Freitag, 30. Juli 2010

Geheime Afganistan Militärprotokolle und das "heimliche" Ziel von Kriegen

Die meisten Menschen dürften es laut vielen aktuellen Medienberichten schon wissen. 91.731 Berichte des US-Militärs, die meisten davon als geheim eingestuft, gelangten auf die Internetplattform WikiLeaks. Sie dokumentieren die unzähligen „Zwischenfälle“ in Afghanistan. DER SPIEGEL veröffentlichte in Kooperation mit der „NEW York Times“ und dem „Guardian“ ausführlich in einer Titelstory zu dem Thema in seiner Printausgabe. (DER SPIEGEL, 26.07.2010, „Protokoll eines Krieges“, S. 70ff) Die meisten Infos aus den Berichten scheinen nicht wirklich neu zu sein. Brisant ist vielmehr, dass jetzt von jedem Internetnutzer die letzten Kriegsjahre haarklein aus erster Hand eingesehen werden können und natürlich die Fülle der Daten, die ein Gesamtbild ergeben.

Das Bild ist bekanntlich ein düsteres. Seit 2004 stiegen die Sprengstoffanschläge, Kampfhandlungen und Todesopfer rasant an. Von „Erfolgen“ (also der Befriedung des Landes) keine Spur, wie es eigentlich fast immer aussieht, wenn das Militär für Frieden Verantwortung übernehmen soll.
Die Sprengstoffanschläge stiegen kontinuierlich von im Jahr 2004 weit unter 200 (laut SPIEGEL Grafik beruhend auf den Protokollauswertung des US-Militärs) auf 3.300 Anschläge im Jahr 2009. Insgesamt starben zwischen 2004 und 2009 4.459 Menschen (die meisten davon Zivilisten, gefolgt von afghanischen Sicherheitskräften und dann alliierten Soldaten) durch Anschläge. Dazu kommen etliche Verwundete.
Leider berichtet der SPIEGEL nicht über genaue Opferzahlen durch Angriffe seitens der Amerikaner bzw. der Alliierten. Es wird nur etwas von tausenden Toten auf Seiten der Taliban geschrieben. Allerdings wird über die Anzahl von Kampfhandlungen berichtet. Laut SPIEGEL Grafik – von mir ca. errechneter Wert – gab es zwischen 2004 und 2009 ca. 28.000 Kampfhandlungen. Im Jahr 2004 lagen die Kampfhandlungen noch unter 1.000. 2009 verzeichnen die US-Militärdaten exakt 11.695 Kampfhandlungen, also fast 12 mal (!!) so viele wie 2004.

Wie viele Tote gab es bei diesen 28.000 Kämpfen auf der afghanischen Seite? Wie viele Zivilisten kamen dabei um, wie viele „Aufständische“ (ein unmögliches Wort…), wie viele als „Aufständische“ definierte? Bei einem Toten pro Kampfhandlung (was wohl der unwahrscheinlichste Durschnitt wäre) wären es also 28.000. Der SPIEGEL dokumentiert einen Fall, bei dem insgesamt 7 Kinder durch einen Angriff eines US-Sonderkommandos auf eine Koranschule starben. Während einer anderen Offensive durch US-Elitekämpfer wurden in 5 Tagen 130 „Aufständische“ getötet. Wir alle erinnern uns auch an den deutschen Fall „Oberst Georg Klein“, durch einen Luftangriff auf einen Tanklaster kamen damals ca. 142 Zivilisten ums Leben. Der SPIEGEL schreibt dazu nach der Datenauswertung: „Was in Deutschland eine leidenschaftliche Diskussion über den Sinn des Bundeswehreinsatzes hervorruft, erscheint in den Militärprotokollen nur als ein Fall unter Hunderten ähnlicher Fälle.“ (S. 77)
Es dürfte klar sein, dass die Opferzahlen erheblich sind, wenn man an der Multiplikation der Zahl 28.000 „herumspielt“. Gab es im Schnitt 3 Tote pro Kampfhandlung, also insgesamt 84.000 tote Afghanen? Gab es im Schnitt 6 Tote pro Kampfhandlung, also 168.000 tote Afghanen? Oder noch mehr? Und wie viele Verwundete kommen dazu?
Mir geht auch gerade durch den Kopf, dass ein realer Taliban vielleicht ein grober, gewaltbereiter Mensch ist (und vielleicht vor der US-Invasion gar nicht wusste, wo das Land USA überhaupt liegt...), er aber auch eine soziale Einbindung in seiner Heimat hat. Er hat Verwandte, Freunde, vielleicht auch Ehefrau und Kinder. Wen wundert es da, dass der Krieg immer weiter eskaliert? Jeder tote Afghane – egal ob Talibankämpfer oder Zivilist – erzeugt noch mehr Hass und Rachegedanken. Der SPIEGEL schreibt entsprechend in einem Schlusswort, dass trotz all der toten Taliban der "Strom an neuen Fußsoldaten endlos" scheint.

