Freitag, 20. März 2020

Anschlag in Hanau: Der Fall Tobias Rathjen

Um den Attentäter Tobias Rathjen, der am 19.02.2020 zehn Menschen ermordet hat, ist es schon lange recht still in den deutschen Medien geworden. Das ist auch gut so, weil solche Täter keine lange Aufmerksamkeit bekommen sollten, auch um Nachahmer ggf. abzuschrecken. Trotzdem darf aus präventiven Gründen nicht vergessen werden, die Hintergründe der Tat aufzudecken.

Ich gehe davon aus, dass in den nächsten Wochen oder Monaten weitere Erkenntnisse durch die Behörden öffentlich gemacht werden. Schon jetzt möchte ich einige Gedanken zu dem Fall hier loswerden:
  • Der Täter wandte sich in einem Video an die US-Amerikaner und warnte diese vor unterirdischen Militärbasen: "In manchen davon wird der Teufel persönlich angebetet. Sie missbrauchen, foltern und töten kleine Kinder." (SPIEGEL-Online, 21.02.2020:  Psychogramm eines Terroristen) Diese Fantasien von schwerer Gewalt gegen Kinder (parallel fühlte er sich auch seit seiner Kindheit von einem Geheimdienst überwacht) möchte ich hier besonders hervorheben, da ich dies auffällig finde.
  • Nach bisherigem Kenntnisstand tötete er nach seiner Mordserie zunächst seine Mutter und dann sich selbst, den Vater ließ er am Leben. Dieser Sachverhalt wurde zwar in den Medien vielfach besprochen, aber es wurden ergänzend keine Fragen gestellt, die in Richtung Selbsthass und Hass auf Elternteile gehen. 
  • In der WELT (Hock, A., Naber, I., Pfahler, L. & Lutz, M. (2020, 23. Feb.): Tobias R.‘s Vater galt als „Patriarch, der die Familie unterjochte“.) wurde ein ehemaliger Schulfreund (wohl der einzige, der dem Täter einigermaßen nahe gestanden hatte) zitiert: „Als Patriarch, der die Familie unterjochte, beschreibt Schulfreund F. den Vater.“ Der Vater, erzählte ein Nachbar dem Artikel folgend, sei „ein schwieriger Typ“. Jeder in der Gegend kenne Hans-Gerd Rathjen. 
Ich will nicht vorschnell urteilen. Noch gibt es auch keine Aussage des Vaters. Ich möchte aber einen Kommentar loswerden:

Ich habe in den vergangenen Jahren immer wieder derartige Fälle und die entsprechende Berichterstattung verfolgt. Auffällig häufig fanden sich entweder überdeutlich destruktive Kindheitshintergründe bei solchen Tätern (das Paradebeispiel dafür ist der Fall Breivik) oder sie deuteten sich zumindest an. Bei dem Amokläufer von Winnenden Tim Kretschmer fand ich z.B. im Grunde fast nichts über seine Kindheit. Allerdings sagte seine Mutter rückblickend: „Hätte er doch mich erschossen“ (Stuff, B. (2014, 19. Mai): Tims Eltern brechen ihr Schweigen – „Er fehlt mir so“). Gab es also eine begründete Wut auf die Mutter, von der sie wusste oder eine Ahnung hatte? Die Atmosphäre innerhalb der Familie wurde von Tims Schwester als „gefühlskalt“ beschrieben (FAZ.net, 09.09.2009: „Die Eltern sind mitverantwortlich“). Was sich hinter diesem einen Wort „gefühlskalt“ verbirgt, werden wir wohl nicht erfahren. Vielleicht werden wir auch im Fall von Tobias Rathjen nicht erfahren, was sich hinter den Worten  „Patriarch, der die Familie unterjochte“ verbirgt. Fakt bleibt aber, dass es diese mehr als auffälligen Wörter aus dem Umfeld dieser Täter gibt!

