Samstag, 26. November 2022

Kindheit in Russland - Teil 2

Die in Kiew geborenen Politikerin und Publizistin Marina Weisband (2022) hat mit Blick auf den aktuellen Krieg in der Ukraine auf ihrer Homepage folgendes geschrieben:
Eigentlich seit dem 13. Jahrhundert lebten sämtliche Generationen in Russland in Knechtschaft. Sie wurden in Knechtschaft geboren und starben in Knechtschaft. Sei es das zaristische Regime mit der Leibeigenschaft oder der Stalinismus. Persönliche Würde war einfach kein Ding. Meine Mutter erzählte mir gestern: „Ich habe, als ich nach Deutschland gekommen bin, fünf Jahre gebraucht, um zum ersten Mal sowas wie Selbstwert zu fühlen. Davor hatte ich keine Vorstellung, was das ist.“ Was bedeutet das? In der Sowjetunion war der Mensch staub. (…) Wo Menschen Staub waren, hielten sie sich schon immer an etwas, das größer war, als sie selbst. Die Idee Gottes. Die Idee des Imperiums. Die schiere Größe des Landes und seines Geistes, wo das eigene Leben klein und unbedeutend war.“

Geschichte ist nicht einfach nur Geschichte. Sie wirkt fort (Stichwort u.a.: transgenerationales Trauma). Das hat Weisband in ihrem eindrucksvollen Text „Russland verstehen“ im Grunde deutlich beschrieben. 

Wie sah also Kindheit in Russland aus? Dieser Frage bin ich bereits in dem Blogbeitrag "Kindheit in Russland" vom 03.04.2014 nachgegangen. Diesen Beitrag möchte ich heute ergänzen.
Meine neue Hauptquelle, die mich vor allem dazu veranlasste, ist das Buch „Children's World: Growing Up in Russia, 1890–1991“ von Catriona Kelly; eine wahre Fundgrube für Kindheit in Russland. Ergänzen werde ich diese neue Quelle um einzelne, kurze Informationen aus anderen Quellen, die ich hier verarbeiten werde. 

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Kindheit in Russland

Wenn beispielsweise um das Jahr 1900 herum Essen serviert wurde, kamen die Kinder zuletzt und bekamen die schlechtesten Stücke. Der Hausherr nahm sich zuerst. Am Ende mussten sich die Kinder beim Hausherren für das bedanken, was sie erhalten hatten (Kelly 2007, S. 366) "Family law still enshrined the patriarch as mini-tsar in his own household, with his wife and progeny perceived  as dependants" (Kelly 2007, S. 27). Im Kleinen wie im Großen herrschten zaristische Verhältnisse und sicherlich steht beides auf eine Art in einem Zusammenhang bzw. stützte sich gegenseitig.
Oder wie Lloyd deMause es drastischer formulierte: „Die politischen Alpträume des zaristischen und stalinistischen Russlands waren exakte Abbilder der Alpträume einer gewöhnlichen russischen Kindheit. Weitverbreiteter Kindesmord, heftige Schläge und andere Arten physischer Misshandlung waren Vorbilder für physische Gewalt des Kremls, das KGB und des Gulag" (deMause 2000, S. 455f.).

Im 17. Jahrhundert besaß die junge Frau in Russland keinerlei Vorrechte. Zu ihren Aufgaben gehörte es, sich um das Haus zu kümmern, Kinder zu gebären und für ihren Mann zu sorgen. „Wenn der Mann mit seiner Frau nicht zufrieden war, hatte er die Möglichkeit, sie zu züchtigen. Wenn nur eine leichte Strafe notwendig war, konnte er sie schlagen. Der Domostroi, der Kodex für die Haushaltsführung (…), diente den Oberhäuptern der russischen Familien als Leitfaden für die verschiedenen häuslichen Angelegenheiten, wie dem Konservieren von Pilzen bis hin zur Züchtigung von Ehefrauen. In Bezug auf letzteres empfahl er, 'ungehorsame Frauen streng, jedoch nicht zornerfüllt auszupeitschen'. Sogar eine gute Frau sollte von ihrem Mann belehrt werden, 'indem er von Zeit zu Zeit die Peitsche gebraucht, wobei er aber freundlich bleibt, niemanden anderen zusehen lässt, vorsichtig vorgeht und Fausthiebe vermeidet, welche blaue Flecken verursachen'. In den unteren Gesellschaftsschichten pflegten russische Männer ihre Frauen auch bei den geringsten Anlässen zu schlagen. 'Einige von diesen Barbaren hängen ihre Frauen an den Haaren auf und peitschen sie ganz nackt', schrieb Dr. Collins. Manchmal starben die Frauen an den Folgen der Züchtigungen; dann waren die Männer frei und konnten wieder heiraten“ (Massie 1982, S. 38).

