Montag, 29. November 2021

Kindheit des ehemaligen Nazis und Rechtsterroristen Stefan Michael Bar

Die Kindheitsbiografie des ehemaligen Nazis und Rechtsterroristen Stefan Michael Bar stellt einen weiteren Beleg dafür da, wo die tieferen Ursachen für Rechtsextremismus liegen. 

Meine Quelle: Bar, S. M. (2003): Fluchtpunkt Neonazi. Eine Jugend zwischen Rebellion, Hakenkreuz und Knast. (Hrsg. Klaus Farin und Rainer Fromm). Verlag Thomas Tilsner. 

Bereits die Umstände seiner Geburt waren schwierig: Seine Mutter war 15 oder 16 Jahre alt, der Vater nicht viel älter. Bar selbst bezeichnet sich in diesem Kontext als „biologischer Unfall“ (S. 9). Im Alter von drei Jahren kam er für ein Jahr in ein Kinderheim. Dort erlebte er Gewalt durch andere Kinder. Eine Lehrerfamilie adoptierte schließlich den Vierjährigen. 

Die Adoptiveltern hatten sehr hohe Erwartungen an das Kind. Leistung ging über alles. Der Vater (ein Gymnasialdirektor) hatte zudem sehr wenig Zeit für die Kinder und Familie und war häufig abwesend. „Vormittags gab`s staatlichen, nachmittags privaten Unterricht. (….). Das Leben kann nicht nur aus Schule und Lernen bestehen, selbst in den Ferien ging der Drill weiter. (…) Keine Zeit für gar nichts, das war nicht ich selbst“ (S. 11). Stefan Michael begann dann Stück für Stück mit Rebellion gegen alles und jeden. Er schwänzte schon als Grundschüler die Schule, begann mit Diebstählen usw. 

Der heranwachsende Junge wurde durch Kontakte zu anderen gleichgesinnten Jugendlichen Stück für Stück immer delinquenter. Es folgten Einbrüche, Dogenhandel, versuchte Brandstiftung, Sachbeschädigungen und Gewalt. Auch rechtsextreme Einflüsse kamen hinzu. Sein Bruder entwickelte sich ebenfalls zum Rechtsextremisten.  

Im Alter von 16 Jahren wurde Bar seinen Adoptiveltern entzogen und kam in ein Jugendheim. Dort traf er auf andere Rechte und Nazis, die seinen Weg noch mehr verdunkelten und zusätzlich negativ prägten. 

An einer Stelle wird Bar nochmals sehr konkret und beschreibt seine damalige Gefühlslage in seiner Jugend: „(…) Angst oder gar Respekt hatte ich vor niemandem. Keinem Lehrer, keinem Bullen, nicht mal meinen Eltern. (…) Ich hatte mich mit Gewalt befreit, durch Schläge, Verweigerung und Trotz, niemand hatte mir mehr etwas zu sagen, die Zeiten waren vorbei. Ich ganz allein bestimmte über mich, ich nahm mein Leben selbst in die Hand. Vorher hatte sich auch niemand um mich gekümmert, auf sich allein gestellt. Aber die Zeile aus dem Anti-Fascho-Song `Schrei nach Liebe` trifft bei mir brutal zu:
`… denn deine Eltern hatten niemals für dich Zeit`, auf mich bezogen eine beschissene Wahrheit. Das ist vielleicht `ne harte Anklage, aber es ist so, meine Eltern waren nie für mich da. Gute Noten waren alles, was zählte. (…) Irgendwann sagst du dir, drauf geschissen, bin jetzt alt genug, mach mein eigenes Ding. (…) Euch bin ich doch sowieso egal, also seid ihr es mir auch
!“ (S. 16)

Die weiteren Schilderungen über sein Leben und seine Straftaten habe ich nur ansatzweise gelesen. Wir haben es hier mit einem Mehrfachtäter höchster Kategorie zu tun, der einfach nur zerstörte und sich nahm, was er wollte. Mit der Welt und der Gesellschaft scheint er komplett gebrochen zu haben. Dies wird überdeutlich. 

Sehr ärgerlich machte mich das Nachwort des Mitherausgebers Klaus Farin. Im Zeitraffer blickt er auf die Sozialisation von Stefan Michael Bar und kommentiert:
Doch so logisch, fast zwangsläufig sich der Weg des Stefan Michael Bar in die Neonazi-Szene auch lesen mag, er ist es nicht. Millionen von jungen Männern in Deutschland mach(t)en ähnliche Erfahrungen“ (S. 150f.) Er beschreibt dann die Konflikte zwischen Alt-Nazis und 68ern, schreibt von 50.000 Jugendlichen unter 18 Jahren, die in einem Heim leben und von 37.000, die in einer Pflegefamilie untergekommen sind, berichten von unzähligen Kindern, die von ihren Eltern misshandelt werden usw. Und hängt dem an: „Doch nur eine winzige Minderheit der so in ihrer Entwicklung geschädigten Jugendlichen landet in der Neonazi-Szene (…). Allgemeinverbindliche Ursachen, gar Kausalzusammenhänge – wenn…, dann… - lassen sich aus den inzwischen zahlreich geführten biographischen Gesprächen und Analysen rechtsextremer Ideologen und (Gewalt)Täter nicht ableiten“ (S. 151). 

1. Das Buch stammt aus dem Jahr 2003. Insofern sei diese Anmerkung etwas verziehen. Das bis heute vorliegende biografische Material zeigt deckungsgleich mit dem Finger auf destruktive Kindheitserfahrungen von Rechtsextremisten

2. Bedeutet diese Anmerkung des Herausgebers also, dass die massiv traumatischen Kindheitserfahrungen von Bar gar keine Rolle bei seinem spezifischem Lebensweg spielen? Hätte man diese Schilderungen im Prinzip auch aussparen können, weil sie nicht von Relevanz sind? Weil „Kindheit“ ja nicht prägt? Die Zusammenhänge hier ausblenden zu wollen, ist geradezu nachlässig und fahrlässig! Ich habe schon oft gegen solche Kritik Stellung bezogen und werde mich hier jetzt nicht wiederholen. Heute ärgert mich es einfach nur noch wenn ich lese „Nicht alle einst misshandelten/traumatisierten Kinder werden zu Extremisten!“ und dadurch die Ursachenkette quasi weggewischt wird...


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