Ich habe mir jetzt einmal die Zeit genommen, mir die
kommentierte Fassung von „Mein Kampf“ (Hitler, Mein Kampf. Eine Kritische
Edition. Band 1; herausgegeben 2016 im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte
München/Berlin von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger
und Roman Töppel) anzusehen; dabei gezielt die Teile, die Hitlers Kindheit,
Eltern und in diese Richtung zeigende Ausführungen Hitlers beinhalten.
Zwei Stelle sind für mich dabei zentral, in denen Hitler
allerdings nicht in Ich-Form spricht, sondern sich allgemein hält bzw. sich auf
die klassische Arbeiterschicht bezieht:
„Übel aber endet es, wenn der Mann von Anfang an seine
eigenen Wege geht und das Weib, gerade den Kindern zuliebe, dagegen auftritt.
Dann gibt es Streit und Hader, und in dem Maße, in dem der Mann der Frau nun
fremder wird, kommt er dem Alkohol näher. Jeden Samstag ist er nun betrunken,
und im Selbsterhaltungstrieb für sich und ihre Kinder rauft sich das Weib und
die wenigen Groschen, die sie ihm, noch dazu meistens auf dem Wege von der
Fabrik zur Spelunke, abjagen muss. Kommt er endlich Sonntag oder Montag nachts
selber nach Hause, betrunken und brutal, immer aber befreit vom letzten Heller
und Pfennig, dann spielen sich oft Szenen ab, dass Gott erbarm.
In Hunderten von Beispielen habe ich dieses alles miterlebt, anfangs angewidert
oder wohl auch empört, um später die ganze Tragik dieses Leides zu begreifen,
die tieferen Ursachen zu verstehen. Unglückliche Opfer schlechter
Verhältnisse“ (S. 149f).
Und bezogen auf enge Räumlichkeiten und große Familien mit
vielen Kindern und nachfolgenden Streitigkeiten schreibt Hitler:
„Wenn dieser Kampf unter den Eltern selber ausgefochten
wird, und zwar fast jeden Tag, in Formen, die an innerer Rohheit oft wirklich
nichts zu wünschen übriglassen, dann müssen sich, wenn auch noch so langsam,
endlich die Resultate eines solchen Anschauungsunterrichtes bei den Kleinen
zeigen. Welcher Art sie sein müssen, wenn dieser gegenseitige Zwist die Form
roher Ausschreitungen des Vaters gegen die Mutter annimmt, zu Misshandlungen in
betrunkenem Zustande führt, kann sich der ein solches Milieu eben nicht
Kennende nur schwer vorstellen. Mit sechs Jahren ahnt der kleine, zu bedauernde
Junge Dinge, von denen auch ein Erwachsener nur Grauen empfinden kann“ (S.159).
Interessant sind sie jeweiligen Kommentierungen der
Herausgeber an beiden Stellen.
Beim ersten langen Zitat oben kommentieren sie bezogen auf den Alkoholkonsum
u.a.:
„Auch Hitlers Kritik des Alkoholismus dürften eigene Erfahrungen zugrunde
liegen: Hitlers Vater, der durch Alkohol aufbrausend und jähzornig wurde, starb
in einem Gasthaus. Es ist denkbar, dass Hitler, der die
Persönlichkeitsveränderung seines Vaters infolge des Alkoholmissbrauchs
miterlebt hatte, dadurch zum Abstinenzler wurde (…)„ (S. 150). Hier wird also
den verallgemeinerten Schilderungen Hitlers autobiografischer Hintergrund
unterstellt (zu Recht, wie ich finde), wohl auch in dem Wissen über andere
Quellen, die den Alkoholmissbrauch von Alois Hitler bezeugen (wobei von den Herausgebern
kein Bezug auf entsprechende Quellen genommen wird).
Ganz anders jedoch wird von den Herausgebern die zweite
zitierte Passage kommentiert:
„Von der Psychologin Alice Miller stammt die These, dass Hitlers folgende
Schilderungen – trotz der allgemein gehaltenen Formulierungen – auf persönliche
Erfahrungen basierten. Hitlers eigene Kindheit sei im hohen Maße geprägt
gewesen von seinem zum Alkohol und zur Gewalttätigkeit neigenden Vater, vom
Streit zwischen den Eltern, den fünf Kindern (aus zweiter und dritter Ehe),
schließlich dem Zerwürfnis zwischen seinem Vater, Alois Hitler senior, und
seinem Halbbruder Alois junior, der mit 14 Jahren im Streit das Elternhaus
verließ. Definitiv beweisen lässt sich diese These nicht“ (S. 156).
