Donnerstag, 18. November 2021

NS-Zeit: Kindheit von Friedrich Paulus

Friedrich Paulus, der Generalfeldmarschall und Oberbefehlshaber der 6. Armee, die gegen Stalingrad zog, ist vom Namen her der breiten Öffentlichkeit sicherlich nicht so nachhaltig bekannt, wie andere führende NS-Akteure. Allerdings spielte er eine wichtige Rolle bei Hitlers Feldzügen. 

Für mich ist seine Kindheit von Interesse, über die es so einige Informationen in dem Buch „Paulus. Das Trauma von Stalingrad. Eine Biografie“ (2009, 2. Auflage, Verlag Ferdinand Schönrich, Paderborn – München – Wien – Zürich) von dem Historiker Torsten Diedrich gibt. 

Friedrich wurde im Jahr 1890 geboren. Er war in seinen frühen Jahren ein „eher kränkliches, wenig robustes Kind“ (S. 29). Dies wird bei seinen Eltern zu einigen Sorgen geführt haben, denn sie hatten vor seiner Geburt bereits ein Kind ein viertel Jahr nach dessen Geburt verloren. 

Friedrichs Mutter hatte eine belastete Kindheit erlebt. Ihre Mutter war bei der Geburt gestorben und das Verhältnis zur späteren Stiefmutter war angespannt. Friedrichs Mutter litt unter Depressionen und hatte zudem häufig gesundheitliche Probleme. „Vielleicht vermochte sie nicht die negativen Erfahrungen ihrer Jugend zu verarbeiten (…)“ (S. 28). Auch der Tod ihres ersten Kindes wird sie sicher schwer und ergänzend belastet haben. Wie sich der Gemütszustand der Mutter auf Friedrich auswirkte, kann nur erahnt werden. 

Die Familie Paulus zog zumeist den Dienststellen des Vaters, ein Beamter des Kaiserreichs, folgend mehrfach um (S. 30). Ob und wie dies die Kinder belastete, wird nicht beschrieben.
Der elterliche Erwartungsruck auf Friedrich war sehr hoch, schließlich war er der erstgeborene Sohn. Der angesehene, herrische Großvater mütterlicherseits, Friedrich Wilhelm Nettelbeck, wurde zu einem Vorbild für Friedrich. Dieser Großvater war früher beim Militär, später leitete er mit strenger Hand eine Haftanstalt („Korrektionsanstalt“) und war entsprechend geprägt (S. 27-32). „Wahrscheinlich war für den jungen Friedrich das heimliche Familienoberhaupt Nettelbeck eher Vorbild als der eigene Vater, weil der weit weniger erfolgreich schien und als Persönlichkeit nicht das Charisma seines Schwiegervaters, anderer Brüder oder Vorfahren erreichte. Auch könnten heute kaum mehr nachzuweisende Strenge oder Erziehungsmittel seiner Eltern, die `missratene` Menschen ja in der Korrektionsanstalt vor Augen hatten, beim Sohn ein gewisses `Obrigkeitsdenken` erzeugt haben“ (S. 35).
Den letzten Satz schreibt der Autor Diedrich mit Blick auf das Einzelgängertum des Schülers Friedrich, sowie dessen Eigenheiten, seiner Strebsamkeit und Anlehnung an die strengen Pädagogen seiner Schule, was starken Unmut bei seinen Mitschülern auslöste. Ganz offensichtlich fand der Biograf keine Belege für das Erziehungsverhalten der Eltern. Seine zitierten Deutungsversuche zeigen allerdings, dass er eine autoritäre Erziehung in dieser Familie für durchaus wahrscheinlich hält. 

Dies wird auch an anderer Stelle im Buch deutlich, wenn der Autor allgemein ausführt:
Es entsprach durchaus „den Erziehungsmaximen dieser Zeit, den Willen eines Kindes frühzeitig zu brechen. Erziehung hieß in den vom Adel geprägten Wertevorstellungen der Gesellschaft, die Kinder zum `Funktionieren` zu bringen. Die zu vermittelnden Grundtugenden waren Zucht, Gehorsam, Anpassung, Ordnung, Leistung und Erfolg. Eine derartige Werteausrichtung erfolgte sowohl im Elternhaus wie in der Schule. Prügelstrafen waren dabei organischer Bestandteil der Erziehung. Das aufstrebende Bürgertum stand in dieser Gesellschaft unter einem besonderen Erfolgsdruck, welcher von den Eltern an die Kinder weitergegeben wurde. (…) Insbesondere der Sohn stand dabei unter besonderer Anforderung. Er musste den Erwartungen des Vaters gerecht werden und sollte sich zum Stolz der Familie entwickeln. Disziplin und Selbstkontrolle bildeten dabei die Basis des Funktionierens. Der so entstehende Leistungsdruck war oft bedrückend für das Kind und wurde durch bestimmte Verhaltensweisen kompensiert. Nicht selten zählten dazu ein reduziertes Gefühlsleben, Anpassung bis zur Selbstaufgabe, Distanz zu anderen Menschen, Kühle oder Introvertiertheit als Selbstschutz. Ganz offenbar hat Paulus nicht nur die Werte seines gesellschaftlichen Umfeldes sehr stark in sich aufgenommen, sondern zugleich ebenfalls einen solchen Schutzschild um seine Seele geformt“ (S. 34). Deutlicher kann man es im Grunde nicht ausdrücken: Der Biograf geht von negativen Prägungen in Kindheit und Jugend von Friedrich Paulus aus, die seinen Charakter formten. 

Für mich steht diese Kindheitsbiografie bzw. die allgemeinen Ausführungen des Biografen exemplarisch für das Leben und Erleben von Kindern der damaligen Zeit. Die Kindheiten von 25 bekannten NS-Tätern/Führern habe ich bisher analysiert. Auch diese Fälle stellen im Grunde Paradebeispiele dar. Die NS-Ideologie baute auf eine strenge, zu Gehorsam, Anpassung und Spaltung ausgerichteten Erziehung der Kinder auf. Hinzu kamen oft leidvolle Umstände der Zeit, wozu u.a. der Tod von Geschwistern oder Elternteilen gehörte. Letzteres kann schwer einfühlsam aufgefangen werden, wenn das Ziel ist, zur Härte zu erziehen. Das Fundament, das die NS-Zeit möglich machte, ist klar. Merkwürdig nur, dass dies nicht immer und immer wieder auch so besprochen und mahnend hoch gehalten wird. 

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