Die Bundesregierung hat am 25.11.2020 den „Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ veröffentlicht. Insgesamt werden 89 Maßnahmen aufgeführt, die wiederum verschiedenen Ministerien zugeordnet wurden. 1 Milliarde Euro wird zur Verfügung gestellt, um die Maßnahmen umzusetzen.
Ich ahnte es schon nach den ersten Presseberichten und habe mir heute nun den Maßnahmenkatalog im Detail angeschaut: Es gibt keine einzige Maßnahme, die in Richtung Kinderschutz geht, keine!
Dazu würde gehören: Prävention von Kindesmisshandlung in all ihren Formen und von häuslicher Gewalt in Verbindung mit „Elternbefähigungsprogrammen“. Dazu würde gehören, dass die Gesellschaft „traumasensibel“ und „traumainformiert“ wird. Das Wissen um Ausmaß und Folgen von belastenden Kindheitserfahrungen (ACEs) muss gesamtgesellschaftlich zum Allgemeinwissen werden. Alle Menschen sollten darüber aufgeklärt werden, dass Psychotherapien helfen können, die Folgen von traumatischen Erlebnissen abzumildern und sie sollten wissen, wie man an solche Therapieplätze kommt. Der „Kreislauf der Gewalt“ gehört besprochen. Eltern (Elternführerschein?) sollten aufgeklärt werden, welche Verhaltensweisen Kinder schädigen und wie sich dies lebenslang auswirken kann. Eltern sollten darüber aufgeklärt werden, dass eigene destruktive Kindheitserfahrungen oft an die nächste Generation weitergebeben werden. Eltern sollten Hilfsangebote aufgezeigt werden. Alle wichtigen Infos zum Thema Kindesmisshandlung müssen standardmäßig in die Ausbildung von Lehrkräften und ErzieherInnen verankert werden. Und und und….! Es gäbe sooo viel zu tun, was Gewalt und Extremismus den Boden entzieht, aber kein Wort in dem Katalog der Bundesregierung!
Und: Das schöne ist, dass diese Maßnahmen "nette Nebeneffekte" hätten: z.B. weniger Gesundheitsprobleme, weniger Suchtmittelmissbrauch, weniger Kriminalität und letztlich - das wird die Politik besonders interessieren - weniger gesamtgesellschaftliche Kosten. Eine von der WHO finanzierte Studie aus dem Jahr 2019 kalkuliert die jährlichen Kosten, die auf Grund belastender Kindheitserfahrungen (ACEs) entstehen, auf 581 Milliarden $ in Europa und 748 Milliarden $ in Nord Amerika. Was sind dagegen schon 1 Milliarde Euro aus dem aktuellen Maßnahmenkatalog der Bundesregierung?
Leider ist das gesamtgesellschaftliche Ausblenden von Kindheitserfahrungen meine Dauererfahrung bei dem Thema und gleichzeitig auch mein Antrieb für meine Arbeit in dem Bereich. In meinem Buch habe ich dazu bereits ausführlich etwas im Kapitel „Das große Schweigen“ geschrieben.
Ein Paradebeispiel ist für mich auch das 2020 vom Bundeskriminalamt herausgebrachte „Handbuch Extremismusprävention“. In dem über 750 Seiten starken Handbuch gibt es keinen Beitrag, der schwerpunktmäßig auf die familiäre Sozialisation und Kindheit von Extremisten schaut. Und nur in einem einzigen Beitrag (von Brahim Ben Slama) wird dieses Thema überhaupt in den Blick genommen und als mögliche Ursache für eine Radikalisierung verortet; allerdings auch nur mit wenigen, knappen Ausführungen, die im Gesamtkontext nicht ins Gewicht fallen. Der Extremismusforscher und Leiter des Institutes für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ), Matthias Quent, hat Ende 2020 das Buch „Rechtsextremismus: 33 Fragen - 33 Antworten“ herausgebracht. Keine dieser 33 Fragen richtet sich auf die Kindheit und Familie. Die Frage, woher eigentlich der Hass kommt, wird in dieser Hinsicht nicht von Quent beantwortet. Die Beispiele ließen sich unzählige Male fortführen.
