Freitag, 27. August 2021

Terror von Links - Die Kindheit von Birgit Hogefeld

Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter hat sich in einem Beitrag auf sehr private und offene Weise mit der ehemaligen RAF-Terroristin Birgit Hogefeld befasst:

Richter, H.-E. (2001): Was mich mit einer gewandelten RAF-Gefangenen und ihrem Vater verbindet. In: Wirth, H.-J. (Hrsg.): Hitlers Enkel - oder Kinder der Demokratie? Die 68er-Generation, die RAF und die Fischer-Debatte. Psychosozial-Verlag, Gießen. 

Richter betreute nach eigenen Angaben damals über ein halbes Jahr lang Birgit Hogefeld, die im Gefängnis saß. Im Text nennt er sie nur „Brigit“, was seine engere Beziehung zu ihr deutlich macht. 

Natürlich ist die RAF ohne den Bezug zur NS-Zeit und zu Verstrickungen der Elterngeneration nicht zu verstehen, was auch Richter in diesem Sinne ausführt (und was auch Hogefeld selbst in einem Beitrag im selben Band deutlich so formuliert). Was sein Text allerdings auch zeigt ist, dass die Kindheit von Birgit Hogefeld sehr belastet war. Somit ist ihre Kindheitsbiografie die 17., die ich bzgl. RAF-TerroristInnen bespreche (siehe Blog-Inhaltsverzeichnis). Alle diese Akteure eint, dass sie eine sehr destruktive Kindheit hatten. Geschichte, Zeitgeist, Generationenkonflikte usw. sind gewichtige Einflussfaktoren, sicher. Aber sich derart zu radikalisieren, dass Mann oder Frau im Terrorismus landet, ist etwas anderes. Dafür bedarf es Prägungen in der Kindheit, die eine Schädigung hinterlassen, die Schwarz-Weiß-Denken fördert und Empathie unterdrückt. Dies zeigen auch meine sonstigen Recherchen über ExtremistInnen und TerroristInnen aus allen Spektren.

Richter schreibt: „Was in Birgits Kindheit und Familiengeschichte mag für ihren späteren Weg in die RAF Bedeutung gehabt haben? Dies interessiert mich natürlich als Psychoanalytiker“ (Richter 2001, S. 77). Richter meint, dass Hogefeld den Vater (unbewusst) habe rächen wollte. Dieser habe jahrelang als Soldat gekämpft und sich vom Staat missbraucht gefühlt. Er sei in tiefe Resignation zurückgezogen gewesen. „Die Mutter, von ihm eher verachtet, bildete mit ihrer eigenen Mutter eine Einheit gegen ihn – und oft auch gegen Birgit. Schläge der Mutter, von der sie zugleich ehrgeizige Erwartungen wie heftige Ablehnung erfuhr, waren keine Seltenheit. Aber auch die Zuneigung des Vaters gewann sie nicht eigentlich als Mädchen, sondern weil sie sich wie ein Junge aufführte und sich auch eher wie ein solcher fühlte“ (Richter 2001, S. 77). 

In diesen kurzen Zeilen steckt viel drin: Eine destruktive Beziehung der Eltern, destruktive Eltern-Kind-Beziehungen, mütterliche Gewalt, Leistungsdruck und Demütigungen. Die Vater-Tochter-Beziehung entspreche dem, so Richter, was er als „Eltern, Kind und Neurose“ bezeichnet: „Die Tochter hatte die ihr vom Vater unbewusst übertragene Rolle als Rächerin übernommen, hatte als Substitut seines unerfüllten Ich-Ideals ausgeführt, was er für sich wohl erträumt, aber nie gewagt hatte“ (Richter 2001, S. 78).

Zusammenfassend wird klar, dass diese sehr destruktiven Kindheitshintergründe von Birgit Hogefeld in klassischer Weise meine Grundthese bestätigen: Als Kind geliebte und gewaltfrei aufgewachsene Menschen werden keine TerroristInnen. 


Studie Nr. 30! Kindheiten von Rechtsextremistinnen

Ab heute komme ich auf eine runde Zahl: 30 Studien und Einzelarbeiten (Befragungen oder Fallbeispiele aus der psychotherapeutischen Praxis) habe ich bisher gefunden, innerhalb derer Kindheiten von rechten Gewalttätern bzw. Rechtsextremisten besprochen wurden.

Meine neuste Entdeckung ist:

Sigl, J. (2013): Lebensgeschichten von Aussteigerinnen aus der extremen Rechten. Genderspezifische Aspekte und mögliche Ansatzpunkte für eine ausstiegsorientierte Soziale Arbeit. In: Radvan, H. (Hrsg.): Gender und Rechtsextremismusprävention. Metropol Verlag, S.273-289.

Johanna Sigl hat 3 ehemalige, weibliche Rechtsextremisten befragt (narrative Interviews). Die Ergebnisse fasst sie an einer Stelle zusammen: „In allen geführten Interviews zeigt sich, dass die Hinwendung zur und der Rückzug aus der extremen Rechten nur unter Einbeziehung des familiären Kontexts nachvollziehbar werden. Fallübergreifend war die Bindungsbeziehung zu den Eltern geprägt von Unsicherheiten, Desinteresse oder von Ablehnung. Die Eltern waren nicht als verlässliche Bezugspersonen wahrnehmbar. Keine der Eltern-Kind-Beziehungen konnte als sicher, unterstützend und damit förderlich für die kindliche Entwicklung rekonstruiert werden. Im Fall von Anna stellt die politische Verortung, zunächst in der extremen Rechten und dann in Teilen der linken Szene eine der wenigen, wenn nicht gar die einzige Möglichkeit dar, eine positive Beziehung zu beiden Elternteilen herzustellen bzw. überhaupt ein Beziehungsinteresse seitens der Eltern zu wecken“ (Sigl 2013, S. 282f.).