Afghanistan wurde nach allem was wir wissen zum großen Opferaltar gemacht. Tausende Menschen starben, noch mehr wurden verletzt, unzählige Gebäude wurden zerstört oder beschädigt. Warum? Darum: Das Ziel von Kriegen ist die Opferung von Menschenleben und die Reduzierung von Wohlstand. Tote, Verletzte, Zerstörung, Leid, Wohlstandsreduzierung und eine stetige Eskalation der Gewalt sind die immer wieder beobachteten Ergebnisse von Kriegen, obwohl angeblich niemand diese „Ergebnisse“ will, wird doch „für den Frieden“ gekämpft, „für Sicherheit“, "Gerechtigkeit", „gegen Terror“, „für Mädchenschulen“…. Wir müssen, so meine ich, Kriege so betrachten wie sie sind. Sie bringen keinen Frieden, keine Sicherheit, keinen Wohlstand, keinen Gewinn. Sie erzeugen Opfer. Das ist das eigentliche „heimliche“ Ziel (welches wiederum viel mit dem Opfer zu tun hat, das viele Menschen einst als Kind waren). Wenn das erkannt wird, kann auch die psychohistorische Uraschenanalyse besser verstanden und vor allem sehr ernst genommen werden.

Dienstag, 27. Juli 2010

Intensivtäter und das Ende der Geduld

Ca. drei Wochen nach dem Tod der Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig ist ihr Buch „"Das Ende der Geduld" erschienen, wie ich gestern im Deutschlandfunk erfuhr. Folgendes Zitat aus der Sendung möchte ich hier hervorheben:

Die Autorin beginnt mit Fallschilderungen aus ihrer Praxis als Jugendrichterin. Man liest hier über Familien von jugendlichen Straftätern, über ihre oft alkoholabhängigen Eltern, über verwahrloste Wohnungen, über Vernachlässigung, Prügel und schwere Misshandlung. Ein Beispiel aus der Kindheit eines jugendlichen Straftäters:
Die Eltern banden ihn im Badezimmer an ein Heizungsrohr, verbrannten seine Haut mit glühenden Häkelnadeln und schlugen ihn mit dem Kopf auf einen scharfkantigen Gegenstand, als er einen Gegenstand verschluckt hatte. Seine Verletzungen waren für alle anderen sichtbar. Nur ein einziges Mal wurde hierauf reagiert. Eine Sportlehrerin sah die großen Hämatome und schaltete sofort das Jugendamt ein. Der Junge kam für einen Monat in ein Heim. Er verbrachte dort die einzige Zeit seiner Kindheit, in der er nicht verprügelt wurde. Dann gelobten die Eltern Besserung, bekamen das Kind zurück, und alles ging von vorn los.
Als Juristin wollte Kirsten Heisig mit ihren Urteilen den Jugendlichen auch den Weg in ein Leben ohne Straftaten weisen. Die Richterin musste jedoch feststellen: Wenn die Kindheit eines Jungen derart von Gewalt geprägt war, wie hier skizziert, hat die Justiz es schwer, Werte zu vermitteln. Sanktionen und Hilfen kamen fast immer zu spät. Jugendhilfe und Polizei Vermieter, Erzieher, Lehrer und auch Nachbarn hätten zuvor überhaupt erst einmal hinschauen müssen.


