Sonntag, 29. Januar 2023

Das Schwarze da unten (von Jens Söring)

Jens Söring hat mir einen weiteren Text aus seinem früheren Blog geschickt, in dem es vertiefend um das Verstecken, Verdrängen und Vergessen von Kindheitstraumata von Inhaftierten geht. Der Text ergänzt sehr gut seinen Beitrag "Das Geheimnis, das niemand wissen will"! 

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Das Schwarze da unten (von Jens Söring)

Ein Mitglied meines Freundeskreises hat mich gebeten, einen Blogeintrag über die verschiedenen „Typen“ von Gefangenen zu schreiben. Ein mir persönlich nicht bekannter Leser meines Blogeintrags über meinen Freund Lumpen schrieb einen Kommentar, dass ich Lumpen zu menschlich darstelle und mich nicht ausreichend mit den Opfern befasse. Eine Bekannte aus meiner Zeit an der University of Virginia vor sechsundzwanzig Jahren schrieb mir zum selben Blogeintrag, sie freue sich, dass ich nun einen Freund hätte, mit dem ich mich verstehen könnte, jetzt sei ich nicht mehr so einsam.

Ach, liebe Leute, manchmal macht Ihr es mir wirklich schwer. Sieben Bücher, rund fünfzig Artikel und 59 Blogeinträge habe ich mittlerweile veröffentlicht, aber wenn ich Kommentare wie die drei obigen lese, habe ich das Gefühl, dass Euch mein Leben und die Gefängniswelt immer noch vollkommen fremd sind. Vielleicht bin ich einfach nur ein schlechter Schriftsteller.

Möglicherweise ist das Problem auch, dass ich zurzeit die Einsamkeit meines Lebens besonders schmerzhaft spüre. Ende Juli wurde meine Entlassung auf Bewährung („parole“) abgelehnt und nur vier Tage, nachdem ich darüber informiert wurde, erhielt ich Besuch von drei Mitgliedern meines Freundeskreises aus Deutschland, siehe B55 -  Besuch bei Jens im Sommer 2011. Mir wurde also die Tür wieder einmal ins Gesicht geschlagen – und dann gleichzeitig vor Augen geführt, was ich nun nicht  bekommen werde.

Richtige menschliche Beziehungen nämlich. Mit Menschen, die ich umarmen kann, ohne dass dabei immer gleich der Komplex „Vergewaltigung in der Knastdusche“ mitschwingt. Mit Menschen, die nicht innerlich auf irgendeine Weise so vollkommen zerstört worden sind, dass sie mir letztlich ewig fremd bleiben müssen. 

Mit ... ach, in meinen Gedanken nenne ich alle meine Besucher aus der Außenwelt immer „drei-dimensionale Wesen“. Weil sie echt sind, während meine Mithäftlinge alle, ausnahmslos, irgendwie unecht sind, zwei-dimensional wie eine Zeichnung in einem Comic-Buch. Das Leben, die Welt, hat so unglaublich hart auf sie eingeprügelt, dass sie plattgeschlagen worden sind, flach wie ein Blatt Papier, zwei-dimensional eben. Ihnen fehlt etwas, diese dritte Dimension, die Menschen erst zu Menschen macht.

Was ist dieses gewisse Etwas, was meine Besucher aus der Außenwelt haben, aber meinen Mitgefangenen fehlt, und was deshalb mein Leben so entsetzlich einsam macht? Sie werden lachen: Es ist die Liebe. Oder, um es etwas genauer auszudrücken. Es ist das Vertrauen, welches ja die Voraussetzung zur Liebe ist. Der Mut, sich auf einen anderen Menschen einzulassen – also ihn oder sie zu umarmen.

Aus diesem Grund habe ich die Umarmung zu meiner Lebensphilosophie gemacht – denn ich kann und will umarmen. Sie können diese Lebensphilosophie schon in meinem ersten Buch finden, das ich 2001 schrieb, und Sie werden es in meinem achten Buch finden, welches ich im Frühling dieses Jahres schrieb und das im Frühling 2012 veröffentlicht wird.