Der Fall „Anna“ wird dann auch von der Autorin exemplarisch ausgebreitet (Sigl 2013, S. 279f.). Anna wurde mit einer Erbkrankheit geboren, wodurch sich in den ersten Lebensjahren die körperliche Entwicklung verzögerte. Die Krankheit wurde vom Vater vererbt, der starke Schuldgefühle entwickelte und „die Beziehung zu seiner Tochter emotional verweigert. Eine ähnliche emotionale Verweigerung zeigt sich in der Mutter-Tochter-Beziehung, Annas Mutter scheint der Tochter sehr uninteressiert gegenüberzustehen. Die Bindung zu ihren Eltern lässt sich als unsicher beschreiben, die Eltern scheinen es kaum zu vermögen, ihrer Tochter emotionale Zuwendung zu vermitteln“ (Sigl 2013, S. 279).
Schon früh suchte Anna nach einer Ersatzfamilie und hielt sich viel bei ihrer Patentante auf. Die Suche nach „Wahlverwandtschaft“ habe, so Sigl, auch Bedeutung bei der Zugehörigkeitskonstruktion zur extremen Rechten gehabt. Mit 16 Jahren zog Anna Zuhause aus, da sich die Beziehungssituation – auch im Rahmen ihres Abdriftens in die rechte Szene - weiter zuspitzte. Annas Familie väterlicherseits war durch einen NS-Täterhintergrund geprägt, der allerdings verleugnet wurde. Sigl vermutet auch hier einen Einflussfaktor bzgl. Annas Hinwendung zum Rechtsextremismus. 


Freitag, 20. August 2021

Kindheit in Afghanistan und der nie enden wollende Krieg und Terror

(Eine leicht veränderte Version dieses Textes wurde von mir auch als übersichtliche PDF-Datei erstellt)

Der schnelle Einmarsch der Taliban in Kabul und die Besetzung des gesamten Landes in kurzer Zeit mit all den damit zusammenhängendem Leid und Terror für die Bevölkerung hält derzeit die Welt in Atem. Ich habe schon oft auf die Zusammenhänge zwischen den destruktiven Kindheitsbedingungen in Afghanistan und dem Krieg/Terror hingewiesen. Jetzt platzt mir quasi der Kragen! Meine Wut und meine Betroffenheit über die aktuellen Ereignisse habe ich jetzt in umfassende Recherchen über die Kindheitsbedingungen in Afghanistan gesteckt. 


Gewalt gegen Kinder 

Ich beginne mit dem Ausmaß von elterlicher Gewalt gegen Kinder. Gewalt gegen Kinder (11.552 Kinder wurden im Rahmen von UNICEF’s Multiple Indicator Cluster Survey (MICS) Programm durch Befragungen erfasst!) in Afghanistan durch Erziehungspersonen (Mütter oder primäre Erziehungsperson) im Haushalt innerhalb von 4 Wochen (nach Altersgruppen) (Central Statistics Organisation & UNICEF 2013, S. 128): 

2-4Jährige: 

körperliche und/oder psychische Gewalt: 63,2%

nur körperliche Gewalt:  56,4 % 

besonders schwere körperliche Gewalt: 30,1%

psychische Gewalt/Aggressionen: 50,2 %

5-9Jährige: 

körperliche und/oder psychische Gewalt: 78,4%

nur körperliche Gewalt:  73,2% 

besonders schwere körperliche Gewalt: 41,8%

psychische Gewalt/Aggressionen: 65,7%

10-14Jährige:

körperliche und/oder psychische Gewalt: 78%

nur körperliche Gewalt:  71,8%

besonders schwere körperliche Gewalt: 40,5%

psychische Gewalt/Aggressionen: 65%.

Zwischen dem ländlichen und städtischen Raum gab es nur geringfügige Unterschiede. Da nur das Gewalterleben innerhalb von 4 Wochen vor der Befragung erfasst wurde, dürfte das Gewalterleben für die gesamte Kindheit deutlich höher sein. Die Befragungen wurden 2010/2011 durchgeführt. Die gewaltbetroffenen Kinder von damals dürften im Jahr 2021 ca. zwischen 11 und 25 Jahre alt sein. Ich gehe davon aus, dass die heute älteren Erwachsenen in Afghanistan nochmals mehr Gewalt/Demütigungen erlebt haben, als diese jüngere Generation (was dem historischen Trend im Allgemeinen entsprechen würde, siehe dazu z.B. deMause 2005).

