Donnerstag, 23. September 2021

Autobiografie von Ex-Nazi Manuel Bauer und viele Fragezeichen

Der Ex-Nazi Manuel Bauer hat 2012 seine Autobiografie "Unter Staatsfeinden: Mein Leben im braunen Sumpf der Neonaziszene" (riva Verlag, München) herausgebracht. 

Er zeichnet darin weitgehend das Bild einer normalen, glücklichen Kindheit:
Die Schilderung einer kaputten, abseits jeder Norm liegenden Kindheit und Jugend mag vieles besser verständlich machen, sie wäre in meinem Fall aber leider gelogen. Nein, mein Vater, der eigentlich mein Stiefvater ist, hat mich nicht geschlagen. Er hat nicht getrunken, er hat auch meine Mutter oder meine Geschwister nicht misshandelt – er war ein einfacher, anständiger Mensch, der mit all seiner Kraft zu jeder Zeit versucht hat, mir und meiner Familie ein gutes Zuhause zu bieten. (…) Ich will, so ungewöhnlich das auch klingen mag, von einer schönen, harmonischen Kindheit sprechen (…)“ (S. 15). 

Als Manuel drei Jahre alt war, trennten sich seine Eltern  Aufgewachsen ist er in einem kleinen Dorf (40 Einwohner) in Polbitz (Sachsen). Die Eltern (Mutter und Stiefvater) bewirtschafteten zu DDR-Zeiten einen großen Hof und waren stark ausgelastet. Die Kinder gingen nach der Schule in den Hort, wo sie betreut wurden. Unklar ist, ab wann der neue Stiefvater in das Leben von Manuel trat. 

Ab der Wendezeit 1990 begann „ein neues, verändertes Leben, unter dem ich in der Folgezeit noch viele Male leiden sollte“ (S. 17). Überall begannen Veränderungen, die Manuel als Belastung empfand, sowohl strukturell, als auch im direkten Umfeld. Sein Großvater und auch seine Eltern verloren ihre Arbeit. Freunde von Manuel verschwanden, weil ihre Familien in den Westen übersiedelten. Läden wurden geschlossen usw.  „Um es auf einen kurzen und einfachen Nenner zu bringen: Mit der Wende wurde mir fast alles genommen, was mir als Kind in jener Zeit wirklich wichtig war: die Pionierorganisation, viele Freunde, die Arbeit meiner Eltern und damit auch die unbeschwerten Familienabende. (…) die Harmonie kehrte nach der Wende nie wieder in unsere Familie und in mein damaliges Leben zurück“ (S. 19f.). Parallel dazu ließen seine schulischen Leistungen nach und er musste ein Schuljahr wiederholen. Manuel verlor nach eigenen Angaben seinen Halt. 

Ab 1992 tauchten dann in seiner Schule immer mehr Schüler auf, die sich zum rechten Skinhead gewandelt hatten. Und ja, auch Manuel geriet in den Einflussbereich dieser rechten Jugendlichen und wurde selbst zum Nazi. Seine Eltern lehnten den Weg ihres Sohnes komplett ab. 

Manuel wurde immer radikaler und auch gewalttätig. Kontakte mit der Polizei waren u.a. die Folge. Zuhause führte er sich ähnlich auf. Einmal warf er seiner Mutter ein Brot, das sie sich gewünscht hatte, vor die Füße und sagte „Hier, friss!“ (S. 18). Seine Mutter brach daraufhin in Tränen aus. Als seine Schwester ihn als „Scheiß-Nazi“ beschimpfte, „verprügelte ich sie ohne Umschweife. Mitgefühl? Geschwisterliebe? Reue? Nichts dergleichen!“ (S. 39). Auch einem Mitschüler drückte er ohne Skrupel eine Zigarette im Gesicht in Augennähe aus (S. 51). Seinen Stiefvater verletzte er ebenfalls schwer, nachdem dieser ihn zur Rede gestellt und als üblen Nazi bezeichnet hatte. In der Folge musste er als 18Jähriger das Elternhaus verlassen (S. 64). Später kam er für kurze Zeit zurück zu seinen Eltern. Nachdem er seine Mutter geschlagen und sie als „dreckige Schlampe“ bezeichnet hatte, flog er erneut raus (S. 68). „Empathie, Skrupel, Nachdenken oder gar ein schlechtes Gewissen – all diese menschlichen Fähigkeiten waren aus meiner Welt verschwunden“ (S. 51). 