Der Clou: Man muss den spezifischen Mut haben, ausgerechnet seine Feinde zu umarmen, und zwar die inneren Feinde wie die äußeren. Die eigenen Schwächen und Ängste muss man umarmen, und die schwierigen Menschen und gefährlichen Situation im täglichen Leben auch.

Das erfordert Courage und eben vor allem Vertrauen – in sich selbst, in den Feind, ins Leben, in die Welt. Man muss Hoffnung haben: den Glauben, dass das jeweilige Wagnis, sich zu öffnen, ein gutes Ende haben könnte.

Genau das haben meine Besucher aus der Außenwelt, und meine Mitgefangenen haben es nicht. Ohne den Mut und das Vertrauen, sich selbst gegenüber und mit anderen Menschen offen zu sein, kann man aber letztlich keine richtigen, menschlichen Beziehungen haben. Und deshalb bin ich so schrecklich einsam hier, als Drei-dimensionaler im Land der Zwei-dimensionalen.

Wieso sind meine Mithäftlinge zwei-dimensional? Den Grund nannte ich in meinem Blogeintrag B26 - Das Geheimnis, das niemand wissen will: Alle, aber wirklich alle Gefangenen sind als Kinder körperlich und/oder sexuell misshandelt worden. Nur eben ich nicht, was mich hier so fremd macht.

Natürlich hatte auch ich ein paar schwierige Phasen und Umstände in meiner Kindheit und Jugend, genau wie die Leser dieses Blogs und meine Besucher aus der Außenwelt auch. Der Unterschied ist jedoch, dass unsere Kindheitstraumata nicht so schrecklich waren, dass wir uns innerlich davor verbergen mussten. Unser Schmerz war nicht so entsetzlich, dass wir ihn in ein kleines seelisches Kästchen einschließen mussten, um uns davor zu schützen.

Zum Beispiel habe ich einen amerikanischen Freund und Besucher, dessen Eltern Schauspieler waren. Sie können sich vorstellen: Das war eine ziemlich neurotische, schwierige Familie. Aber dann ist er selber Schauspieler geworden, und zwar ohne selber ein großer Neurotiker zu werden, und nun verarbeitet er den ganzen seelischen Mist aus seiner Kindheit künstlerisch auf der Bühne. Genau dies meine ich, wenn ich sage, man muss die inneren Feinde, die eigenen Schwächen und Ängste, letztlich umarmen und lieben lernen.

Ich mache fast genau dasselbe schriftstellerisch, und zwar seit Jahrzehnten. Eine meiner Brieffreundinnen meint, es sei manchmal geradezu schockierend, wie ich mich entblöße, aber ich meine, das einzig Ungewöhnliche ist die Öffentlichkeit meiner Offenheit. Künstler teilen sich eben allen mit, doch jeder gesunde Mensch hat Bezugspersonen, denen er sich privat mitteilen kann.

Das ist einfach ein notwendiger Teil des Menschseins: Wir alle haben irgendeinen Freund, bei dem wir uns irgendwann ausgeweint haben, dass unsere Mamas uns nicht genug geliebt haben, unsere Papas immer so gemein zu uns waren, und wir zu Weihnachten auf unsere Geschwister neidisch wurden, weil sie schönere Geschenke bekamen. Und wir alle sind unseren Freunden solche Freunde gewesen, bei denen sie sich über den gleichen Kindheitsmist ausweinen konnten.

Der Unterschied zwischen uns und meinen Mitgefangenen ist, dass deren „Kindheitsmist“ so grausam und entsetzlich war, dass sie selber sich nicht daran heranwagen und ihn deshalb auch nicht anderen mitteilen können. An dem normalen zwischenmenschlichen Bejammern familiären Beziehungsproblemen können die Häftlinge also nicht teilnehmen. Sie sind sich selbst fremd, weil sie einen riesigen Teil der Vergangenheit vor sich selbst verstecken, und deshalb bleiben sie auch anderen fremd.

