Der Psychohistoriker Lloyd deMause ist im Alter von 88 Jahren gestorben. Dies berichteten einige Weggefährten in der Diskussionsgruppe von „Clios Psyche“. Mittlerweile ist der Tag seines Todes auch bei Wikipedia eingetragen.
Für mich ist es somit Zeit für eine persönliche Rückschau. Es muss ca. im Jahr 2007 gewesen sein, als ich sein bahnbrechendes Buch „Das emotionale Leben der Nationen“ (das in Deutschland 2005 herausgegeben wurde) in die Hände bekam. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich auf das Buch aufmerksam geworden bin. Aber ich erinnere mich sehr genau an den Moment, als ich das Inhaltsverzeichnis las. Das Inhaltsverzeichnis für sich haute mich damals geradezu vom Hocker! Das Buch war für mich ein Schlüsselmoment in meinem Leben.
Ich muss zunächst noch etwas weiter zurückschauen. Seit dem Jahr 2002 befasse ich mich mehr oder weniger intensiv mit dem Gesamtthema Kindesmisshandlung und den Folgen. Damals hatte ich als Student an der UNI Hamburg zunächst die Bücher „Am Anfang war Erziehung“ und „Das Drama des begabten Kindes“ von Alice Miller in die Hände bekommen. In einem Buch über männliche Sozialisation und kritische Männerforschung las ich dann ein Zitat von Arno Gruen, das in etwa so lautetet: „Hass hat seine Ursache im Selbsthass“. Daraufhin besorgte ich mir Bücher von Arno Gruen, der 2001 für sein Buch „Der Fremde in uns“ den Geschwister-Scholl-Preis erhalten hatte. „Der Fremde in uns“ war ebenfalls ein Schlüsselmoment für mich.
Parallel hatte ich am Fachbereich Erziehungswissenschaften ein studentisches Seminar ins Leben gerufen und geleitet, in dem zukünftige Lehrer und Lehrerinnen über das Thema „Sexueller Missbrauch von Kindern“ aufgeklärt wurden (das Thema stand damals nämlich nicht auf dem Lehrplan für zukünftige Pädagogen, was ich als Mangel empfand. Wie das heute ist? Keine Ahnung...). Damals studierte ich Soziologie und im Nebenfach auch Politik. In einem Seminar über die Kriegsursachen am Fachbereich Politikwissenschaften brachte ich mein Wissen über Kindesmisshandlung, Kindesmissbrauch, Arno Gruen und Alice Miller in einer Hausarbeit zusammen. Diesen Text – den ich als (mittlerweile veralteten) Grundlagentext für diesen Blog bezeichne - arbeitete ich dann in meiner Freizeit weiter aus.
2008 gründete ich diesen Blog. Aber: Dem voraus ging die Lektüre des o.g. Buches von Lloyd deMause! Denn eigentlich hatte ich 2007 schon ein ganzes Stück weit mit dem Thema abgeschlossen. Ich dachte mir: Es gibt da eigentlich kaum noch mehr zu entdecken. DeMause hat mich eines Besseren belehrt. Ich las weitere Bücher und Artikel von ihm und tauchte immer mehr in das Thema Psychohistorie ein. Ich bin nicht ganz sicher, aber im Grunde würde ich behaupten, dass dieser Blog wahrscheinlich nicht entstanden wäre, wenn ich damals nicht die Arbeit von deMause entdeckt hätte. Und in der Folge wäre dann auch mein Buch nicht entstanden. Daran denke ich heute und möchte mich für seine enorm wichtige Arbeit hier öffentlich bedanken!
Ich nahm auch seine Schwächen war, z.B. sein Hang zu „Extremen“, sein Hang immer die schlimmsten Zahlen zu zitieren und nicht ein Mittelmaß zu finden oder auch sich - so empfand ich dies - manchmal mit großer Selbstsicherheit zu sehr in psychoanalytische Deutungen zu verstricken. Er kam aber auch aus einer anderen Zeit und seine Arbeiten waren Pionierleistungen. Vermutlich brauchte es da auch ein besonderes Nachvornepreschen.
Was mich immer besonders beeindruckt hat ist (bei allen Extremen, die er hatte) seine oftmals bestechende Klarheit in der Sprache und Sicht. Und seine Texte reißen einen auch mit (das gilt auch für seine Kritiker, die sich ausgiebig mit ihm befasst haben und nicht von ihm lassen konnten).
Diese Klarheit zeigt sich eindrucksvoll auch in einem kurzen Interviewausschnitt mit DeMause, das als Video online zu sehen ist. Kurz, authentisch und präzise macht er klar, dass Hitlers Kampf für das Dritte Reich gegen die mächtigsten Länder der Welt von vornherein rational keinen Sinn machte und dass Kriege emotionale Ursachen haben können. Es war klar, dass Hitlerdeutschland auf Dauer nur verlieren konnte. Dass das „Verlieren“, dass auch der eigene Tod und das Opfern von Millionen Menschen der eigentliche (emotionale) Sinn hinter solchen Phänomenen sein kann, dass hat DeMause in diesem Interview auf seine ihm eigene Art so herrlich deutlich gemacht.
Gut, dass es diesen Menschen gab!