Gezielt beschäftige ich mich nicht mehr unbedingt mit den familiären Hintergründen von StraftäterInnen. Letztlich scheinen sie alle eines gemeinsam zu haben: Eine traurige Kindheit. Man wird auf dieser Welt keinen Intensivtäter oder auch politischen Verbrecher finden, der eine weitgehend glückliche und liebevolle Kindheit hatte. Immer scheint die Kindheit dieser Menschen von dem genauen Gegenteil geprägt zu sein: Schwere Gewalt, Vernachlässigung, Missbrauch. Das zeigen die Berichte, die ich in den letzten Jahren hier und da gelesen und gehört habe immer wieder. Jede ernst zu nehmende Analyse von Gewalttaten muss diese Hintergründe abklopfen und benennen. Dies passiert leider - trotz aller vorliegenden Erkenntnisse – oft zu wenig bis gar nicht. Vor allem in der Kriegsursachenanalyse eher gar nicht. Meine Geduld ist dabei noch lange nicht zu Ende, ich schreibe hier einfach munter weiter.

Montag, 19. Juli 2010

Aborigines. Gewalt und Missbrauch. Entzauberung eines Urvolkes?

Ausstralische Medien berichteten in der Vergangenheit (wohl beginnend ab 2004, mit einem Höhepunkt im Jahr 2006 durch die Veröffentlichung eines Berichtes durch Nanette Rogers, Staatsanwältin des Bundesstaats Northern Territory, auf dessem Gebiet viele Traditionen der Ureinwohner erhalten geblieben sind und sie in vielen Gemeinden unter sich leben. ) fast täglich über katastrophale Zustände in Aborigine-Familien: Gewalt, Vergewaltigungen und sexueller Missbrauch von Kindern.
Im Bericht ist von endemischem Kindsmissbrauch die Rede. Rogers kritisierte, viele Verbrechen blieben nicht nur ungeahndet, sondern würden von den Tätern und Entscheidungsträgern in den Aboriginal-Gemeinden unter Hinweis auf "Traditionen der Männer" entschuldigt.“, schreibt die taz. Neu ist das Problem des Kindsmissbrauchs laut taz Bericht nicht. „Experten wiesen schon vor Jahren darauf hin, dass Sex mit Kindern, Vergewaltigungen und brutalste, nicht selten tödlich endende Gewalt gegen Frauen in vielen Aboriginal-Dörfern alltäglich sind. Fachleute sind der Meinung, der Grund liege vor allem beim Alkoholmissbrauch und der sozialen Verwahrlosung ganzer Gemeinden.
Der Präsident der australischen Labour-Partei, Warren Mundine (er ist selbst Aborigine, der erste, der es geschafft hat, eine Spitzenposition in der Politik zu erreichen), spricht „von einem Zusammenbruch der sozialen Strukturen“ innerhalb der Aborigine Gesellschaft und darüber, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder als normal angesehen würden. (vgl. tagesschau Bericht „"Die Aborigine-Gesellschaft implodiert")
Prof. Dr. Adi Wimmer, Vorsitzender der deutschen Gesellschaft für Australienstudien schreibt in einem GEO Bericht etwas von „systematischem Kindesmissbrauch“. Auch der SPIEGEL schreibt, dass Inspektoren der Regierung von systematischem Kindesmissbrauch in Gemeinden des Bundesstaats Northern Territory (wo überwiegend die als Aborigenes bezeichneten australischen Ureinwohner leben) berichteten.

