Freitag, 18. November 2011

Kambodscha: Massenmord, Kindheit und Mütter aus einem anderen Leben

Mitte der 70er Jahre begann die Schreckensherrschaft der Roten Khmer. In Kambodscha wurden Schätzungen zu folge 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung direkt oder indirekt durch die Roten Khmer umgebracht (zwischen einer und zwei Millionen Opfer). Kambodscha war vorher sozial und ökonomisch relativ gut entwickelt. Vor dem Bürgerkrieg war Kambodscha eines der reichsten Länder Südostasiens. Doch Pol Pots Herrschaft „versetzte das einst reiche und hochzivilisierte Land in Südostasien zurück in die Steinzeit.“ (vgl. Planet Wissen)

Die Psychohistorie vertritt die (empirisch belegbare) These, dass Kriege meist in Zeiten von Wachstum und Wohlstand ausbrechen. (Stichwort „Wachstumspanik“, siehe dazu hier im letzten Drittel des Textes) Insofern passen auch die Ereignisse in Kambodscha in dieses Bild. Vor allem der enorme Hass gegen alles Fortschrittliche wurde in diesem Konflikt überdeutlich. Destruktive, sehr gewaltvolle Kindheiten müssen in diesem Land weit verbreitet gewesen sein, ansonsten wäre die massenhafte „Wachstumspanik“ und der Massenmord nicht möglich gewesen. Pol Pot wurde Ende der 20er Jahre geboren, viele seiner Soldaten wohl in den 40er und 50er Jahren. Was Kindheit zu dieser Zeit in diesem Land bedeutete, ist mir nicht bekannt und sicherlich ist dies auch kaum erforscht. Aber, wir können heute auf einige Studien zurückgreifen, die die Kindheiten und vor allem auch Gewalterfahrungen der heutigen Generation untersuchten. Diese Daten lassen Rückschlüsse auf das zu, was die Generationen vorher erlebt haben. Sie zeigen ein hohes Ausmaß von elterlicher Gewalt. Die Generationen davor werden entsprechend noch weit aus häufiger davon betroffen gewesen sein. Hier liegt der Schlüssel, um den Massenmord in seiner Tiefe zu verstehen.

Hier die Daten, die ich gefunden habe:

Für eine Studie von „Save the Children Sweden“ (2005) (“What children say: Results of comparative research on the physical and emotional punishment of children in Southeast Asia and the Pacific”) wurden in acht Ländern in Südostasien und im entsprechenden Pazifikraum 3.322 Kinder ausführlich befragt. Bzgl. Kambodscha stellte man folgendes fast: Über 80 % der Kinder berichteten von Gewalt vor allem in Form von Schlägen mit der Hand oder Gegenständen wie Stöcken oder Peitschen und auch von Tritten. Die Kinder wurden im Schnitt etwas weniger als einmal die Woche körperlich bestraft, ca. 1 % wurde täglich körperlich bestraft. Mütter wurden dabei 6 Prozentpunkte häufiger als Täterinnen angegeben als Väter.

Für eine andere große Studie aus dem Jahr 2006 („Stop violence against us!“ Summary Report 1. A preliminary national research study into the prevalence & perceptions of Cambodian children to violence against and by children in Cambodia. ) wurden 1.314 Kinder im Alter zwischen 12 und 15 Jahren befragt. In der Einleitung zu der Studie wurden zunächst einige vorliegende aufschlussreiche Zahlen besprochen. Laut der Studie „Children's Views on the Implementation of the UNCRC in Cambodia' (2004) gaben 52 % der befragten Kinder an, dass es zu körperlicher Gewalt gegen ein Familienmitglied kam. Eine Studie von Raghda Saba von der “University of Phnom Penh's, Psychology Departmen” kam nach einer Befragung von 400 Kindern 1999 zu dem Ergebnis, dass 41 % Zeugen häuslicher Gewalt waren, 58 % der Kinder wurden selbst innerhalb der Familien geschlagen. Ein Studienzusammenschluss kam bei einer Befragung von 500 Kindern 2001 zu dem Ergebnis, dass 44 % von ihren Eltern geschlagen wurden. 1.374 Frauen und 1.286 Männer wurden für eine andere Studie (1996) vom „Ministry of Women's Affairs“ befragt. 71.6% der Frauen und 57.3% der Männer meinten, dass man Kinder schlagen sollte, um sie zu disziplinieren.
Die vorliegende o.g. Studie kam ihrerseits zu dem Ergebnis, dass 36,4 % der Mädchen 50,5 % der Jungen "manchmal" (was auch immer das heißt) von ihren Eltern geschlagen werden. 34 % der Mädchen und 41% der Jungen wurden zudem in der Schule von Lehrkräften geschlagen, obwohl dies gesetzlich verboten ist. 15,7 % der Jungen und 13,3 % der Mädchen berichteten, dass sie vor dem Alter von 9 Jahren sexualisiert an ihren Geschlechtsteilen angefasst wurden. 18,9 % der Jungen und 13,5 % der Mädchen berichteten dasselbe, wenn es um das Alter über 9 Jahren ging. 23,5 % der Jungen und 21,4 % der Mädchen berichteten, dass sie Zeugen einer Kindesvergewaltigung innerhalb ihrer Dorfgemeinschaft wurden.