Und Fakt ist auch, dass es etliche Studien gibt, die destruktive Kindheitshintergründe von rechten Gewalttätern erfasst haben. Einige davon habe ich in den letzten Beiträgen hier im Blog vorgestellt, manch andere Studien in den letzten Jahren (siehe Inhaltsverzeichnis unter „Extremismus“). Die mediale Berichterstattung darf und sollte sich auf solche Studien beziehen, was bisher in Anbetracht von neuen Einzelfällen fast nie geschieht. Diese Studien lassen es einmal mehr als unwahrscheinlich erscheinen, dass solcher Art Täter aus fürsorglichen und liebevollen Familienverhältnissen stammen bzw. eine unbelastete Kindheit hatten. Ich erinnere ergänzend an einen Blogbeitrag von mir aus dem Jahr 2019: „Massenmord in El Paso und Dayton. Die Kindheit der Täter und Kindheitshintergründe in über 150 weiteren Fällen“. In über 150 Fällen von Massenmorden in den USA konnte eine wesentliche Gemeinsamkeit der Täter herausgestellt werden: Frühe Traumatisierungen in der Kindheit. Einiges deutet darauf hin, dass auch Tobias Rathjen in dieses Raster passt.

Sehr lesenswert ist auch der oben verlinkte Artikel "Tims Eltern brechen ihr Schweigen". Er zeigt das ganze Grauen und Leiden der Eltern und Familienmitglieder der Täter auf. Auch dies lässt einen nicht kalt und auch diese Familienmitglieder sind Opfer, natürlich. Die Frage ist aber auch, ob nicht gerade dieses Leiden der Familie auch ein Stück weit der böse Zweck hinter den Taten oder dies zumindest ein Teil des Ganzen ist? Wenn der Vater von Tobias Rathjen seine Familie unterjochte, wie oben zitiert wurde, dann ist es die ultimative Rache seines Sohnes gerade ihn am Lebens zu lassen. Sein Vater muss jetzt mit all dem Leid, dem Trauma, den Blicken der Nachbarn und dem Scherbenhaufen weiterleben. Tobias dagegen ist tot.



3 Kommentare:

Michael Thomas Kumpmann hat gesagt…

Du hast ein komisches Detail übersehen. Der Kerl beschuldigt die US Regierung, abartigste Folterungen und Kindesmissbrauch zu betreiben. Er sagt dass sein ganzes Leben von der US Regierung ruiniert wurde.

Jeder, der sowas denken würde und "normal" wäre, würde eigentlich den USA den Untergang wünschen. (So ähnlich wie es Ted Kaczinsky ja z.B. getan hat.) Der Typ tat aber das krassest mögliche Gegenteil. Der hat ja in seinem Manifest gesagt, man müsse genau dieser angeblich so abartigen US Regierung helfen, einen so großen Grad der Weltherrschaft zu erlangen, dass sie wirklich keiner mehr stoppen kann. (Und dabei geopolitische Rivalen wie China auslöschen.)

Der fordert dazu explizit zu genozidalen Maßnahmen auf.

Also um es auf den Punkt zu bringen: Er schreibt, er hätte widerliche, unmoralische Peiniger, die ihm schlimmstes Leid zugefügt haben, und die logische Konsequenz wäre, genau diesen Leuten die absolute Macht zu nehmen.

Das ist "Stockholm Syndrome on Crack" um es mal so zu sagen.

Die früheren Amokläufer wie Stefan Balliet, Elliot Rodger, Alec Minassian etc. sahen sich auch oft in ihrer Phantasie einem "bösen Komplott" gegenüber. Aber keine von denen wäre auf die Idee gekommen, dass sie mit Gewalt diesem eingebildeten Komplott helfen müssten.

Sven Fuchs hat gesagt…

Hallo Michael: "Jeder, der sowas denken würde und "normal" wäre"...

Ganz klar war Tobias R. nicht "normal" im Sinne von bei gesundem Verstand, sondern er war psychisch schwer krank. Insofern sind Deutungen immer besonders schwierig, sicher auch meine Interpretationen. Mit einer Ausnahme: Die Kindheitseinflüsse deuten sich in diesem Fall überdeutlich an, wie in so vielen ähnlicher Fälle!

Sven Fuchs hat gesagt…

"Eltern und Kinder haben Angst vor Vater des Hanauer Attentäters"

https://www.fr.de/rhein-main/eltern-und-kinder-haben-angst-vor-vater-des-hanauer-attentaeters-91937224.html