Im Jahr 2007 gab es in Australien weiteres großes Aufsehen nachdem der Report “Little Children are Sacred” veröffentlich war. Auch hier wurde über weit verbreiteten sexuellen Missbrauch, aber auch über häusliche Gewalt, Drogen- und Alkoholmissbrauch usw. berichtet. 2007 intervenierte schließlich die Regierung Howard mit harten Maßnahmen. „Die Maßnahmen wurden ausgelöst durch einen schockierenden Expertenbericht über Kindesmissbrauch und Alkoholismus bei den Aborigines, den die Regierung des Northern Territory in Auftrag gegeben hatte. Der Bericht wies unter anderem darauf hin, dass bereits dreijährige Aborigine-Kinder an Geschlechtskrankheiten leiden. Die Studie geht von etwa 20 Prozent schweren Alkoholikern im Northern Territory aus.“ (Focus, "Die Entmündigung der Aborigines")
Das deutsche Auswärtige Amt schreibt dazu: „Nach dem Bekanntwerden von weitverbreitetem sexuellen Missbrauch von Kindern in zahlreichen Gemeinden des Northern Territory sah sich die Regierung Howard im Juni 2007 veranlasst, dort den nationalen Notstand zu erklären und unter Einsatz des Militärs und der Bundespolizei direkt zum Schutz der Kinder einzugreifen. Die Maßnahmen der sog. Intervention umfassten u.a. die Unterbindung des Alkohol- und Drogenhandels, den Entzug von Landrechten sowie die zwangsweise Gesundheitsuntersuchung aller Kinder. Die Intervention stieß in der Bevölkerung auf ein unterschiedliches Echo, wird jedoch überwiegend – nicht zuletzt von vielen Aborigines selbst – als notwendig angesehen. Die jetzige Regierung hat im März 2009 die bestehenden Zwangsmaßnahmen, mit geringfügigen Veränderungen, um weitere drei Jahre verlängert.
Ein anderer Bericht schildert, dass auf die Regierungsmaßnahmen mit unterschiedlicher Kritik reagiert wurde. „Nicht nur Aborigines-Verbände laufen dagegen Sturm, auch Menschenrechtsgruppen und progressive Politiker kritisieren den Vorstoß der Regierung als untauglich und werten ihn als einen verheerenden Rückfall in gescheiterte Politikmuster im Umgang mit der wichtigsten nationalen Minderheit.

Fakt ist, dass muss hier erwähnt werden, dass auch der Durchschnittsaustralier oft Alkoholprobleme hat (wie in anderen westlichen Kulturen auch) und sexueller Missbrauch natürlich in allen Gesellschafsschichten und – gruppen vorkommt. Insofern wäre es sicher konstruktiver und glaubwürdiger gewesen, wenn die australische Regierung parallel auch diese Probleme benannt und angegangen wäre.


