Ich habe die Kindheit von Ernst Kaltenbrunner durchgearbeitet.
Meine Quelle dafür ist:
Black, P. (1991): Ernst Kaltenbrunner: Vasall Himmlers: Eine SS-Karriere (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart). Ferdinand Schöningh, Paderborn.
„Ernst Kaltenbrunner war der letzte Chef des Reichssicherheitshauptamtes, der gefürchteten Terrorzentrale des Dritten Reichs. Der SS-Obergruppenführer aus Österreich avancierte im Zweiten Weltkrieg zu einem der mächtigsten Männer des Reichs. 1946 wurde er als Hauptkriegsverbrecher hingerichtet“ (Black 1991, Inhaltsbeschreibung)
Über die Mutter von Ernst Kaltenbrunner hat der Biograf Peter Black nur warme Worte übrig:
„Der höchste Grundsatz in ihrem Leben war offenbar aufopfernde Liebe zu ihrem Gatten und ihren Söhnen. Ernst war ihr Liebling; sie widmete ihm viel Aufmerksamkeit und deckte ihn oft, wenn er mit seinem Vater zusammenstieß“ (S. 40) Hier deuten sich bereits Konflikte mit dem Vater an, die noch konkretisiert werden:
„Im Gegensatz zu dieser engen Mutterbeziehung stand die distanzierte, weniger gefühlsbetonte Beziehung zu seinem Vater, den er als `blonden, stattlichen, immer arbeitsbelasteten Mann` in Erinnerung behielt, `der gut zu uns war, aber manchen Anlass hatte, uns auch den Hosenboden stramm zu ziehen`. Im Allgemeinen war jedoch das Verhältnis zwischen Vater und Sohn nicht schlecht“ (S. 40). Den „Hosenboden stramm gezogen bekommen“ bedeutete damals Prügel auf den Po. Die Hose wurde in der Tat stramm gezogen, damit die Schläge (oft mit Gegenständen ausgeführt) mehr Schmerzen verursachten. Die Gewalt scheint nicht selten erlitten worden zu sein. Zudem gibt der Biograf ja auch im oben angeführten Zitat zu erkennen, dass Vater und Sohn wohl recht häufig „zusammenstießen“.
Klassisch ist, dass der Biograf sogleich darauf bedacht ist, diese Gewalt klein zu reden. Er betont im Nachsatz das allgemein gute Verhältnis zum Vater. Und kurz darauf schreibt er ergänzend: „Nichts in der Familienatmosphäre oder im häuslichen Milieu Kaltenbrunners deutet also auf eine abnormale, zur Kriminalität neigende Persönlichkeit oder auf einen Außenseiter, der unfähig ist, eine sinnvolle Beziehung zu seiner Umwelt zu finden“ (S. 40). Die Kaltenbrunners waren - dem Biografen nach - eine ganz normale, bürgerliche Familie. Ja, so war das halt damals….
Die Deutungen und Ausführungen des Biografen reihen sich in etliche Biografien ein, die ich bzgl. destruktiver Akteure (NS-Täter, Diktatoren) durchgearbeitet habe. Belastungen in der Kindheit werden teils besprochen, dann aber oftmals sofort wieder gedeckelt und umgedeutet. Aus diesem Grund habe ich in meinem Buch sogar ein gesondertes Kapitel mit dem Titel „Das große Schweigen“ verfasst. Gewalterfahrungen durch den Vater und eine distanzierte Beziehung zu ihm mögen damals mehrheitlich die Norm gewesen sein; dies bedeutet aber nicht, dass die Kinder, die dies erlebt haben, unbeschadet geblieben sind! Außerdem wird hier – trotz der Deutungen des Biografen – erneut meine Grundthese bestätigt, dass als Kind gewaltfrei aufgewachsene Menschen nicht zu Massenmördern werden.
Peter Black hat manche Aussagen aus den „Memoiren“ von Ernst Kaltenbrunner, die sich in Privatbesitz befinden und somit nicht öffentlich zugänglich sind. Es wäre die Frage, ob sich darin evtl. noch weitere Infos zum Erziehungsverhalten des Vaters, ggf. auch der Mutter finden lassen. Da Black die o.g. Gewalterfahrungen beschwichtigend kommentiert, könnte ich mir vorstellen, dass er evtl. auch andere Details ausgeblendet oder übersehen hat.