Save the Children hat 1099 Personen (Eltern/primäre Bezugsperson, die mindesten mit einem Kind im Alter von über 5 Jahren leben; aber auch Befragungen von Kindern direkt) in Afghanistan befragt. Ergebnisse u.a.:
Children experience high levels of all types of violence. Only 9% of children reported not experiencing any type of violence; 21% experienced from 1 to 3 types; 16% from 4 to 6 types, 10% from 7 to 9 types; 13% from 10 to 15 types, 9% from 16 to 20 types, 20% from 21 to 30 types, and 2.5% more than 31 types“ (Save the Children 2017, S. 1) Zu den Formen von Gewalt, die hier erfasst wurden, gehören u.a. psychische, körperliche und sexuelle Gewalt, körperliche und emotionale Vernachlässigung und das Miterleben von Gewalt in verschiedenen Kontexten.
Einige Zahlen: „Physical violence remains high where the worst forms of violence include kicking (40%); hitting with objects (approximately 40%); beating (34%); choking to be prevented from breathing (21%); burning or branding (15%). 15% of children were also given drugs (…)“ (Save the Children 2017, S. 1). Ca. 30% der Kinder erlebten Vernachlässigung. Auch in der Schule erlebten dieser Studie folgend viele Kinder Gewalt:
Children reported experiencing the following types of physical violence in schools: twisting  fingers with a pencil in between (39%); being threatened by invoking harmful people or ghosts (38%); threats of being hurt and killed (36%); being kicked (36%); being shook aggressively (39%); being slapped on the face or on the back of the head (48%); hit on the head with knuckles (37%); being spanked on the bottom with bare hands (48%); being hit on the buttock with an object (40%); being hit elsewhere with an object (39%); being beaten up (34%); being chocked (20%); being burned or scaled (15%) (…)“ (Save the Children 2017, S. 29f.). Dazu kam ein hohes Ausmaß von psychischer Gewalt in der Schule. Dies alles sind nur Auszüge, der gesamte Bericht ist deutlich umfassender. 

Ein weiterer Bericht bestätigt das hohe Ausmaß von Gewalt in der Schule. Trotz gesetzlichem Verbot von Körperstrafen durch Lehrkräfte wurden in 100% der untersuchten Jungenklassen und in 20% der Mädchenklassen Schüler und Schülerinnen (meist mit Gegenständen/Stöcken) geschlagen. 50% der Lehrkräfte wussten nichts von dem gesetzlichem Verbot. Die große Mehrheit der Lehrkräfte, inkl. der, die um das Verbot wussten, glaubten an die Notwendigkeit und den Nutzen von Körperstrafen. Ergänzend gehörten Demütigungen von Schülern und Schülerinnen zum Alltag, ebenso sexueller Missbrauch durch Lehrkräfte und Gewalt unter Schülern und Schülerinnen (Wood & Save The Children 2011, S. 4).

Traumatische Erfahrungen

Für eine andere Studie wurden u.a. 1011 Schüler und Schülerinnen in Afghanistan befragt (Panter-Brick et al. 2009). Es ging hier um die Erfassung von traumatischen Erfahrungen, wobei elterliche Gewalt nicht abgefragt wurde. 63,5% aller Schüler*innen hatten mindestens ein traumatisches Erlebnis gemacht. 8,4 % hatten sogar 5 oder mehr traumatische Erlebnisse gemacht. Darunter fielen Erlebnisse wie Leben im Kriegsgebiet, Tod oder Verlust naher Familienmitglieder, ernsthafte körperliche Verletzungen oder Miterleben schwerer Gewalt gegen einen anderen Menschen. Die Studie fand auch, dass die Wahrscheinlichkeit psychisch zu erkranken mit der Anzahl der erlebten traumatischen Erfahrungen anstieg. 

Von 4,7 % aller afghanischen Kinder ist entweder ein Elternteil oder sind beide Elternteile gestoben (Central Statistics Organisation & UNICEF 2013, S. 130). 

Die Rate der Müttersterblichkeit in Afghanistan gehört zu den höchsten der Welt. Pro 100.000 Lebendgeburten starben 2017 638 Frauen. Das Risiko der Müttersterblichkeit für die gesamte Lebenszeit ist 1 zu 33 (World Health Organisation et al. 2019, S. 71). Im Jahr 2000 lag die Rate der Müttersterblichkeit noch bei 1.450 (davor vermutlich noch höher). Entsprechend haben die Kinder im historischen Rückblick häufiger den Tod der eigenen Mutter erlebt, als die heutigen Kinder. 

Die Kindersterblichkeitsrate der unter 5Jährigen ist – wie im Rest der Welt – in Afghanistan kontinuierlich gesunken, von ca. 180 von 1.000 Lebendgeburten im Jahr 1990 auf 60,3 im Jahr 2019 (UNICEF 2021a). Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass die vor und um 1990 geborenen Kinder sehr häufig den Tod von Kindern (Brüder, Schwestern, Verwandte, Nachbarskinder) miterlebt haben: Jedes 5.-6. Kind starb vor dem Erreichen des 5. Lebensjahres! Dies ist eine enorme Belastung für die überlebenden Kinder, die heute die Erwachsengeneration der über 30Jährigen in Afghanistan stellen. 

Das "Verschwinden" von weiblichen Menschen ist ein weiteres Thema in dem Land. Der Zensus 2001 belegt für Afghanistan das "Fehlen" von 500.000 bis 1.000.000 Frauen/Mädchen (Hesketh & Xing 2006, S. 13272). Abtreibungen, Säuglingstötungen, Töten durch gezielte Vernachlässigung oder das Aussetzen von Säuglingen sind die üblichen Praktiken, um unerwünschte Mädchen "verschwinden" zu lassen. Was bei dem Thema oft vergessen wird ist, dass die (über-)lebenden Kinder schwer belastet werden, sofern sie die gezielte Tötung mitbekommen oder dies erahnen. 