Nun bin ich ja, wie oben erwähnt, der große Umarmer: Ich habe keine Scheu und keine Angst, ich gehe auf alle zu und tue so, als ob wir Freunde sind. Und siehe da, innerhalb kürzester Zeit sind wir dann auch zumindest freundschaftlich miteinander. 
Das mache ich mit großem Erfolg nun seit einem Vierteljahrhundert mit allen: Massenmördern, Serienvergewaltigern, echten Terroristen, sadistischen Wächtern, eiskalten Gefängnisleitern, und zynischen Journalisten. Wer meinen neuesten Newsletter gelesen hat, der weiß, dass es mir am 1. September sogar gelang, zwei erfahrene Kriminalpolizisten a. D. innerhalb von neunzig Minuten auf meine Seite zu ziehen, einfach, indem ich vollkommen offen war. Das Umarmen – also die mutige, vertrauensvolle Bereitschaft, sich ehrlich und offen auf andere einzulassen – ist wirklich praktisch!

Ganz am Anfang meiner Gefängniskarriere Ende der achtziger Jahre, als ich in London, England, in Auslieferungshaft war, habe ich damit angefangen. Damals wurde ich in einem besonderen Abteil gehalten für Terroristen und „organisierte Kriminalität“, davon schrieb ich in B6 - Terrorismusprozess in Stuttgart-Stammheim. 
In meinem ersten Buch schrieb ich, wie ich mich meinen Mitgefangenen anbot als eine Art freundlicher (und etwas junger!) Beichtvater, dem sie ihre Sorgen mitteilen konnten. Es war das Einzige, was ich tun konnte, um ihnen zu helfen. Und für mich war es natürlich auch ganz interessant, denn meine damaligen Mithäftlinge waren so ungefähr die schwersten und gefährlichsten Jungs, die es gab.

Letztendlich ging es bei diesen Gesprächen aber fast immer um aktuelle Probleme und Sorgen. Zwar erzählte mir ein irischer Terrorist, mit dem ich gut befreundet war, ein bisschen von seiner Kindheit und den Problemen mit seinem Vater, aber er war die Ausnahme. Damals, vor fünfundzwanzig Jahren, fiel es mir gar nicht so sehr auf, dass meine Mitgefangenen kaum über ihre Herkunft und Erziehung sprachen. Heute meine ich, dass dies bezeichnend war, gewissermaßen symptomatisch. Diese Menschen konnten mir nicht von ihren Vergangenheiten erzählen, weil sie selbst keinen inneren Zugang dazu hatten.

Heutzutage bohre ich etwas nach und erfahre zumindest ein wenig mehr. Zum Beispiel erzählte mir ein Häftling in meinem jetzigen Abteil, dass seine Mutter starb, als er noch sehr klein war. Sein Vater war schwer alkoholkrank, oft gab es abends einfach nichts zu essen, dann lag er nachts im dunklen, kalten Schlafzimmer und weinte vor Hunger.

Jahrelang „erzogen“ ihn seine vier älteren Schwestern, die selber noch Kinder waren. Sie zogen ihrem Bruder die eigenen, zu klein gewordenen Kleider an und flochten ihm Rüschen  ins Haar, wie einer lebenden (weiblichen) Spielpuppe eben. Erst als er zehn oder elf war, kam eine Tante, die sich zumindest gelegentlich (wenn auch nicht regelmäßig) um die verwahrlosten und vernachlässigten Kinder kümmerte.

Mit dreizehn fing er an, regelmäßig zu koksen: „Selbstmedikation“ nennt man so etwas, zumindest in Amerika; er betäubte sich selber, um den Schmerz und die gefährlichen Emotionen nicht fühlen zu müssen. Er schloss seine Vergangenheit mit Hilfe der Drogen weg, er versteckte sich vor sich selbst. Das lief so lange gut, bis er seinen Drogendealer tötete. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt.