Auffällig ist auch im Fall Kaltenbrunner, dass den Opfererfahrungen und Demütigungen eine Mutter gegenüberstand, die diesen einen Sohn besondere Aufmerksamkeit zukommen ließ (mehr als den Geschwistern). Dieser Mix aus Ohnmacht und mütterlicher Bevorzugung und Bewunderung ist auffällig häufig bei Diktatoren zu finden. Oder in diesem Fall auch bei einem hochrangigen NS-Täter.
Zudem war die Mutter von Ernst Kaltenbrunner nicht unbelastet: Ihre eigene Mutter war bei der Geburt gestorben, sie wurde von einer Tante mütterlicherseits aufgezogen (S. 39). Wie und ob dies Schicksal in ihren Umgang mit ihren eigenen Kindern hineinspielte, wird nicht beschrieben.
Interessant ist nebenbei bemerkt auch, dass sich der Biograf Black bzgl. einer anderen Gegebenheit widerspricht: Nichts in der Familienatmosphäre habe auf eine abnorme Persönlichkeitsbildung hingedeutet. Allerdings beschreibt Black, dass es in der Familie Kaltenbrunner Antisemitismus gab: „So durchdrang schon vor 1914 eine antisemitische `Stimmung` das Kaltenbrunnersche Familienmilieu“ (S. 41).
Kommen wir aber noch einmal zurück zur Kindheit von Ernst. Es gab auch eine lange Trennung von der Familie, nachdem der Vater seinen Sohn aus dem Heimatort Raab nach Linz aufs Gymnasium schickte: „Am 12. September 1913 zog der Junge, noch nicht ganz zehn Jahre alt, in eine Pension, (…). Seine Erinnerungen an die folgenden Jahre waren nicht angenehm. Er hatte starkes Heimweh nach Raab; außerdem fand er seine Wirtin allzu streng und knauserig“ (S. 44). Erst nach dem Krieg nach 1918 lebte Ernst wieder bei seiner Familie, die ebenfalls nach Linz übersiedelte.
Später, in seiner Zelle in Nürnberg, erinnerte sich Ernst Kaltenbrunner mit Wehmut an seine frühe Zeit in Raab (S. 42f). Die Trennung von Familie und Heimat scheint ihn tief geprägt zu haben.
Was sich alles an Verhalten seiner „Gastmutter“ in Linz unter dem Wort „streng“ verbirgt, kann man nur erahnen. Fest steht, dass er keinen unmittelbaren Schutz durch seine Familie hatte und diese Frau offensichtlich die Aufsicht über ihn führte.
Außerdem stellt sich hier die Frage, wie liebevoll und zugewandt eine Mutter ist, die ihren neunjährigen Sohn für ca. 5 Jahre weg gibt? Sicherlich bestimmte damals der Vater abschließend über die Kinder. Vielleicht ist meine Frage also auch etwas ungerecht dieser Mutter gegenüber. Trotzdem stelle ich sie in den Raum. Denn auch Mütter konnten damals Einfluss nehmen und um ihre Kinder – auch gegen die Ehemänner – kämpfen. Ob und wie eine solche Diskussion im Hause Kaltenbrunner stattfand, erschließt sich nicht in der zitierten Biografie. Zu vermuten ist wohl eher, dass die Mutter dem Willen des Vaters entsprach. Ein guter Bildungsweg zählte damals allgemein viel, sehr viel mehr, als das emotionale Befinden eines Kindes.
Insgesamt betrachtet zeigt sich, dass Ernst Kaltenbrunner als Kind sehr belastet war. Zudem deuten sich weitere Belastungen an (Gewalt- oder Demütigungserfahrungen bei der „Hauswirtin“?) Ich sehe hier deutlich das Fundament für eine massenmöderische Karriere im NS-Staat. Ein solches Fundament führt niemals zwingend zum Terror! Aber ein Mensch, dessen Umgebung sich hin zum Terror entwickelt und der ein solches Fundament aufweist, kann u.U. mitgerissen werden.
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