Kinderehen: Im Durchschnitt wurden 15% aller afghanischen Frauen (15-49Jährige) vor dem 15. Lebensjahr verheiratet. 46% aller Frauen wurden vor dem 18. Lebensjahr verheiratet. Im ländlichen Raum sind die Zahlen höher, als im städtischen Raum (Central Statistics Organisation & UNICEF 2013, S. 134). Die nicht freie Partnerwahl und zudem so frühe Verheiratung bedeutet in meinen Augen den ersten Riss in der Eltern-Kind-Beziehung. Kinder entstehen aus Nicht-Liebes- bzw. Zwangsehen. Die Mütter sind zudem sehr jung und entsprechend unerfahren. Beides wird den Umgang mit den eigenen Kindern deutlich beeinflussen.

Im Durchschnitt haben 10% der Frauen im Alter zwischen 15-19 bereits ein Kind zur Welt gebracht (im Westen würden wir von „Teenagerschwangerschaften“ sprechen, die grundsätzlich erschwerte Bedingungen für Mutter und Kind bedeuten) und 4 % dieser Altersgruppe waren beim Zeitpunkt der Befragung schwanger. 2 % aller Frauen haben vor dem Alter von 15 Jahren ein Kind zur Welt gebracht (Central Statistics Organisation & UNICEF 2013, S. 88) Im ländlichen Raum sind die Zahlen höher, als im städtischen Raum. 

Häusliche Gewalt, Zustimmungsraten zur Gewalt und die "Identifikation mit dem Aggressor"

Overall, 92% of women in Afghanistan feel that their husband has a right to hit or beat them for at least one of a variety of reasons, an alarming statistic„ (Central Statistics Organisation & UNICEF 2013, S. 138). Diese schockierende Zahl kommt auf Grundlage von Befragungen von 21.290 Frauen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren in Afghanistan zu Stande!
„Gründe“ für die Rechtfertigung der Gewalt sind: Verlassen des Hauses ohne Einverständnis des Ehemannes, Vernachlässigung der Kinder, Streit mit dem Ehemann, Verweigerung von Sex mit dem Ehemann oder das Anbrennen von Essen. Im ländlichen Raum (93%) sind die Zustimmungswerte höher als im städtischen (84,8%).
Dies ist einer der höchsten Werte bzgl. der Zustimmung zur (häuslichen) Gewalt gegen die eigene Person, den es weltweit verglichen gibt. Dies spricht für ein extrem hohes Maß an Identifikation mit dem Aggressor und es spricht auch für extreme Unterdrückung und Gewalt gegen Mädchen/Frauen, die diese Identifikationen überhaupt möglich machen.

Wenn vor allem Mütter derart stark mit dem Aggressor identifiziert sind, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch destruktiv mit den weniger mächtigen Menschen umgegangen wird: den im Haushalt lebenden Kindern, für die in Afghanistan vor allem die Frauen zuständig sind. Das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder wurde oben dargestellt und es zeigt, dass – neben den Vätern – vor allem auch Mütter kräftig nach unten austeilen.
Dies zeigte auch eine andere Befragung: Zusammen mit der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, der CARITAS, der Nichtregierungsorganisation vivo international e.V. und der Universität Konstanz wurden 287 Schulkinder aus Kabul (Afghanistan) befragt. Die Ergebnisse wurden in einer Diplomarbeit veröffentlicht. 59,9% der Kinder wurden von ihrer Mutter geschlagen, 41,6% von ihrem Vater (Bette 2006, S. 54). 

Dass Frauen in Afghanistan viel Gewalt durch ihre Partner erleben, zeigt auch ein UN-Women Bericht: „Lifetime Physical and/or Sexual Intimate Partner Violence: 51 %. Physical and/or Sexual Intimate Partner Violence in the last 12 months: 46 %“ (UN-Woman 2021). Entsprechend erleben auch die Kinder diese Gewalt mit, was eine schwere und oft folgenreiche Belastung darstellt.
Außerdem ist in Anbetracht dieser Zahlen die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch Schwangere häusliche Gewalt erleiden und somit auch der Fötus belastet wird. Eine andere Studie zeigt zu diesem Thema auch handfeste Daten auf: In Afghanistan haben demnach 16% aller Schwangeren körperliche Gewalt erlitten (Central Statistics Organization et al. 2017, S. 275). Interessant ist dabei, dass die regionale Verteilung dieser Gewalt gegen Schwanger stark variiert, von im Minimum 0,9% in der Provinz Helmand bis im Maximum 65,7% in der Provinz Ghor (Central Statistics Organization et al. 2017, S. 284). 

Eine Befragung von 916 afghanischen Jugendlichen zeigte außerdem hohe Zustimmungsraten zur  Gewalt (Li et al. 2018). 71,2 % befürworteten für mindestens ein Szenario, dass ein Ehemann seine Frau schlägt. 79,7 % befürworteten, dass Eltern unter bestimmten Umständen ihre Töchter schlagen und 83,6 % befürworteten, dass Eltern ihre Söhne schlagen. 70,3 % befürworteten Körperstrafen in der Schule. Eine Frau, die ihren Mann schlägt, wurde am wenigsten befürwortet und zwar von 48,0 % der Jugendlichen. 

