Sonntag, 30. Januar 2022

Studie: Traumatische Erfahrungen von französischen Islamisten

Für eine Studie aus Frankreich wurden 70 Jugendliche und 80 junge Erwachsene, die sich islamistisch radikalisiert hatten und sich dem „Islamischen Staat“ anschließen wollten, befragt und analysiert:

Oppetit, A., Campelo, N., Bouzar, L., Pellerin, H., Hefez, S., Bronsard, G., Bouzar, D., & Cohen, D. (2019). Do Radicalized Minors Have Different Social and Psychological Profiles From Radicalized Adults?. Frontiers in psychiatry, 10, 644. 


U.a. wurden traumatische Erfahrungen erfasst:

  • Körperliche Misshandlungen oder sexuellen Missbrauch hatten 26,7 % erlitten.
  • Vernachlässigung oder emotionale Misshandlungen hatten 85,3 % erlebt.
  • Sucht und Drogenmissbrauch eines Familienmitglieds hatten 32 % miterlebt.
  • Vergewaltigung oder Missbrauch eines Familienmitglieds: 16 %.
  • Körperliche Misshandlung eines Familienmitglieds: 32 %.
  • Depressionen eines Familienmitglieds: 40,7 %.
  • Körperliche Gesundheitsprobleme eines Familienmitglieds: 27,3 %.

Dazu kamen diverse Auffälligkeiten bzgl. des Gesundheitszustands der befragten Islamisten. Z.B. hatten 44 % vor ihrer Radikalisierung Depressionen. 22 % hatten ein Suchtproblem und nahmen Drogen (ebenfalls vor der Radikalisierung). 29,3 % neigten vor der Radikalisierung zu Selbstverletzungen. 

Es liegt auf der Hand, sowohl den Gesundheitszustand der Befragten vor deren Radikalisierung als auch deren Weg in den Extremismus in einen Zusammenhang mit traumatischen Vorerfahrungen zu stellen. Merkwürdigerweise ist die Studie dahingehend komplett wortkarg. Im Fokus der Studie stand vielmehr - wie der Titel auch sagt - der Vergleich der beiden Befragtengruppen (Jugendliche – Erwachsene). Leider wurde auch die Methodik nur kurz ausgeführt. Es sind z.B. keine genauen Definitionen der o.g. Belastungsfaktoren zu finden. Aber dies nur nebenbei.

Bzgl. der Zusammenhänge zwischen Kindheit/Trauma und Extremismus ist dies eine wichtige Studie!


Freitag, 14. Januar 2022

Trauma-Täter und der Gehirntumor meines Nazi-Großvaters

In diesem Beitrag geht es mir um die Sicht von Menschen (dabei auch vor allem von Menschen, die zum Opfer wurden oder die Angehörige von Opfern sind) auf Täter und Täterinnen. Dem möchte ich einige Gedanken des Psychologieprofessors und Psychotherapeuten Franz Ruppert (*siehe unten eine ergänzende kritische Anmerkung bzgl. Rupperts Wirken in der Corona-Pandemie) voranstellen:

Trauma-Täter zu sein ist, wenn es einmal geschehen ist, ein bleibendes Faktum. Wenn jemand einen anderen Menschen Schaden zufügt, der nicht gutzumachen und sozial inakzeptabel ist, so ist das nicht nur für sein Opfer, sondern auch für ihn als Täter eine traumatisierende Lebenserfahrung. Sie führt zu einer bleibenden Beschädigung der Psyche. Denn aus dem Faktum des Trauma-Täterseins folgt: Solange seine Psyche gesund funktioniert, und einen Rest gesunder Psyche hat auch jeder Täter, hat ein Täter angesichts der Realität seiner Tat ein nagendes schlechtes Gewissen. Er macht sich selbst schwere Schuldgefühle, es steigen massive Schamgefühle in ihm hoch und er hat Angst vor sozialer Ächtung. Das sind auf Dauer nicht aushaltbare emotionale Spannungszustände. Daher müssen solche Gefühle aus dem Bewusstsein eines Trauma-Täters ausgegrenzt und abgespalten werden. D.h., auch Trauma-Täter sind – wie ihre Opfer – nach einer Tat gezwungen, sich psychisch zu spalten, um innerlich zu überleben. Dies umso mehr, wenn sie weiter mit ihrem Opfer oder deren Angehörigen in einer (Zwangs-)Gemeinschaft zusammen sind“ (Ruppert, Franz (2021): Die Täter-Opfer-Dynamik. In: Reiß, H. J., Janus, L., Dietzel-Wolf, D. & Kurth, W. (Hrsg.): Kindheit ist politisch – Die Bedeutung der frühen Kindheit für die Konflikt- und Handlungsfähigkeit in der Gesellschaft (Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 21), Mattes Verlag, Heidelberg, S. 376) 