Eine weitere Möglichkeit, sich seiner Ehefrau zu entledigen, war, sie in ein Kloster zu stecken. Für die Außenwelt galt sie dann als „tot“, der Mann durfte erneut heiraten. „Die gesellschaftliche Verachtung der Frauen hatte grausame Folgen für die russischen Männer des 17. Jahrhundert. Ein echtes Familienleben gab es nicht, das intellektuelle Leben stagnierte, die rohesten Sitten herrschten vor, und die Männer fanden nur Ablenkung im Alkohol.“ (Massie 1982, S. 39).
Noch viel mehr, das möchte ich hier diesem Zitat anmerken, hatten die Frauen zu leiden und mit ihnen die Kinder, die all diese Rohheiten von Beginn an miterleben mussten. Aus diesen Kindern wurden dann die Erwachsenen, die die "Traditionen" fortführten. Man kann auch nicht erwarten, dass sich aus furchtbar missbrauchten, unterworfenen und gedemütigten Mädchen/Frauen gute Mütter entwickeln. Als Mütter hatten und haben Frauen stets Macht über Kinder. Traumatisierte Mütter werden auf die eine oder andere Art mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auch zu einer Belastung oder sogar zu einer Gefahr für die eigenen Kinder, gerade auch in einer Zeit wie dem 17. Jahrhundert. 

Ein Bericht in der New York Times zeigt, dass diese "Geschichte der häuslichen Gewalt" bis heute fortwirkt: "A fifth of all Russian women have been physically abused by a partner, and an estimated 14,000 women in the country die as a result of domestic violence each year—more than nine times the number of deaths in the U.S., though Russia’s population is less than half the size. At least 155 countries have passed laws criminalizing domestic violence. But in Russia, there is no such law; the government has even made it easier for domestic violence to go unpunished" (Roache 2021). 

Nun ist es sicherlich so, dass z.B. im 17. Jahrhundert auch in (West-)Europa raue Sitten herrschten. Allerdings spricht einiges dafür, dass Russland allgemein rückständiger war und sich Fortschritt langsamer vollzog (u.a. zu sehen am Beispiel der Leibeigenschaft, Alphabetisierungsrate, Kindersterblichkeitsrate, Kleinkindbetreuung, Wickelpraxis). 

"Etwas mehr als die Hälfte der Bauern waren Leibeigene. Ihre Eigentümer, die Grundherren, gehörten gewöhnlich dem Adel an. Zu einer Zeit, da die Leibeigenschaft nahezu überall in Westeuropa verschwunden war, um die Mitte des 17. Jahrhunderts, hatte man sie in Russland gesetzlich festgeschrieben" (de Madariaga 2006, S. 25). Noch im Jahr 1858 lebten ca. 40 % der Russen als Leibeigene. Sie wurden erst am 19.02.1861 durch die Aufhebung der Leibeigenschaft in die Freiheit entlassen (d'Encausse 1998, S, 18).

Auch die Alphabetisierung vollzog sich langsamer. 1870 lag die Alphabetisierungsrate im russischen Reich bei gerade einmal bei 15 % (im Vergleich zur gleichen Zeit z.B.: Schweden = 80%, Vereinigtes Königreich = 76%, Frankreich 69%) (Roser & Ortiz-Ospina 2018).

Auch die Kindersterblichkeit war verhältnismäßig hoch. Im Jahr 1913 lag die Säuglingssterblichkeitsrate (0-1 Lebensjahre) im europäischen Teil Russlands bei 26,5%. In zentralrussischen Gebieten (darunter u.a. die Region Moskau, Nowgorod oder Kaluga) lag die Sterblichkeitsrate sogar zwischen 34 und 38,6%. „The discrepancy between these rates and those in some European countries – 13.9 in Britain, 16.7 in France, 19.9 in Germany, and 21.3 in Austro-Hungary – was regularly cited in order to point to Russia`s backwardness and to the need of change” (Kelly 2007, S. 294).  Im frühen 20. Jahrhundert lag die Kindersterblichkeit der unter Dreijährigen im russisch-ländlichen Raum bei 50% (Kelly 2007, S. 306). Ab Ende der 1920er Jahre begannen die Kindersterblichkeitsraten deutlich zu sinken. Im Jahr 1957 lag die Säuglingssterblichkeitsrate (0-1 Jährige) bereits bei 4,5 % (Kelly 2007, S. 323). 