Weitere Belastungsfaktoren (inkl. straffes Einwickeln der Säuglinge)

25 % aller afghanischen Kinder (5 bis 14 Jahre) sind von Kinderarbeit betroffen (Central Statistics Organisation & UNICEF 2013, S. 125). Auch hier gilt wieder, dass im ländlichen Raum die Zahlen höher sind, als im städtischen Raum.

Kind sein in Afghanistan bedeutet vor allem auch arm sein: Afghanistan gehört zu den ärmsten Ländern der Welt (World Bank 2021). 

1 von 4 afghanischen Kindern ist untergewichtig. 2 von 5 Kindern erreichen nicht die volle mentale und körperliche Entwicklung (Unicef 2021b).

Auch internationale Rankings sprechen eine deutliche Sprache. Der „End of Childhood Index 2020“ (Vergleich bzgl. Orten auf der Welt, wo es am schlimmsten ist, ein Kind zu sein) (Save the Children 2020) brachte Afghanistan auf Platz 159 von 180 Ländern. Im „Girls’ Opportunity Index 2016“ (bezogen auf die Lebenssituation von Mädchen/jungen Frauen) (Save the Children 2016) landete Afghanistan auf Platz 121 von 144 Ländern. Beide Rankings zeigen, dass Afghanistan im hinteren Feld steht, wenn es um die Situation von Kindern in der Welt geht.

Dazu kommen alle möglichen Belastungen durch Krieg, Dürren, Flucht usw. was in dem UNICEF Artikel "Afghanistan – der gefährlichste Ort der Welt für Kinder" (Stolz 2020) besprochen wird. 

Ich fand noch eine sehr interessante Studie aus den 1970er Jahren bzgl. der afghanischen Volksgruppe der Paschtunen (aus der heraus meines Wissens nach auch die Talibanbewegung entstanden ist): Hanifi (1971). Die traditionelle Lebensweise wird in dieser Arbeit vor allem bezogen auf Kinder und Kindererziehung besprochen. Ich gehe davon aus, dass diese Tradition auch heute noch im ländlichen Raum wirkt.
Der Säugling wird mehrere Monate lang eingewickelt. Drohungen und Köperstrafen sind das bevorzugte Mittel, um das kindliche Verhalten zu kontrollieren. Das „gute“ Kind ist gehorsam und höflich und niemals aggressiv gegen Elternteile. Lautstärke, Kämpfe oder das Spielen im Haus werden wenig toleriert. Es herrscht eine strenge Sexualmoral vor. Nacktheit wird schon ab dem Säuglingsalter nicht gedudelt. Masturbation wird, wenn sie entdeckt wird, bestraft. Die Geschlechtsrollen der Eltern sind sehr fest und traditionell. Der Mutter kommt die Versorgung von Haushalt und Kindern zu, aber auch das Strafen der Kinder. Das Haus ist der Bereich der Mutter. Über die meisten anderen Dinge entscheidet der Vater, der oft weniger in Beziehung zu den Kindern und für Strenge steht (Hanifi 1971, S. 54f.).

The mothers ordinarily discipline the children, and they will approve of the father`s disciplinary  actions even if they judge him to be severe“ (Hanifi 1971, S. 54) Ansonsten zeigen die Ausführungen das auch in anderen traditionellen Gesellschaften oft zu findende Bild auf: Wenn die Kinder größer werden, wird Selbstständigkeit von ihnen erwartet. Sie müssen sich um sich selbst kümmern. Verhaltensnormen und Abläufe werden im Alltag abgeschaut. Ältere Geschwister achten auf die Jüngeren. 

Das Thema Wickeln (das deutsche Wort dafür ist etwas schlecht, man müsste eher von Einwickeln sprechen) möchte ich nochmals hervorheben: „One of the earliest experiences of the Pushtun infant is that of being wrapped in swaddling clothes. Strips of cloth, new or used, are wrapped around the child until he or she is snug and relatively immobile. In some instances the child`s arms may be left free, but in most cases, at least in the early months, arms are wrapped at the side“ (Hanifi 1971, S. 55). 
Die Entwöhnung des Säuglings erfolgt abrupt, indem z.B. bittere Substanzen auf die Brust der Mutter geschmiert werden oder das Kind einfach für einige Tage zu Verwandten gegeben wird. Der Säugling reagiert darauf laut Hanifi meist aggressiv und verärgert.

Unter der Zwischenüberschrift „Das Einwickeln des bösen Säuglings“ hat der Psychohistoriker Lloyd deMause u.a. geschrieben: „Wickeln ist weltweit praktiziert worden und reicht unzweifelhaft bis in Zeiten stammesgeschichtlicher Kulturen zurück (…). Die Auswirkungen des Wickelns auf jeden des in den letzten zehntausend Jahren geborenen Menschen waren katastrophal“ (deMause 2005, S. 238). DeMause beschreibt einige mögliche Folgen: Schlechte Durchblutung, Brechen des Brustkorbs oder der Rippen, Verdichtung des Gewebes, Verhaltensstörungen wie Lustlosigkeit und Zurückgezogenheit, Behinderungen, später Beginn des Laufens aber auch lebenslange Störungen des Hormonhaushaltes durch frühen Stress.