Das Wortpaar „Trauma-Täter“ finde ich sehr passend! Es beschreibt nach meinem Verständnis zwei Seiten: 

1. Die Täter waren (meist) vorher selbst Opfer, die Grundlage für eigene Täterschaft. 

2. Durch ihre eigene Taten werden Täter und Täterinnen ebenfalls traumatisiert. 

Meine Anmerkungen dazu: 

Je mehr Taten ein Mensch begeht, desto mehr muss er innerlich abwehren. Logisch! In der Folge wird ein solcher Mensch emotional immer „kälter“ bzw. spürt nichts mehr. Nach außen können teils große Gefühlsausbrüche gespielt/inszeniert werden, was der innerlichen Realität allerdings nicht entspricht. 

Mir geht es hier wie anfangs gesagt aber gar nicht so sehr um die Täter, sondern darum, dass viele Opfer meiner Beobachtung nach oftmals an den Tätern emotional „hängen“ bleiben. Die Taten sind unfassbar und haben so viel Leid erzeugt, ob nun das eigene Leid oder das Beobachtete. Menschen neigen dazu, von den Tätern eine Regung zu fordern, eine Erklärung, bestenfalls eine ernst gemeinte Entschuldigung, eine empathische Reaktion, etwas Menschliches, irgendetwas! Die Erfahrung zeigt, dass solche Reaktionen kaum zu erwarten sind. Im Gegenteil: Täter wie z.B. Anders Breivik bedauern noch im Gerichtssaal, dass sie nicht noch mehr Menschen getötet haben. Oder sie steigern sich in diverse Abwehrhaltungen hinein („Es waren nur Befehle, ich selbst bin das Opfer“).  

Noch verstrickter wird es, wenn die Täter (Frauen sind mitgemeint!) aus der eigenen Familie kommen. Die Opfer sind emotional gebunden und fordern noch weit mehr eine Reaktion des Täters ein, sofern sie es irgendwann schaffen, diesen zu konfrontieren. Die Erfahrung zeigt, dass die Reaktionen oder besser Nicht-Reaktionen der Täter oft nur erneute Verletzungen verursachen. Opfer sollten ihre eigene Heilung und ihren eigenen weiteren Lebensweg nicht von der Reaktion der Täter abhängig machen! 

Was aber hilft, davon bin ich überzeugt, ist, die innere Dynamik von Tätern zu verstehen. Denn dies löst Menschen von ihren Fragen und ihrem Warten auf Reaktionen. Wenn also erstens Täter oftmals selbst Opfer waren (was an sich eine innere Spaltung begünstigt) und zweitens durch ihre Taten erneut traumatisiert werden und sich dadurch noch mehr innerlich von ihrem eigenen „Ich“ abspalten müssen, dann bräuchte es wohl etliche Jahre an Psychotherapie, starken Willen und schmerzhafter Arbeit an sich selbst, damit solche Menschen zu wirklich emotionalen Reaktionen gegenüber den Opfern fähig wären. Damit sie wirklich nachfühlen und sich ernsthaft für ihre Taten schämen und entschuldigen könnten. 