Mir geht es in diesem Beitrag jetzt aber um etwas anderes, nämlich um die Entzauberung von Urvölkern. Lloyd deMause hat die Idealisierung von Kindheit bei primitiven Gesellschaften scharf kritisiert. (vgl. deMause, 2005, S. 192ff) Er zeigt insbesondere am Beispiel der Kindererziehung in Neuguinea (nahe Australien) auf, wie gewaltbeladen, missbrauchend und vernachlässigend der Umgang mit Kindern in dieser Kulturregion war und ist und wie Kindestötungen alltäglich waren. Dazu bringt er etliche Beispiele an, wo Anthropologen die Kindheit bei entsprechenden Völkern idealisieren und umdeuten, Fakten weglassen oder übersehen. Als Beispiel sei folgende Stelle zitiert, wo er sich zusammenfassend äußert: „Diese Arten von täglichen Missbräuchen, zusammen mit verschiedenen Typen von ritueller Päderastie, Folter und Verstümmelung sind so weit verbreitet, dass die Schlussfolgerung im Standardwerk der Anthropologie über kulturübergreifenden Kindesmissbrauch – „es steht so gut wie fest, dass es keinen Kindesmissbrauch in Neuguinea gibt.“ – total unerklärlich erscheint.“ (ebd., S. 205). Seine Schilderungen über die dortige Kindheit sind derart schockierend, dass es mir schwer fiel, sie in einem Stück zu lesen.
An Hand einer Quelle aus dem Jahr 1965 berichtet deMause auch, dass die australischen Aborigines früher bis zu 50 % ihrer Säuglinge umbrachten. (vgl. ebd., S. 194) Ich habe schon oft in Texten und Kommentaren über Kindestötungen bei Stämmen und Urvölkern verständnisvolle Reaktionen gelesen. Das Motto war durchgehend: „Wenn man arm ist, in der Steppe wohnt und lebt, dann ist das Leben dort sehr hart. „Überschüssige“ Kinder, schwache und gebrechliche umzubringen, kommt damit eher einer “ Fürsorge“ für das Überleben des Stammes gleich.“ De Mause berichtet aus verschiedenen Regionen, dass wenn gefragt wird, die Akteure etwas anderes berichten: Die Säuglinge wurden umgebracht, weil „Kinder zu viele Probleme bereiten“, weil „die Mütter auf ihre Ehemänner wütend waren“, weil sie „dämonische Kinder“ wären, weil das Kind „ein Hexer werden könnte“, weil „ihre Ehemänner zu einer anderen Frau gehen“, weil „sie keine Kinder haben wollten, die sie in ihren Liebschaften einschränken würden“, weil „es weiblich war“, weil „sie einen bald verlassen würden“ oder weil “sie nicht bleiben werden, um im Alter auf uns zu schauen.“ (ebd., S. 194)
Schockierendes las ich auch auf der österreichischen Homepage www.babyguide.at – „erste Anlaufstelle zum Thema Schwangerschaft, Geburt, Baby, Kind, Familie, Ernährung“:
Bis auf kleinere Abweichungen ist das Geburtsritual bei allen Stämmen der Aboriginals gleich. Die werdende Mutter verlässt gemeinsam mit ihrer Mutter das Lager und begibt sich an einen geschützten Ort, der in der Nähe einer mit Wasser gefüllten Felsmulde liegt. Die zukünftige Großmutter hebt ein Loch im Boden aus, (…) Ist das Kind schwach oder behindert darf sie es in der Erde vergraben noch bevor es den ersten Schrei tut. Das ist sehr wichtig, denn wenn die Mutter ihr Kind einmal schreien hört, ist bereits eine Bindung zu ihm hergestellt. Meist aber gelingt die Geburt (…) Nun wird das Baby kurz kopfüber über das Feuer gehalten und im Anschluss aus rituellen Gründen mit Sand und Asche eingerieben.
Geboren, schon mit dem möglichen Grab vor Augen (und die Mutter gebärend, mit dem Bewusstsein, dass das Kind auch gleich im Grab landen könnte), danach gehalten übers Feuer (wie auch einst im europäischen Mittelalter üblich, um „Dämonen“ vom Kind zu vertreiben, wie man in Europa damals sagte.)… ein traumatischer Start ins Leben, der auf der o.g. Familienhomepage nicht weiter kommentiert wird. Ich frage mich auch, was passiert z.B., wenn Mutter und Großmutter vielleicht gerade Streit oder andere Konflikte, in denen es um Macht geht, hatten? Was für ungeheure Macht wurde hier den Großmüttern gegeben, über Tod oder Leben innerhalb von Sekunden zu entscheiden? „Sind die Kinder aber auf der Welt“ heißt es einige Sätze weiter, „werden sie mit viel Zärtlichkeit und Liebe groß gezogen, auch die Väter kümmern sich geduldig um ihren Nachwuchs. Kleine Kinder genießen große Freiheit und werden niemals bestraft. Der Übergang von der Kindheit in das Erwachsenenalter wird mit einem speziellen Ritual gestaltet, die Initiation.“ Einer Schilderung über eine traumatische Geburt und möglicher Kindestötung folgt die Idealisierung des Urvolkes und seiner Erziehung, um dann auf die Initiation hinzuweisen, ohne zu erwähnen, dass auch diese traumatisch ist und wenig mit Liebe und Mitgefühl gemein hat.
Manche Mädchen müssen sich bei einigen australischen Stämmen einer “rituellen Operation“ unterziehen, der sogenannten „Atna-ariltha-kuma“. Vor allem erleben aber die Jungen "Initiationsrituale" (siehe dazu wikipedia), durch die sie „zum Mann werden“ und die Wochen andauern können. Dazu gehört die Entfernung der männlichen Vorhaut und später auch die vollständige oder teilweise Spaltung der Harnröhre an der Unterseite des Penis. Das ganze ohne Betäubung und mit primitiven Werkzeugen, was nicht selten zu bleibenden Schäden oder gar zum Tod führen kann. (siehe auch "Beschneidung von Jungen und Männern") Im Internet habe ich einige Bilder dazu recherchiert, die ich hier nicht zeigen möchte, weil ich sie zu heftig finde. Mehrere Männer halten die Jungen fest, während sie beschnitten werden. Die Jungen sind total ausgeliefert. Angstvoll, schmerzverzerrt sind die Gesichter der Jungen. Eigentlich schreien sie nur noch auf den Bildern, die ich fand… Ohne Zweifel ist dies eine erhebliche Gewalterfahrung in diesen frühen Jahren. "In einer abschließenden Initiationsstufe im Alter von 16 oder 17 Jahren wurde bei fast allen Völkern die Haut junger Männer und Frauen skarifiziert (das Einbringen von Ziernarben in die Haut), womit sie heiratsfähig wurden.“ (wikipedia) Ein Bild aus Papua-Neuguinea zeigt den zwangvollen Charakter dieser Prozedur.
Unter dem Deckmantel „Kultur“ und „Tradition“ verschweigen westliche Kommentatoren all zu oft, wie traumatisch so etwas für Heranwachsende ist. DeMause schreibt in diesem Zusammenhang passend: Überall werden „ältere Kinder als Strafe für ihre Individuation und Selbstständigkeit gefoltert und verstümmelt. Obwohl diese Folter von den Anthropologen Initiationsrituale genannt werden, sind sie weniger Initiationen in irgendetwas, als Bestrafungen für das Heranwachsen. Sie dramatisieren eine Reinigung von maternalen Giften, damit Jungen dann von den Männern als Projektionsfläche benutzt werden können. Die meisten von ihnen führen maternale Traumata in der einen oder anderen Weise wieder auf.“ (deMause, 2005, S. 204)