Ein anderer Mitgefangener wurde von seiner allein stehenden Mutter erzogen, die drogenabhängig, analphabetisch und vollkommen überfordert war. Also peitschte sie ihren Sohn regelmäßig mit einem ausgefransten Elektrokabel aus, an den Beinen, bis er blutete. Er zeigte  mir die Narben. Um den Schmerz auszuhalten, stellte er sich innerlich einfach ab, wie mit einem Schalter waren die Gefühle weg.

Jahre später fand seine Mutter dann zu Jesus, der sie von ihrer Drogenabhängigkeit heilte, und sie nahm sogar Nachtkurse, um das Lesen und Schreiben zu lernen. Ein neuer Mensch! Eines Tages, als sie mit ihrem mittlerweile erwachsenen Sohn in dessen Auto saß, bekam sie einen Weinanfall und bat ihn um Verzeihung. Er umarmte sie und sagte ihr, er wisse doch, dass sie es nur gut gemeint habe. Was hätte es genützt, fragte er mich, wenn er mit seiner Mutter offen über seine Gefühle gesprochen hätte?

Kurz danach schlug er seine Ehefrau dermaßen brutal zusammen, dass er dafür zwanzig Jahre Haft ohne Bewährung bekam. Auch ihn hatte die Vergangenheit eingeholt.

Noch ein weiterer Mithäftling wurde vom Freund seiner geschiedenen Mutter geschlagen und mit dem Stil einer Klobürste als Bestrafung anal vergewaltigt. Jedes Mal, als der Freund abends vorbeikam, um die Mutter ein bisschen zu bumsen, versteckte das Kind sich im Kleiderschrank. Und jedes Mal fand ihn der Freund seiner Mutter dort und bestrafte ihn – nicht immer mit der Klobürste, aber oft genug.

Doch er konnte der Mutter ja nichts davon sagen, denn der Freund gab der Mutter Geld, und sie waren so arm, dass sie dieses zusätzliche Einkommen dringend brauchten. Also schwieg der gute Sohn der Mutter und des Geldes zuliebe. 

Jahre später, in seiner dritten Ehe, entdeckte er, dass die eigene Ehefrau sich einen Freund zugelegt hatte. Also erschoss er den Freund und vergewaltigte seine untreue Ehefrau mit dem Lauf seiner Pistole. Da war sie wieder, die Vergangenheit – bloß mit Pistole statt Klobürste.

Man würde meinen, diese Menschen könnten zumindest jetzt im Gefängnis über ihre bisher weggekokste, verdrängte oder verschwiegene Vergangenheit sprechen. Doch das können sie nicht, immer noch nicht.

Der ehemalige Kokser hat Drogen mit Süßigkeiten ersetzt, heutzutage frisst und frisst und frisst er, völlig haltlos, genau wie früher mit dem Kokain. Er verschuldet sich beim Kredithai, arbeitet Überstunden in seinem jämmerlichen Knastjob – alles nur für ein paar extra Kekse und Schokoladentafeln.

Der ehemalige Frauenverprügler hat eine ganz heiße briefliche Romanze mit der Schwester seiner ehemaligen Ehefrau, nur ist diese Schwester leider verheiratet. Er sucht also immer noch die große Liebe, die er nie hatte, selbst im Knast. Mit der Mutter, die ihn als Kind auspeitschte, hat er weiterhin wenig Kontakt.

Der betrogene Ehemann, Mörder und Vergewaltiger hat natürlich Jesus gefunden, in der erzkonservativen Variante. Das bedeutet anscheinend: Montags bis Samstags bestaunt er die Pornohefte, die die Wächter einschmuggeln, aber am Sonntag sieht er sich die Fersehprediger im TV an und wird richtig aggressiv, wenn man das Thema „Sex“ auch nur erwähnt.