Ich bin davon überzeugt, dass ab einem gewissen Grad der eigenen Täterschaft Menschen auch bzgl. menschlicher Regungen „verloren“ sind. Sie werden es in ihrem Leben nicht mehr schaffen, aus der inneren Kälte herauszutreten (im Grunde die größte Strafe für einen Menschen, der nur dieses eine Leben hat!). Menschen wie Anders Breivik z.B. haben so viele Menschen getötet, wenn er selbst dies wirklich innerlich nachfühlen könnte, was er getan hat, er würde innerlich gesprengt werden und müsste sich wohl selbst töten (Breivik strahlt es an sich auch wie ein Paradebeispiel aus: dieser Mann ist emotional absolut tot!). Das Gleiche gilt aber natürlich auch für den Täter-Vater oder die Täterin-Mutter, die jahrelang die eigenen Kinder terrorisiert haben. 

Ich möchte nicht alle Aussöhnungsprozesse und auch Therapieangebote für Täter in Abrede stellen. Bitte versteht mich nicht falsch! Jeder kleine Erfolg bzgl. Trauma-Tätern ist ein Erfolg. Und ja, sie sind und bleiben auch immer Menschen. Mir geht es schlicht darum, dass wir nicht all zu viel von Trauma-Tätern erwarten dürfen. Diese Erwartungen und auch viele Fragen an die Täter sind Fakt und auch verständlich. Ich für meinen Teil konzentriere mich lieber auf die Prävention: Opfererfahrungen verhindern und frühzeitige Aufarbeitung von Opfererfahrungen IST Täterprävention. 

Franz Ruppert hat über Trauma-Täter auch folgendes geschrieben: 

Weil sie kein eigenes Ich haben und mit sich selbst nichts anfangen können, brauchen Trauma-Täter weiterhin die Beziehung zu ihren Opfern und können diese nicht in Ruhe lassen. (…) Ohne ihre (potentiellen) Opfer sind Trauma-Täter selbst nichts! Eine leere Hülle! Wenn man bedenkt, wie viele Trauma-Opfer sich ihr Leben lang unablässig Gedanken über die Trauma-Täter machen, so muss diese Erkenntnis für sie absolut erschütternd und ernüchternd sein: Der Trauma-Täter besteht in Wahrheit innerlich aus nichts! Alles an ihm ist nur Fassade.“ (ebd., S. 380). Besser kann man es kaum zusammenfassen. 

Mein Großvater väterlicherseits war ein Nazi und bei der SS. Außerdem war er als Vater kalt und teils auch grausam. Er hatte auch seine menschlichen Seiten (Franz Ruppert würde von dem „gesunden Teil der Psyche“ sprechen, der immer bleibt). Aber er hatte auch bis zum Ende diese „innerliche Kälte“, aus der er nicht heraustreten konnte. Vor seinem Tod traf ich ihn ein letztes Mal im Krankenhaus. In seinen Augen sah ich Angst. Trauma-Täter gehen nicht in Frieden aus dieser Welt. Das ist tragisch, aber so ist es. 

Mein Großvater starb an einem Gehirntumor. Auch wenn es sicher keine empirischen Belege dafür gibt, dass Nazis häufiger an einem Tumor sterben, als andere Menschen: Für mich steht fest, dass dieser Gehirntumor auch ein Ausdruck dessen war, wie er sein Leben gelebt, was für Entscheidungen er getroffen und welche Taten er begangen hat. Als mein Großvater starb, hat mich das kaum berührt. Er war kein Mensch, dem man sich emotional nahe fühlen konnte...


* Ich schätze die Expertise von Franz Ruppert bzgl. Traumafolgen sehr, deswegen zitiere ich ihn hier! Mir ist bewusst, dass Ruppert bzgl. der Corona-Pandemie eine Haltung gezeigt hat, die eine deutliche Tendenz für Verschwörungsglaube zeigt. Seine Haltung zeigte er sehr offen auf entsprechenden Portalen wie KenFM oder Rubikon. Ich distanziere mich von solchem Gedankengut! Solange Ruppert nicht in eine verfassungsfeindliche Richtung abdriftet, greife ich allerdings trotzdem auf seine Expertise bzgl. Traumatisierungen zurück. 