Er selbst meint, dass er als Kind empathiefähig gewesen wäre und seine Wandlungen Folge einer effektiven Gehirnwäsche der rechten Szene gewesen wären (S. 50). 

Ich kann es abkürzen: Ich glaube Manuel Bauer nicht, dass in seiner Kindheit alles harmonisch ablief. Ich glaube ihm, dass sein Stiefvater nicht gewalttätig oder suchtkrank war. Dazu hat er sich zu deutlich geäußert. Ich glaube ihm auch, dass er Familienabende (vor der Wende) und Familienspaziergänge als harmonisch empfand. 

Die schweren Belastungen nach der Wende hat Bauer ausgeführt. Für ein Kind, das er ja damals war, war dies sicher nicht folgenlos. 

Er selbst liefert auch kurze Infos, die weitere Fragen aufwerfen: Sein biologischer Vater wird im Grunde gar nicht erwähnt (außer bezogen auf die frühe Trennung der Eltern). Dieser scheint aus seinem Leben komplett verschwunden zu sein. Für ein drei Jahre altes Kind ist dies eine massive Belastung. Was war der Grund für die Trennung? Was passierte in den ersten drei Lebensjahren von Manuel?

Seine Eltern waren beruflich mit dem Hof stark belastet und die Kinder mussten nach der Schule in einen Hort im DDR-Erziehungssystem. Die Vermutung liegt nahe (ergänzend zur beruflichen Belastungen auch auf Grund der Normen in der DDR), dass Manuel auch als Kleinkind in eine DDR-Krippe gegeben wurde (wobei hier Belastungen nicht auszuschließen sind). Beide Systeme (Krippe und Hort) waren in der DDR ideologisch ausgelegt und oft autoritär eingefärbt. 

Über seine Mutter berichtet Bauer erstaunlich wenig. Seinen Stiefvater nimmt er wie oben erwähnt gezielt in Schutz und beschreibt ihn als einfachen, anständigen Menschen. Diese Lücke bzgl. der Mutter fällt besonders auf! Der Hass und die Gewalt, die Bauer später auch gegen seine Familienmitglieder richtete, waren massiv. All dies zusammenbetrachtet hinterlässt bei mir große Fragezeichen bzgl. seiner Sozialisation in der Kindheit. 

Ich habe außerdem schon zu oft Biografien von Extremisten gefunden, die bzgl. Kindheitserfahrungen extrem destruktiv waren, entgegen der Aussage der Extremisten selbst. Jeder Familientherapeut könnte außerdem Geschichten von Familien erzählen, die extrem destruktiv sind und agieren, ohne dass geschlagen, getrunken und geschrien wird. 

Wenn es um den Blick auf stark gewalttätige Extremisten geht und gleichzeitig Aussagen genommen werden, in denen von einer glücklichen, unbelasteten Kindheit dieser Leute berichtet wird, mahne ich grundsätzlich zur Vorsicht. Aus diesem Grund habe ich diesen Beitrag verfasst. An Fälle, wie den Fall Manuela Bauer, müsste komplexer heran gegangen werden, wenn es um Ursachenforschung und um seine Kindheitserfahrungen geht. Sprich, der Blick müsste in solchen Fällen durch Befragungen von anderen Familienmitgliedern (inkl. des biologischen Vaters), ggf. auch früheren Schulfreunden und Lehrkräften erweitert werden, um einen realistischen Abgleich zu erhalten. Und ja, im Grunde müsste auch Manuel Bauer durch qualifizierte Leute direkt befragt werden. Wir haben nur seine eigenen Worte. Mir reicht dies nicht. 

siehe ergänzend: Verklärt, beschönigt, verdrängt: Kindheiten von Gewalttätern und Extremisten. Eine Mahnung an die Forschung


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