Dazu kommt, dass das Einwickeln oftmals ein relativ aufwendiger Prozess ist und dass folglich die Säuglinge nicht immer sofort von ihren Ausscheidungen gereinigt werden. Besonders dramatisch ist es, wenn die so eingewickelten Säugling auch noch in einem Raum sich selbst überlassen werden. Wie die genaue Praxis dahingehend in Afghanistan aussieht, konnte ich leider nicht recherchieren.
Der „Vorteil“ für die Eltern liegt auf der Hand: Die so eingewickelten Säuglinge schlafen länger und sind nicht aktiv und leiser (da steckt auch etwas von Gehorsamsforderung von Beginn an drin!). Wer selbst Kinder hat (ich habe 2), der weiß darum, wie gerne Säuglinge herumzappelt, ihre Hände und Beine bewegen und Spaß dabei haben. Eingewickelten Säuglingen ist dies nicht möglich und dies monatelang… Für Säugling sind dies frühe Belastungen, die nicht bewusst erinnert werden können. 

Wie eingewickelte Säuglinge aussehen können, zeigt dieser Ausschnitt: Säugling im Arm seines Vaters/ Afghanistan; entnommen aus dem Buch "Babys in den Kulturen der Welt" (Fontanel & D'Harcourt 2006, S. 83): 


Die beiden Autorinnen kritisieren diese Praxis übrigens nicht in ihrem Bildband. Das Kind werde gewickelt, damit "es fest und gerade gehalten wird und einschlafen kann, ohne durch die Bewegung der Gliedmaßen zu erschrecken. (...) In den ländlichen Gebieten Afghanistans werden die Kinder bis ins Alter von einem Jahr oder sogar noch länger so gewickelt" (Fontanel & D'Harcourt 2006, S. 82). 

Fazit

Kindheit in Afghanistan ist sehr häufig traumatisch und mit diversen Belastungen, Leid und Entbehrungen verbunden, wie im Text gezeigt werden konnte. Insofern haben wir es mit einer von Grund auf traumatisierten Gesellschaft zu tun. (Die Traumatisierungen setzen sich dann im Erwachsenenalter fort, z.B. durch Kriegserlebnisse) Wir wissen heute sehr viel über die möglichen Folgen von Gewalt und belastenden Kindheitserfahrungen. Es ist absolut logisch und nachvollziehbar, dass diese Kindheitsbedingungen in einem direkten Zusammenhang zu politischen und sozialen Schieflagen in Afghanistan stehen (inkl. Extremismus und radikaler Auslegung des Islam). Der Westen hat spätestens seit dem Abzug der Militärs und der Übernahme des Landes durch die Taliban begriffen, dass die Probleme des Landes nicht durch Gewalt und militärisch gelöst werden können. 

Ich möchte dem zwei eindrucksvolle Zitate (einmal von der Kinderbuchautorin Astrid Lindgren und einmal von dem früheren Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Experten für Psychotraumatologie Peter Riedesser; beide Aussagen entstanden bei Preisverleihungen), anschließen, die im Grunde alles sagen:  

"Wir wollen ja den Frieden. Gibt es denn da keine Möglichkeit, uns zu ändern, ehe es zu spät ist? Könnten wir es nicht vielleicht lernen, auf Gewalt zu verzichten? Könnten wir nicht versuchen, eine ganz neue Art Mensch zu werden? Wie aber sollte das geschehen, und wo sollte man anfangen? Ich glaube, wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den Kindern" (Lindgren 1978).

Je mehr Kinder bei uns und weltweit vernachlässigt, geschlagen, gedemütigt werden und in Hoffnungslosigkeit und Hass abgleiten, desto höher ist das destruktive Potential in unserem eigenen Land und weltweit. Vor diesem Hintergrund ist Kinderschutz zu einer Frage des Überlebens geworden. Weltweiter Kinderschutz ist der Königsweg zur Prävention nicht nur von seelischem Leid, sondern auch von Kriminalität, Militarismus und Terrorismus. Er sichert die Demokratie und den friedlichen kulturellen und ökonomischen Austausch. Unsere gesamte Kreativität und Entschlossenheit ist gefragt, dies zu realisieren. Wenn wir alle dies wollten in einem einzigartigen solidarischen Akt, hätten wir dafür auch das Wissen und die Mittel“ (Riedesser 2002, S. 32).


Quellen:

Bette, J.-P. L. F. (2006): PTBS, häusliche Gewalt und Kinderarbeit - eine Epidemiologische Untersuchung von Schulkindern in Kabul, Afghanistan. Diplomarbeit im Fachbereich Psychologie der Universität Konstanz. (Erstgutachter: Prof. Dr. Thomas Elbert, Zweitgutachterin: Dr. Johanna Kißler.) 

Central Statistics Organisation (CSO) & UNICEF (2013): Afghanistan Multiple Indicator Cluster Survey 2010-2011: Final Report. Kabul: Central Statistics Organisation (CSO) and UNICEF. 

Central Statistics Organization (CSO), Ministry of Public Health (MoPH) & ICF (2017): Afghanistan. Demographic and Health Survey 2015. Central Statistics Organization, Kabul.

deMause, L. (2005): Das emotionale Leben der Nationen. Drava Verlag, Klagenfurt, Celovec.

Fontanel, B. & D'Harcourt, C.  (2006): Babys in den Kulturen der Welt. Gerstenberg Verlag, Hildesheim. 

Hanifi, M. J. (1971): Child Rearind Patterns Among Pushtuns of Afghanistan. International Journal of Sociology of the Family, Vol. 1, No. 1, S. 53-57. 