Dienstag, 11. Januar 2022

Kindheit des Ex-Nazis Matthew Collins

Hate: My Life in the British Far Right“ heißt die Autobiografie von Matthew Collins (2011, Biteback Publishing, London). 

Sein Buch beginnt Collins mit Schilderungen über den Vater seiner Mutter, den er als „tyrannical father“ beschreibt, vor dem seine Mutter verzweifelt floh (S. 1). Auch der Großvater väterlicherseits scheint schwierig gewesen zu sein. Er blieb der Hochzeit seines Sohnes fern, da dessen zukünftige Frau, die Mutter von Matthew, eine Protestantin war. Dieser Großvater habe in seinem Hinterhof auch Hunde fast totgeschlagen. Collins ergänzt: „He hated my mother“ (S. 1). 

Entsprechend ist zu vermuten, dass die Kindheiten der Eltern von Matthew Collins belastet waren, was wiederum die Wahrscheinlichkeit stark erhöht, dass diese Eltern auch die eigenen Kinder belasten. Bzgl. seines Vaters wird Collins ziemlich deutlich: Sein Vater war Alkoholiker. Außerdem scheint der Vater kaum Bindungen innerhalb der Familie eingegangen zu sein. Obwohl der Vater bis zu Beginn der Grundschulzeit von Matthew in der Familie lebte, schreibt Collins: „Sadly, I have no recollection of my father ever living with us“ (S. 1).
Danach trennten sich die Eltern und Matthew sah seinen Vater nur noch sporadisch. Sein Vater habe bei den Treffen oft nach Schnaps gerochen (S. 2). „When I remember him back then I think he did care strange, detached way. But I always wondered why he couldn`t love us and our mum as much as he loved alcohol and why he wouldn`t just stay with us …“ (S. 3). 

Matthew buhlte um die Aufmerksamkeit seines Vaters, bekam sie aber nicht. Er fragte sich, ob er seinen Vater vielleicht langweilte und geht gedanklich in seine Kindheit zurück: „`Look at me, I can read! I´m the best in my class, read a book with me, please`, I`d beg. But he never did. I´d dump a hundred toy soldiers onto the floor und say `Let´s play!` but he never did“ (S. 3)

Die Familie war außerdem relativ arm, eine weitere Belastung für die Kinder. Das Verhältnis zu seiner Mutter beschreibt Collins nur sehr knapp, was vielleicht wiederum für sich spricht. Er deutet an, dass es oft Streit am Tisch gab (S. 4). Außerdem beschreibt er die Strenge „Regierung“ seiner Mutter: „My mother`s reign at home was tight, but never tyrannical“ (S. 8). Nun, wie oben erwähnt war der Vater der Mutter tyrannisch. Collins war es hier offenbar ein Bedürfnis, seine Mutter dahingehend abzugrenzen, indem er betont, sie sei nicht tyrannisch, sondern nur streng gewesen. Wie der Erziehungsalltag genau aussah, berichtet er leider nicht. 

Auch mit einem seiner Brüder geriet Matthew schon als Jugendlicher in Konflikt. Sein Bruder ging zur UNI und Matthew störte diese intellektuelle Entwicklung des Bruders offensichtlich. Über 20 Jahre habe er mit dem Bruder nicht mehr geredet (S. 10). Auch dies spricht für wenig emotionale Bindungen in dieser Familie. 

Als Jugendlicher entwickelte sich Matthew schnell zum „Problemschüler“. Er hatte den Ruf „the worst kind of bully“ zu sein (S. 8). Im Alter von 13 Jahren galt er bereits als Rassist. Die Nähe zu rechtem Gedankengut suchte er geradezu und fand seinen Weg in die Szene. Matthew fühlte sich vor allem unverstanden. Und er war voller Fragen und Selbstzweifel. An einer Stelle fragt er rückblickend auf seine jungen Jahre: „What was eating at me, why was I so angry?“ (S. 10). Ich glaube, dass seine Familiengeschichte sehr gut deutlich macht, woher all die Wut und der Hass kamen.