Es verwundert daher auch nicht, dass die Bundesregierung das Thema „Kindheit und Rechtsextremismus“ nicht auf dem Zettel hat. Sie wird von WissenschaftlerInnen beraten und leider gibt es da in Deutschland keinen Fokus auf die Kindheitsursprünge von Extremismus. Auch die NS-Zeit wurde bisher nicht wirklich umfassend aufgearbeitet, trotz der Ende der 1930er Jahre beginnenden Arbeiten um Horkheimer und seiner „Studien über Autorität und Familie“ und trotz des „Geschwister-Scholl-Preises“ 2001 für Arno Gruen und sein Buch „Der Fremde in uns“.
Es ist zum Heulen!
Dabei ist das Ganze paradox! Es gibt mittlerweile etliche Forschungsarbeiten, die zentral die familiäre Sozialisation und Kindheit von RechtsextremistInnen in den Blick genommen und hieraus Schlüsse gezogen haben. Ergänzt wird dieses Bild durch einzelne, autobiografische Buchveröffentlichungen ehemaliger RechtsextremistInnen und mehr noch durch Medienberichte über einzelne rechte GewalttäterInnen (siehe auch meinen Blog). Kriminologische SchülerInnenbefragungen runden das Bild ab. Sie zeigen einen Zusammenhang zwischen destruktiver Erziehung und (rechts-)extremistischen Einstellungen auf.
Destruktive, ja oftmals sogar traumatische Kindheitshintergründe scheinen demnach DIE zentrale Gemeinsamkeit von RechtsextremistInnen zu sein. Ihre Kindheitshintergründe ähneln somit eher denen von (gut erforschten) Risikogruppen wie z.B. allgemeinen/unpolitischen (Gewalt-)StraftäterInnen oder PsychiatriepatientInnen.
Diese „Sehen-Wollen“ und „Erkenntnisse-Sammeln“ bezogen auf die tieferen Ursachen von Gewalt und Extremismus auf der einen Seite (denn die Einzelarbeiten und Einzelstudien gibt es ja!) und dieses fehlende Sprechen darüber, die fehlende Öffentlichkeit, der fehlende Fokus der Wissenschaft und am Ende eben auch die fehlenden, nachhaltigen Maßnahmen auf der anderen Seite sind paradox, aber wahrscheinlich wiederum mit Kindheitserfahrungen zu erklären. Destruktive Kindheitserfahrungen sind derart weit verbreitet und haben unsere menschliche Geschichte stets dominiert, so dass wir nur Stück für Stück und gut dosiert darauf schauen können. Die Gesellschaft als Ganzes muss erst einmal so weit sein, dass sie es auch erträgt, wirklich hinzuschauen. Ich bin mir sicher, dass wir hier in Deutschland auf dem Weg sind. Es wird noch eine Weile, aber nicht mehr ewig dauern, bis der Damm bricht und das Thema breit auf den Tisch kommt, inkl. der psychohistorischen Aufarbeitung der NS-Zeit. Wir kennen das auch aus der Psychoanalyse: Die Wahrheit will einfach an Licht und sich ausdrücken. Dafür brauchen wir einen stabilen Rahmen und auch den Willen. Da sich in Deutschland Kindheit stetig entwickelt hat, friedlicher, gewaltfreier und demokratischer wurde und wird und seit den 1980er Jahren parallel das psychotherapeutische Angebot massiv ausgebaut wurde (und dadurch immer mehr Menschen ihre traumatischen Erfahrungen verarbeiten konnten), werden wir diesen Weg bald gehen können. Ich bin gespannt, wann es so weit ist. Aber, ich bin und bleibe auch sehr ungeduldig und trage meinen Teil zur Aufklärung bei: Steter Tropfen höhlt den Stein.