Es ist ganz und gar erstaunlich, wie unterschiedlich hier
die beiden Textstellen kommentiert wurden. Denn natürlich gibt es mittlerweile
genügend Belege dafür, dass Hitler von seinem Vater misshandelt wurde (siehe
u.a. in meinem Buch oder hier im Blog) und dass auch andere Familienmitglieder
– vor allem der erwähnte Halbbruder – Schläge bekamen (Die Jähzornigkeit des
Vaters wurde ja auch von den Herausgebern in der zuvor zitierten Kommentierung
gesehen). Man könnte zwar formulieren, dass nicht bewiesen werden kann, ob
Hitler hier auch seine eigene Kindheitsbiografie meinte, denn dies wüsste nur
Hitler allein. Aber warum scheuen sich die Herausgeber hier, ähnlich zu
kommentieren, wie sie es beim Alkoholmissbrauch zuvor getan haben? Diese
Widersprüchlichkeiten oder diesen Hin-und-Her-Gerissen-Sein habe ich oft
erlebt, wenn es um Kindheiten von Diktatoren und Massenmördern oder auch
politische Gewalt und Kindheit an sich geht (ich habe dazu in meinem Buch
entsprechend kommentiert).
Wenn man sich mit Hitlers Kindheit ausführlich befasst, dann
fällt es nicht schwer, das „Aufflackern“ dieser Kindheit in den oben zitierten
Auszügen aus „Mein Kampf“ zu erkennen. Ich sehe es wie Alice Miller: Hitler hat
hier seine eigenen Erfahrungen eingebracht. Wohl aber hat er sie auch auf das
Erleben vieler anderer Menschen übertragen (und er hat nicht seine Eltern
direkt angeklagt). „In Hunderten von Beispielen habe ich dieses alles miterlebt“,
schreibt Hitler. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass Hitler nicht
hunderte Male in Arbeiterfamilie zugegen war, wenn der Vater des Hauses „betrunken
und brutal“, wie er schreibt, nach Hause kam. Wahrscheinlich wusste er aus
Erzählungen Anderer darum, dass solche häusliche Destruktivität nicht selten
vorkam. Vielleicht hat er auch hin und wieder in einer Familie übernachtet.
Aber diese seine Betonung auf „Hunderten von Beispielen“ spricht aus seiner
Tiefe heraus. Und ich meine, dass da auch das Kind in ihm spricht.
Meine wesentliche Frage aber ist (und dies war der
eigentliche Hauptgrund für diesen Beitrag), ob auch Hitlers Mutter Klara von
ihrem Mann misshandelt wurde (verbale Demütigungen sind dagegen nahezu sicher,
wenn man sich mit den häuslichen Verhältnissen im Hause Hitler und der Stellung
von Klara befasst)? Ich finde auch hier, dass Hitlers Aussagen in „Mein Kampf“
eine überdeutliche Sprache sprechen. Ergänzt wird dies durch einen Bericht des
Halbbruders, den der Historiker John Toland wiedergegeben hat. Toland schildert
zunächst die väterlichen Misshandlungen, die der Halbruder und auch Adolf
erlebt haben (ergänzend wurde auch der Hund des Hauses mit einer Peitsche
traktiert und zwar so lange „bis er sich krümmte und den Fussboden nässte“).
Dann hängt er an: „Gewalttätigkeiten dieser Art musste, Alois Hitler jr. zufolge,
sogar die duldsame Ehefrau Klara Hitler ertragen; wenn diese Angaben stimmen,
so müssen solche Auftritte bei Adolf Hitler einen unauslöschlichen Eindruck
hinterlassen haben“ (Toland, J. (1977): Adolf Hitler. Gustav Lübbe Verlag,
Bergisch Gladbach, S. 26)
Das Miterleben von (schwerer) Gewalt gegen die eigene Mutter
ist eine folgenschwere Erfahrung für Kinder. Auch ohne diesen Belastungsfaktor war
Adolf Hitlers Kindheit in der Gesamtsicht unfassbar traumatisch. Trotzdem, ich
meine, dass in anderen Fällen schon bei weit weniger Belegen von häuslicher
Gewalt zwischen Elternteilen ausgegangen wird. Wir haben Belge für schwere und
häufige väterliche Gewalt und ein aufbrausendes Temperament + Alkoholmissbrauch
des Vaters. Dazu der große Altersunterschied zwischen Klara und Alois, Klaras
ursprüngliche Stellung als Dienstmädchen im Haus und ihre entsprechende Unterlegenheit
und Ohnmacht (auch ergänzend auf Grund damaliger stark
patriarchaler Strukturen und Verhältnisse). Dazu die deutlichen Aussagen des
Halbruders (nach Toland) und Hitlers Schilderungen in „Mein Kampf“. Ich bin
entsprechend davon überzeugt, dass Klara Hitler Misshandlungen seitens ihres
Mannes erlitten hat und die Kinder im Haus dies auch mitbekommen haben.
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