Um sie dazu zu bringen, überhaupt nur ein bisschen über ihre Kindheit zu erzählen, musste ich ganz, ganz sanft mit ihnen sein, ihnen viel Zeit geben, und den richtigen Augenblick abwarten. Dann habe ich von meinem eigenen Trauma erzählt, die schreckliche Geschichte von Elizabeth Haysom – ich habe mich also als Erster offenbart. Das gab ihnen dann den Mut, ein wenig zu sprechen.

Nur war ich ja schon achtzehn Jahre alt, als Elizabeth in mein Leben kam; zwar war ich sehr unreif, aber ich war kein Kind mehr, ich war zumindest etwas innerlich gefestigt. Deshalb konnte ich das Trauma mit Elizabeth letztlich auch verarbeiten, ich musste es weder in mir verschließen noch mich davon innerlich verbergen, ich konnte darüber sprechen und natürlich viel schreiben.

Doch die psychischen Schocks, die diese Männer erlitten, fanden in ihrer Kindheit statt, als sie noch ungeformt und ungefestigt waren. Wenn sie sich an diese Erinnerungen heranwagen, dann kommen die Gefühle eines Achtjährigen hoch, und diese Emotionen sind so stark und unkontrolliert, dass sie sofort wieder versteckt, verdrängt und vergessen werden müssen. Das Schwarze da unten, in den Tiefen der Seele, ist einfach zu gefährlich.

Vermutlich könnte man einige dieser Männer heilen – mit viel Geld und langjähriger, individueller Therapie. Aber warum? Sie alle werden Jahrzehnte, beziehungsweise den Rest ihrer Leben hinter Gittern verbringen. Und sie haben alle ganz schreckliche Verbrechen begangen. Sie sind hier, um bestraft zu werden; denn Strafe muss sein.

Ich finde es verständlich und richtig, dass sich die Gesellschaft und das Justizsystem zuerst um die Opfer dieser Männer kümmert: Keines der Opfer hat es „verdient“, getötet, verprügelt oder vergewaltigt zu werden (selbst der Drogendealer nicht). Auch finde ich es verständlich, dass die Gesellschaft nicht sonderlich an den Kindheitstraumas dieser Männer interessiert ist: Es gibt wahrlich sympathischere Objekte des Mitleids, von Somalia über Bangladesch bis Haiti. 

Aber wir sollten auch ehrlich sein: Genau wie diese Männer ihre Traumas innerlich verstecken, verdrängen und vergessen, so versteckt, verdrängt und vergisst die Gesellschaft diese Männer im Gefängnis. Man spricht nicht über Gefangene und ihre Leiden, genau wie Häftlinge selber nicht über ihre Kindheitstraumas sprechen.

Wenn das Thema dann doch mal erwähnt wird, dann gibt es oft eine aggressive Gegenreaktion – so wie Leser dieses Blogs mich in der Kommentarspalte angreifen, oder so wie der dritte Gefangene oben sehr grantig wird, wenn irgendwer das Thema „Sex“ am heiligen Sonntag erwähnt.

Viel öfter ist die Reaktion jedoch Nichtbeachtung: Meine Bücher verkaufen sich äußerst schlecht, weil niemand wirklich Häftlinge als Menschen sehen will. Und die Gefangenen, denen ich ein paar Details über ihre entsetzlichen Vergangenheiten entlocke, wechseln so schnell wie möglich das Gesprächsthema und reden dann nie wieder darüber.

Weil ich jedoch seit einem Vierteljahrhundert mit diesen Menschen zusammen lebe, kann ich sie und ihre Kindheitstraumas eben nicht verstecken, verdrängen und vergessen. Im Gegenteil, ich sehe es sogar als meine Aufgabe, das Schwarze da unten, in den Tiefen der Seele und in den tiefsten Gefängnissen der Gesellschaft, ans Tageslicht zu bringen. Ich glaube nämlich an die reinigende und heilende Kraft des Lichts und der Liebe.