Hesketh, T. & Xing, Z. W. (2006): Abnormal sex ratios in human populations: Causes and consequences. Proc Natl Acad Sci (PNAS) USA, 103(36), S. 13271–13275.

Li, M., Rao, K., Natiq, K., Pasha, O. & Blum, R. (2018): Coming of Age in the Shadow of the Taliban: Adolescents' and Parents' Views Toward Interpersonal Violence and Harmful Traditional Practices in Afghanistan. Am J Public Health. 108(12), S. 1688-1694. 

Lindgren, A. (1978): Niemals Gewalt. Dankesrede.

Panter-Brick, C., Eggerman, M., Gonzalez, V. & Safdar, S. (2009): Violence, suffering, and mental health in Afghanistan: a school-based survey. Lancet. 374(9692), S. 807–816. 

Riedesser, P. (2002): Trauma - Terror - Kinderschutz: Prävention seelischer Störungen und destruktiven Verhaltens. Vortrag bei der Verleihung des Kinderschutzpreises am 29.10.2001. Psychotraumatologie, 3(2), S. 32.

Save the Children (2016): Every Last Girl: Free to live, free to learn, free from harm. London.

Save the Children (2017): Knowledge, Attitudes and Practices on Violence and Harmful Practices Against Children in Afghanistan: A baseline study. Save the Children – Afghanistan Country Office. 

Save the Children (2020): The Hardest Place To Be A Child. Global Childhood Report 2020. Save the Children, Connecticut.

Stolz, J. (2020, 17. Nov.): Afghanistan – der gefährlichste Ort der Welt für Kinder. UNICEF.

UNICEF (2021a): Afghanistan. Country Report.  (Erstellungsdatum unklar, Datum des Zugriffs gewählt)

UNICEF (2021b): The situation of children and women in Afghanistan. Facts and figures.  (Erstellungsdatum unklar, Datum des Zugriffs gewählt)

UN-Woman (2021): Global Database on Violence against Women. Afghanistan. (Erstellungsdatum unklar, Datum des Zugriffs gewählt)

Wood, J. & Save The Children (2011): Save the Children Afghanistan: Learning Without Fear - A Violence Free School Project Manual. Save the Children & Federal Republic of Germany Foreign Office.

World Bank (2021): GDP per capita (current US$). (Erstellungsdatum unklar, Datum des Zugriffs gewählt) 

World Health Organisation et al. (2019): Trends in maternal mortality 2000 to 2017: estimates by WHO, UNICEF, UNFPA, World Bank Group and the United Nations Population Division. Geneva: World Health Organization. 


Donnerstag, 5. August 2021

Kindheit des japanischen Kaisers Hirohito

Die Kindheit des japanischen Kaisers Hirohito (1926 bis 1989 Staatsoberhaupt Japans) war schwer belastet. Alleine die Tatsache, dass er im Geiste aufwuchs, von göttlicher Abstammung zu sein, mag die Psyche eines Kindes sehr durcheinanderbringen. Aber auch weitere Sachverhalte sprechen eine deutliche Sprache. 

Die Ehe der Eltern war, ganz nach japanischere Tradition, arrangiert. Allerdings musste Hirohitos Mutter Sadako „zunächst nur Geliebte sein. Nur bei einer Schwangerschaft hätte sie Taisho (Hinweis Sven Fuchs: Der Vater von Hirohito) als Gemahlin anerkennen dürfen, und auch dann wieder nur, wenn ihm (…) ein Junge geboren wurde, der die Erbfolge sichern konnte“ (Kirchmann 1989, S. 36). So kam es auch, ein Junge wurde geboren und Geliebte und Kronprinz heirateten in der Folge. 

Diese Grundlage für ein neues Leben bedeutet in meinen Augen bereits die erste Belastung für ein Kind: Die Mutter war nicht viel wert - außer durch die Geburt des Sohnes - und eine wirklich emotionale Beziehung gab es nicht zwischen den Eltern. Wobei seine Eltern auch nicht viel als Vorbild zur Verfügung hätten stehen können: „Der strengen Tradition gemäß wurde er seinen Eltern schon früh abgenommen und in die Obhut des Admirals Sumiyoshij Kawamura gegeben, der sich durch Kriegstaten hervorgetan hatte (…)“ (Kirchmann 1989, S. 38).