Für eine weitere große Studie (Cambodia Ministry of Education Youth and Sports Pedagogical Research Department, 2004: Cambodia National Youth Risk Behaviour Survey: Summary Report. (unterstützt durch UNICEF and UNESCO) ) wurden 9.388 Kinder und Jugendliche im Alter von 11 – 18 Jahren befragt. 26 % der Befragten gaben an, dass sie innerhalb von 30 Tagen vor der Befragung Gewalt in ihren Familien erlebt haben. Leider wurden in der Studie nicht die Gewalterfahrungen im gesamten Kindesalter oder innerhalb eines Jahres erfragt (was sonst üblich ist), insofern ist die Zahl von 26 % nur ein grober Hinweis. Wenn man zusätzlich bedenkt, dass Gewalt gegen Kinder am Häufigsten im Kleinkind- und Grundschulalter ausgeübt wird, hier allerdings Kinder und Jugendliche zwischen 11 und 18 Jahren befragt wurden, dann ist die Zahl von 26 % schon wieder etwas erhellend und zeigt eine hohe Gewaltbetroffenheit. Die Studie zeigte zudem, dass 27 % der Mädchen und 11 % der Jungen schon einmal (manche auch mehrmals) über Selbstmord nachgedacht haben. Armut und Probleme mit den Eltern waren die Hauptmotive, über Selbstmord nachzudenken.


Die gezeigten Daten bieten einen ersten erschreckenden Überblick. Die Kultur in diesem Land ist uns im Westen sehr fremd. Dies wurde mir nochmal besonders deutlich, als im zweiten Report einer bereits oben zitierten Studie auf die historische Entwicklung von Kindheit in Kambodscha eingegangen wurde. Traditionell gilt demnach in Kambodscha ein großes Machtgefälle zwischen Älteren und Jüngeren, insbesondere Kindern. Dies hat sicherlich weitreichende Auswirkungen auf den alltäglichen Umgang mit Kindern, den ich von hier aus nicht weiter beurteilen kann.
Ein traditioneller Schlüsselglaube ist hier hervorzuheben. Die Mutter aus dem vorherigen Leben, so der weit verbreitete Glaube, kann einen großen Einfluss auf ein neu geborenes Kind (aber auch das ältere Kind) ausüben, sie kann sogar versuchen, es zurück in ihre Welt zu holen. Gleich nach der Geburt wird eine Zeremonie abgehalten, um der vorherigen Mutter klar zu machen: „Dieses Kind gehört jetzt dieser Mutter. Nicht mehr Dir, verschwinde!“ Die Angst vor dem Einfluss der vorherigen Mutter bleibt aber weiterhin bestehen. In dem Bericht heißt es: „The world view of the mother is such that occurrences that happen to the young child can be attributed to the previous birth mother being angry with the way the child is being brought up. As such, many mothers, for example, are encouraged not to be seen to be either too affectionate or too aggressive towards the child in case it creates jealousy or anger in the previous birth mother. If a child smiles before 3 months old it can be interpreted as a signal that it can see its preceding mother. Where she is jealous or angry she might again try to 'take the child back'.
Die Bedeutung dieses Glaubens für die Entwicklung eines Kindes sollte nicht unterschätzt werden. Was bedeutet es für ein Kind, wenn es auf die Welt kommt und die eigene Mutter voller Ängste ist, weil da noch die andere Mutter aus dem vorherigen Leben im Hintergrund steht? Ein zu liebevoller oder zu aggressiver Umgang mit dem Kind ist zu vermeiden, die vorherige Mutter könnte sonst böse oder eifersüchtig werden und der Säugling darf bloß nicht lachen! Symbolisch steht also etwas grundlegendes zwischen Mutter und Kind: eine andere Mutter. Wie kann so eine emotional gesunde Entwicklung und Wachstum glücken? Ich bin weit davon entfernt, diese Kultur verstehen zu können. Aber, diese aufgezeigte Tradition könnte neben der weit verbreiteten Gewalt ein weiterer wichtiger Hintergrund für die Entstehung des massenhaften Hasses gewesen sein, der sich in den 70er Jahren so brutal entlud.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Hi Sven,
ich war schon zweimal in Kambodscha. Was ich 1,2 mal gesehen habe war, dass Mütter ihre Kinder auf offener Strasse geschlagen haben (auch einmal mit einem Knüppel), es scheint also sozial mehr oder weniger akzeptiert zu sein.

Die roten Khmer haben ja auch "Familien verboten", man durfte nicht mehr Mama, Papa sagen sondern nur noch Kamerad, es sollte ja nur noch die Partei geben. Viele Eltern sind von ihren Kindern denunziert worden und daraufhin umgebracht worden. Und allgemein gab es sehr viel macht in Händen von Kindern und Jugendlichen (mit so absurden Ergebnissen, dass man 16jährige Analphabeten zu Oberärzten in Krankenhäusern oder zu Ministern gemacht hat). Kann aber nicht sagen, ob das jetzt wirklich als eine Art "Rache" der Kinder an den Eltern zu sehen ist oder ob es eher damit zu tun hat, dass diese Kinder völlig ohne jeglichen Halt waren und völlig beeinflusst und korrumpiert waren, ich denke eher Letzteres.