(Nachträglicher Hinweis: In meinem Beitrag "Der Fall Stephan Ernst entwickelt sich zu einem Paradebeispiel" vom 06.08.2020 habe ich weitere Infos über seine Kindheit verarbeitet!)
Der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) beschäftigt derzeit das Land. Heute Vormittag hörte ich im Deutschlandfunk die Sendung „Kontrovers“ zu diesem Fall und zum Thema Rechtsextremismus allgemein. Ich kam in der Tat auch bei der Hörerhotline durch und man bat an, evtl. zurückzurufen. Ich hatte der Dame dort erzählt, dass bei solchen Diskussionen stets das Thema destruktive Kindheitserfahrungen ausgeklammert bleibt. Und dies, obwohl es mittlerweile so einige Studien dazu gibt, die alle samt nahelegen, dass Rechtsextremisten in einem enorm hohen Ausmaß von elterlicher Gewalt, Vernachlässigung und sonstigen belastenden Kindheitserfahrungen betroffen sind. Ich verwies auch kurz darauf, dass vom BKA selbst die Studie „Die Sicht der Anderen“ veröffentlicht wurde, in der entsprechende Kindheitshintergründe festgestellt wurden und die Experten trotzdem fast nie darüber sprechen. Geladen bei „Kontrovers“ waren u.a. Andreas Grün (Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei in Hessen) und Prof. Gideon Botsch (Leiter der Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus am Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam). Leider wurde ich nicht zurückgerufen. Ich war allerdings zu meinem Bedauern auch erst ca. 15 Minuten vor Sendeschluss durchgekommen.
Ich hätte die Runde kurz dazu ermahnt, die Kindheitshintergründe bei dem Thema nicht zu vergessen und ich hätte gesagt, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit auch der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke, Stephan. Ernst , eine sehr destruktive Kindheit hatte.
Am Nachmittag recherchierte ich dann kurz über die Kindheit von Stephan Ernst. Normalerweise dauert es oft lange Zeit, bis entsprechende Hintergründe nach solchen Taten bekannt werden. Zu meinem Erstaunen liegen schon jetzt deutliche Informationen vor.
Der Lebensweg von Stephan Ernst entspricht geradezu in lehrbuchartiger Reinform dem klassischen Werdegang solcher Täter. In meinem Buch habe ich entsprechende Studien über Rechtsextremisten besprochen. Stephan Ernst passt 100%ig in das Raster.
Stephan Ernst war in Kindheit und Jugend ein zurückgezogener Einzelgänger. Schon früh wird er auffällig, u.a. durch Delinquenz und als Jugendlicher durch Springerstiefel und rechte Gesinnung. Er schaffte den Hauptschulabschluss, brach später seine Lehre ab und setzte schließlich als 15-Jähriger ein Mehrfamilienhaus in Brand. Mit ca. 18 Jahren stach er mit einem Messer auf einen Menschen mit Migrationshintergund ein. Ca. ein Jahr später verübte er einen Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim, der allerdings misslang.
Später wurde von Gutachtern Fehlentwicklungen, Persönlichkeitsstörungen und selbstverletzende Tendenzen bei Stephan Ernst festgestellt. Nachdem einmal eine Freundschaft mit einem Türken gescheitert war, habe er sich das Wort "Haß" in die Hand geritzt. (Alle vorgenannten Infos und auch nachfolgende Infos zur Kindheit siehe Quelle hier: Stettin,I, Herrnkind, K. & Eißele, I. (2019, 20. Juni): "Hass auf alles und jeden": Auf den Spuren des Mannes, der Walter Lübcke ermordet haben soll. Stern.de)
Stephan Ernst hatte in einem früheren Gerichtsprozess seine Kindheit als wenig glücklich geschildert. „Sein Vater sei Alkoholiker gewesen. Aus Angst vor ihm habe er `mit einem Messer im Bett` geschlafen. Die Mutter habe gearbeitet, so dass er als `Schlüsselkind` viel allein gewesen sei.“ (stern.de)
Die kurzen Schilderungen über seine Kindheit offenbaren bereits ein enorm hohes Ausmaß an Destruktivität in dieser Familie. Wie so oft bei solchen Fällen gehe ich davon aus, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist. Wer aus Angst vor dem eigenen Vater mit einem Messer im Bett schläft, der wird vorher Etliches erlebt und erlitten haben. Sollte Stephan Ernst erneut begutachtet werden, werden wir evtl. noch ein erweitertes Bild über seine Kindheit erhalten.
Ach hätte man mich doch heute in der genannten Sendung zu Wort kommen lassen. Dieser aktuelle Fall darf nicht isoliert betrachtet werden. Er reiht sich bzgl. der Sozialisation solcher Täter ein in eine lange Liste anderer Fälle.