Lloyd deMause widerspricht der Annahme von AnthropologInnen, dass das Inzesttabu eine der wenigen kulturellen Allgemeinheiten von Menschen darstellt. Er zeigt vielmehr auf, wie alltäglich sexueller Missbrauch bei Urvölkern ist. „Da die Verwendung von Säuglingen und Kindern als erotische Objekte kulturübergreifend so alltäglich ist, überrascht es nicht, dass in Neuguinea auch andere Erwachsene als die Eltern üblicherweise Kinder sexuell missbrauchen. Babys im Besonderen werden behandelt, als wären sie Brüste, um daran zu saugen und den ganzen Tag zu masturbieren. (…) Die inzestuöse Verwendung von Kindern in Neuguinea und Australien dehnt sich auf die anderen melaneschen und polynesischen Inseln aus, obwohl bei komplexer werdenden Gesellschaften die Praktiken stärker ritualisiert vorkommen.“ (deMause, 2005, S. 197f) und „In vielfacher Art und Weise demonstrieren neuguinesische Eltern, dass, wenn das Kind nicht erotisch gebraucht wird, es nutzlos ist.“ (ebd., S. 200) Er schildert darauf, wie bei Urvölkern den Kindern oftmals keine Aufmerksamkeit geschenkt wird, wie sie ignoriert werden, wie kleine Kinder mit scharfen Messern spielen dürfen oder am Feuer spielen, wobei nicht wenige sich ernsthafte Verletzungen zufügen. (Ich glaube, dass viele westliche Beobachter die Realität umdeuten, indem sie angeben, dass die Kinder in Urvölkern „viele Freiheiten“ hätten, obwohl der dortige Alltag eher zeigt, dass sie einfach vernachlässigt werden. Viele Menschen aus unserer westlichen Kultur scheinen wohl „auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ zu sein, sie wollen in den alten Kulturen etwas finden, das macht sie blind für die dortige Realität.)