Allerdings starb dieser Ziehvater, als Hirohito gerade einmal drei Jahre alt war. Der Junge wurde daraufhin in den Palast gebracht, „wo er seine Mutter nur ein oder zweimal die Woche sah, seinen Vater noch weniger“ (Kirchmann 1989, S. 38f.) Der Sohn eines Samurai wurde zum Erzieher bestimmt. Später in der Schule war ein ehemaliger Krieger namens Nogis sein Erzieher, der Hirohito zu hohen Leistungen antrieb. Gelegentlich wurde Hirohito von ihm gezwungen „nackt unter einem eiskalten Wasserfall zu stehen, um Disziplin zu erlernen“ (Kirchmann 1989, S. 41).
Nogis hing dem totalen Kampfgeist der Samurai an und hatte schon sich selbst niemals geschont. Als Hirohito 12 Jahre alt war, starb sein Großvater. Nogis hatte schon zuvor vorsichtige Einwände dagegen vorgebracht, Hirohito als Gottkaiser auf den Thron zu bringen. Er hielt ihn für ungeeignet. Nach dem Tod des Großvaters wurde Hirohito zum Thronfolger erklärt. Nogis suchte seinen Zögling einen Tag vor dem großen Staatsbegräbnis auf und ermahnte ihn, den Traditionen treu zu bleiben und besser zu studieren. Danach begingen er und seine Frau Suizid (Seppuku). Er "schlitzte sich langsam und absichtlich schmerzhaft den Magen auf, immer darauf bedacht, wie ein großer Samurai den Göttern seinen ernsthaften Willen kundzutun, in Ehren aus dieser Welt zu scheiden" (Kirchmann 1989, S. 41).
Dieser fanatische Mann war vorher für die Erziehung des Kronprinzen verantwortlich. Wir dürfen annehmen, dass die Prägungen entsprechend groß gewesen sein dürften. Ob und wie den 12Jährigen dieser Suizid belastete, wird vom Biografen nicht ausgeführt. Da dem Kronprinz keinerlei Elternfiguren zur Verfügung standen und er zudem schon als 3Jähriger einen Ziehvater verloren hatte, gehe ich davon aus, dass ihn der Suizid nicht unberührt gelassen hat.

Hirohito war letztendlich „Objekt einer weitgehenden Vernachlässigung durch seine Eltern, für die wohl weniger seine Mutter Sadako, als der unmenschlich-rituelle Rahmen hofstaalicher Mechanismen verantwortlich war“ (Kirchmann 1989, S. 42). Auch in einer anderen Quelle wird unter der Zwischenüberschrift „Kindheit ohne Eltern“ zusammengefasst: „Die Erziehung war sehr streng und verfolgte das Ziel, dass sich der Junge durch Abstinenz von Elternliebe zu einer starken, eigenständigen Persönlichkeit entwickeln sollte. Wie Kaiser Akihito selbst später äußerte, hätte er sich als Kind gewünscht, in einer `menschlicheren` Umgebung aufzuwachsen“ (Janz 2016). (Dass potentielle Thronfolger von Ammen und Erziehern erzogen und verpflegt wurden, war übrigens gängige Praxis in der Menschheitsgeschichte. Die meisten Könige und Kaiser waren demnach zutiefst von ihren Eltern vernachlässigte, bindungslose Kinder.)

All diese Informationen bilden nur den Grundrahmen, der deutlich schwerste Belastungen für das Kind aufzeigt. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass dieses Kind in seinem strikten und strengen Lebensrahmen mit diversen Bediensteten und ohne enge, emotionale Bindungen an Elternfiguren in seinem Alltag etlichen Belastungen ausgesetzt gewesen sein wird, von denen wir nichts erfahren werden. Ein Kaiser ist immer auch Symbolfigur und den Dynamiken der vorhanden Strukturen ausgesetzt. Allerdings stellt sich schon die Frage, ob und wie politische Entscheidungen (vor allem auch während des Zweiten Weltkriegs) mit dieser traumatischer Kindheit zusammenhingen?


Quellen:

Janz, H. (2016, 23. Dez.): Kaiser Akihito: Aufrichtigkeit, Vergebung und Volksnähe. Japandigest. 

Kirchmann, H. (1989): Hirohito. Japans letzter Kaiser. Der Tenno. Wilhelm Heyne Verlag, München



Montag, 2. August 2021

Islamistischer Terrorismus: Kindheit von Denis Cuspert

Der frühere Musiker Denis Cuspert, der sich dem „Islamischen Staat“ anschloss, bekam medial viel Aufmerksamkeit. In einem Medienbericht wird deutlich, dass auch seine Kindheit belastet war:
Eine behütete Jugend war es aber nicht, sondern eine, in der die Eltern ständig überfordert waren und es eine Mutter gab, die behauptete, ihre im Haus von der Polizei gefundenen Drogen gehörten dem eigenen Sohn. Wenn sie keine Lust auf Denis hatte, warf sie den Sohn einfach aus der Wohnung“ (Krüger, K. (2013, 29. Okt.): Rapper Denis Cuspert: In Allahs Gang. Frankfurter Allgemeine Zeitung).
Seinen leiblichen Vater lernte Denis nie kennen. Mit dem Stiefvater gab es schwere Spannungen, so dass Denis selten zu Hause war. Cuspert wurde später zum Gangmitglied und kriminell (Hellmuth, D. (2016): Of Alienation, Association, and Adventure: WhyGerman Fighters Join ISIL. Journal for Deradicalization, Nr. 6, S. 27f.), 

Islamismus: Kindheit von Sven Lau

In seiner Autobiografie (2021: Wer ist Sven Lau? Book on Demand, Norderstedt. Kindle E-Book Version) hat der ehemalige islamistische Prediger und Salafist Sven Lau, der von den Medien früher sehr viel Aufmerksamkeit bekam, deutlich über seine Kindheitsbelastungen geschrieben.

Sein Vater prügelte ihn und auch die Mutter. Seine Mutter war noch ein Teenager, als sie mit Sven schwanger war und war dadurch wohl auch überfordert. Nach der frühen Trennung seiner Eltern sah Sven seinen Vater erst wieder im Alter von 18 Jahren. Es gab Phasen, in denen Sven kein Essen hatte, weil die ökonomische Situation der alleinerziehenden Mutter zu angespannt war. Ein späterer Stiefvater trennte sich ebenfalls wieder von seiner Mutter (Lau 2021, S. 16ff.).