Ich habe das Schwarze da unten umarmt und mich mit ihr angefreundet. Und ich schreibe von dieser Umarmung, weil die Schriftstellerei eben meine kleine halbneurotische, künstlerische Sublimierungsmasche ist.

Ich werde mit meinen eigenen Problemchen durch das Schreiben fertig und wähne mich glücklich, dass ich in meiner Kindheit nur ein bisschen Stress mit meinen Eltern hatte – nichts im Vergleich zu Hunger und Mädchenkleider, nichts im Vergleich zu Peitschen mit Elektrokabeln, nichts im Vergleich zur analen Vergewaltigung mit Klobürste. Ich hatte es leicht, so leicht, und ich bin dankbar dafür.

Und ich verneige mich beschämt vor meinen Mitgefangenen, deren Kindheiten so viel schrecklicher waren – so entsetzlich, dass ich es letztlich gar nicht nachempfinden kann. Würde ich behaupten, ich hätte Mitgefühl, wäre das eine Lüge:

Die Qualen dieser Männer, als sie noch Kinder waren, stehen einfach zu weit außerhalb der weitesten Grenzen meiner eigenen Erfahrungen. Ich kann sie letzten Endes nicht verstehen.

Deshalb kann ich diese Mithäftlinge auch nicht einfach so verdammen für die schlimmen Verbrechen, die sie begangen haben. Ich wiederhole: Die Opfer dieser Verbrechen haben es nicht „verdient“, getötet, verprügelt und vergewaltigt zu werden! Aber ich schaffe es einfach nicht, die Täter dafür zu verachten. Ich weiß einfach nicht, ob sie wirklich eine „Wahl“ hatten, diese Verbrechen zu begehen.

Was ich aber sehr wohl weiß, ist, dass das Verstecken, Verdrängen und Vergessen ihrer Vergangenheiten zumindest zu den Taten beigetragen haben. Und genau da habe ich meinen Angriffspunkt: Ich kann das Verstecken, Verdrängen und Vergessen mit meinen Büchern und diesem Blog bekämpfen.

Aber das ist einsame Arbeit. Denn diese Menschen, meine Mitgefangenen, sind mir so fremd. Ich verstehe, dass sie sich weiter vor ihrem Kindheitstrauma schützen müssen, sie können nicht einfach so darüber reden. Aber das trennt uns letzten Endes voneinander.

Am Anfang dieses Blogeintrags schrieb ich, dass Menschen wie die Leser dieses Blogs, meine Besucher aus der Außenwelt und ich „drei-dimensional“ sind, während meine Mithäftlinge „zwei-dimensional“ bleiben – ihnen fehlt etwas. Was ihnen fehlt, ist der Zugang zur eigenen Vergangenheit und deshalb zu sich selbst. Sie können es nicht wagen, sich auf andere einzulassen, weil sie sich nicht auf sich selber einlassen können. Ihnen fehlt also die Voraussetzung zur Liebe: die Offenheit und das Vertrauen, das man braucht, um andere umarmen zu können. Und um sich selbst, das eigene Leben, zu umarmen.

Es ist verdammt kalt und einsam, das Schwarze da unten.

2 Kommentare:

Esther hat gesagt…

Danke an Euch beide für das Einstellen. Sehr berührend!

Anonym hat gesagt…

Ich habe gestern die Podcastserie: "Das System Söring" angehört. Scheinbar "weiß" Jens Söring genau wovon er schreibt, wenn er die Untiefen seiner Mitinsassen beschreibt. Er kennt sie wohl - mindestens unbewußt - von sich selbst.

Schade - ich habe ihm geglaubt, dass er unschuldig sei. Doch der Podcast änderte meine Ansicht. Seine Bewährung gönne ich ihm ... denn ich bin gegen beide Arten der "Todesstrafe": die tatsächliche ebenso wie Inhaftierung bis zum Tod.