Wenn wir über diverse Probleme – von Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Verwahrlosung, Gewalt usw. - von Urvölkern wie den Aborigines in Australien sprechen, dann muss die Analyse der Ursachen selbstverständlich die historische Unterdrückung und Entrechtung und die kollektive Traumatisierung dieser Völker durch die oft mörderische Verfolgung seitens der Kolonialisten beinhalten. Aber: Die Analyse muss vor allem auch beinhalten, dass diese Völker oftmals schon immer sehr gewaltvolle „Traditionen“ gegenüber ihren Kindern auslebten, wie deMause zeigt. Der systematische sexuelle Missbrauch in der heutigen traditionellen Aborigine-Gesellschaft, scheint hier seine tiefen Wurzeln zu haben.

Die Arbeit von deMause hat mir persönlich ein ganz neues Bewusstsein für Urvölker gegeben. Viele der traditionellen Mythen und Rituale, die mit Geistern, Dämonen, Hexerei, rituellen Opfern, Tierwesen usw. zu tun haben, scheinen demnach vielmehr Ausdruck einer psychisch zersplitterten Persönlichkeit (deMause spricht in diesem Zusammenhang von der „Schizoiden Psychoklasse“) zu sein. Ich war richtig erschrocken, als ich einige Zeit nach meiner erstmaligen Lektüre von deMause im Fernsehen zwei Dokus (erinnere leider nicht mehr die Titel) über zwei südamerikanische Urvölker gesehen habe. Ich achtete plötzlich auf ganz andere Details und Verhaltensweisen der vorgestellten Völker. Und ich sah vor allem auch, wie die dort Forschenden mit leuchtenden Augen und total idealisiert von den Völkern berichteten. (In einem Moment hoben sie z.B. hervor, dass sie von der kindlichen Fröhlichkeit und Leichtigkeit der Menschen berührt waren. In einem anderen Moment kam es zwischen einer Gruppe und einem anderen Stamm fast zu kriegerischer Gewalt, die nur dadurch beendet wurde, dass ein Schwein geopfert wurde. Unter wüsten Beschimpfungen und Drohungen trennten sich dann die Gruppen) Vielleicht geht es manch einem ähnlich, der sich mit deMause befasst hat. Das würde mich interessieren. Bitte gerne Kommentare dazu.

Freitag, 9. Juli 2010

Wirtschaftswachstum: "Die Emotionen heben ab"

„Die Wirtschaft hebt ab“, titelte gestern DIE ZEIT. „Nachdem der Internationale Währungsfonds heute früh seine gerade mal zwei Monate alte Wachstumsprognose für das reale globale BIP im Jahr 2010 um 0,4 Prozentpunkte auf 4,6 Prozent angehoben hat (Vorjahresvergleich, in Kaufkraftparitäten), ebenso wie die deutsche, von 1,2 auf 1,4 Prozent, meldete die Bundesbank zur Mittagsstunde, dass die deutsche Industrieproduktion im Mai saisonbereinigt um sage und schreibe 2,6 Prozent gegenüber dem April und um 12,4 Prozent gegenüber Mai 2009 zugelegt hat.
(siehe auch einige interessante Grafiken zum Wachstum im ZEIT Artikel.)

Panik und schiere Angst beherrschte die Ökonomie Ende 2008 und vor allem im Jahr 2009. In einem Text hatte ich bereits gedanklich angeregt, dass diese Ängste emotionale Ursachen haben könnten. Das Platzen der Blase auf dem US-Immobilienmarkt in den USA war natürlich sehr real. Banken und Geldgeber hatten unzählige faule Kredite international weiterverkauft. Keiner wusste genau, wer nun wo welche faulen Kredite im Lager hat. Die ganze Vorentwicklung in den USA brauchte allerdings vor allem eines: Die Fähigkeit, Realitäten stark zu verdrängen. Und das hat dann irgendwie doch etwas mit unserer psychischen Situation zu tun. Dazu kommt, dass es für mich weiterhin rational unverständlich ist, warum innerhalb weniger Wochen weltweit die Konsumenten ihre Nachfrage nach Produkten reduzierten, „nur weil die Banken in der Krise sind“. Wenn ich mich an das letzte Jahr erinnere, dann denke ich an ein Bombardement von schlechten Nachrichten. Alles wäre schlecht, wir wären am Boden, alles drohe zusammenzubrechen, das würde noch Jahre so bleiben, die Wirtschaftskrise von 1929 wäre Kleinkram dagegen usw. usf.

