deutlich viel mehr Lebensmittel produziert werden, als benötigt sind, verlangt werden oder überhaupt gegessen werden können.

Mein erster Gedanke war: "Waren die Butterberge also etwa gar kein Missmanagement, sondern geplant?"