Ich persönlich fühlte mich eher genervt von diesen ständigen Nachrichten. Die Initiative krise-nein-danke.com spricht mir dabei aus dem Herzen: „Wir haben zu oft gehört, dass es uns schlecht geht - bis wir es irgendwann alle selbst geglaubt haben.“ Und so war es in der Tat! Die Krise wurde geradezu herbeigeredet. Wie erwartet – die positive Wirtschaftentwicklung hatte ich ja in meinem oben genannten Text schon erwähnt – geht es 2010 weiter kräftig nach oben. Keine jahrelange Krise, Massenarbeitslosigkeit usw. droht. Für 1 ½ Jahre wollte sich die Nation schlecht fühlen. Nun, spätestens nach der WM 2010 ist die gewollte Depression wohl vorbei. Die nächste wird irgendwann kommen, auch sie wird in der Tiefe wieder emotionale Ursachen haben. Insofern wäre es wünschenswert, wenn WirtschaftswissenschaftlerInnen sich auch mal mit psychohistorischen Thesen zu ökonomischen Phänomenen beschäftigen würden. Die Ergebnisse wären sicher aufschlussreich.

Donnerstag, 8. Juli 2010

mögliche Ursachen von Frauenhass

Durch meine aktuellen Gedanken zu den Maskulisten bin ich noch mal auf einen interessanten Beitrag von einem Mann in einem Forum gestoßen. Dieser suchte dort Hilfe und leidet unter seinem Frauenhass. Er hat nichts mit den Maskulisten zu tun. Trotzdem finden sich hier Parallelen, was die möglichen Ursachen des Frauenhasses angeht, wie ich finde. Aber bitte. Lest selbst:

"Die Emotionen von Frauen interessieren mich wenig bis gar nicht....Ich bin ein Trampel geworden und wenn eine Frau etwas von mir will macht mich das oft fast schon aggressiv. Ich habe eine beste Freundin und die meinte einmal ich werde zum "Göbbels" wenn ich über dieses Thema rede (falls jemand diese Metapher versteht). Ich habe mir einen zerstörerischen Frauenhass eingefangen, ausgelöst durch meine EX-Beziehung. Alle Frauen sind böse, verräterisch und hinterlistig. In meiner Wahrnehmung. Ich weiss, dass das nicht stimmt, aber das hilft mir wenig weiter. Gar nicht eigentlich. (…) Meine Mutter ist eine sehr komplizierte Person von der ich übermässige Ablehnung und Erniedrigung erfahren habe in emotionaler Hinsicht. Sie war durchaus auch liebevoll und aufopfernd, hat mich jedoch ebenso oft über die Klinge springen lassen und emotional "verbeult". Körperliche Nähe gab es auch nie seitens ihr. Ich könnte das ganze noch ausführlicher beschreiben, aber ich denke man versteht worum es geht. Ich empfinde eine Mischung aus Hass, ein wenig Liebe und Mitleid ihr gegenüber, was eine Ursache für meine jetzige Misere sein dürfte. (…)Witzig ist auch, dass die meisten meiner engen Freunde alle ähnlich destruktive Mütter hatten, das ganze sich bei denen jedoch anders äussert (Helfersyndrom, Bindungsangst etc. (...) )Ich habe gelernt, dass die Gefühle die ich Frauen gegenüber habe eigentlich woanders hingehören. Zu meiner Mutter, die ziemlich manipulativ und seelisch grausam war. Ich habe einen regelrechten Hass auf sie entwickelt. Sie hat eine Persönlichkeit wie Gollum von Herr der Ringe. (...) Das Problem ist, dass mein Vater, zu dem ich ein sehr gutes Verhältnis habe, schwer krank ist und sie ihn verprügelt, weil er sich nicht wehren kann. Mein Vater war aber auch die längste Zeit Alkoholiker, woher mit Sicherheit auch ein Grossteil meiner Vertrauensprobleme rühren."