Die hohe Säuglingssterblichkeit hing u.a. auch mit traditionellen Vorstellungen vom Umgang mit dem Kind zusammen. „Even where it was detrimental, traditional care often 'killed with kindness' rather than neglect or indifference. Feeding solids early came from the conviction that 'milk isn`t a real food'. Enormous efforts were expended to protect children, though in the first instance from malevolent spirits and the 'evil eye' rather than from infections or microbes” (Kelly 2007, S. 294). Dass die Autorin Vernachlässigung als Ursache für die Sterblichkeitsraten zur Seite schiebt, erstaunt.
Dunn (1980, S. 537) folgend kamen die Sterblichkeitsraten in Russland zwar auch durch Bedingungen wie unzureichende Ernährung und medizinische Versorgung, klimatische Bedingungen etc. zu Stande, aber: „Wichtig ist meiner Meinung nach die Tatsache, dass russische Eltern Kinder und Kinderaufzucht für unwichtig hielten. Zwar musste man sich um die Kinder kümmern, doch im Grunde genommen vernachlässigten die Eltern ihre Kinder, ja, waren ihnen gegenüber sogar feindlich gesonnen.“

Kelly neigt außerdem dazu, Vorzüge des traditionellen straffen Wickelns der Säuglinge in Russland (Bewegungsfreiheit wird monatelang gänzlich eingeschränkt) hervorzuhaben (Kelly 2007, S. 288), obwohl sie sehr wohl wahrgenommen hat, dass die Expertenmeinungen zwischen Russen und Europäern bzgl. des straffen Wickelns schon damals deutlich auseinandergingen (Kelly 2007, S. 330). Die Praxis des traditionellen, straffen Wickelns hielt sich in Russland in manchen Arbeiterfamilien bis in die 1930er Jahre. Auf dem Land gab es bis in 1960er Jahre keinerlei Bestrebungen, von dieser Praxis abzurücken (Kelly 2007, S. 330). 

Babybücher der frühen Sowjetzeit betonten die Notwendigkeit zur Selbstbeherrschung und Disziplin von Anfang an, wozu u.a. das Baden in kaltem Wasser zur „Abhärtung“ gehörte (Kelly 2007, S. 326). Lloyd deMause meint mit Blick auf bis ins 20. Jahrhundert praktizierte „Abhärtungsrituale“ von Säuglingen (die es früher auch in Westeuropa gab), dass sich Reformen der Kindererziehung in Russland im Vergleich zu Westeuropa um ca. 200 Jahre verzögerten (deMause 2000, S. 455).

Schon die Geburt verlief noch Anfang des 20. Jahrhunderts nicht selten alles andere als erfreulich:
In communities where women had to work right through pregnancy, elaborate preparation was ruled out for many, and it was fairly common for women to go through labour unaided, in field or by a road. As one Soviet obstetrician was to comment, a pregnant women could expect less considerate treatment than a draught horse. In such situations, one may assume, the ritual procedures of birthing were delayed or truncated, and the infant arrived in life uncelebrated and unwelcomed” (Kelly 2007, S. 292). 

Aber auch Kindestötungen kamen vor: “Infanticide was not an uncommon event in the countryside (…)” (Kelly 2007, S. 292). "Among the lowest social level in seventeenth century Russia, female infanticide seems to have been widespread" (Milner 2000, S. 232).
Säuglingstötungen wurden Anfang des 18. Jahrhunderts seitens der politischen Führung zum Thema (was klar macht, dass die Tötungen eine bekannte Realität waren). Zunächst ging es vor allem darum, das Töten von illegitimen Kindern zu verhindern. 1716 wurden dann durch Peter I. Strafen für das Töten von sowohl illegitimen wie auch legitimen Kindern verhängt. Doch die russischen Väter fühlten sich durch diese Verordnung in ihren traditionell absoluten Rechten über ihren Nachwuchs zu bestimmen beschnitten. Peter I. reagierte darauf so, dass es keine Strafen gegen Elternteile gab, wenn deren Kinder "versehentlich" während elterlicher Strafmaßnahmen starben. In der Folge wurde es schwierig, den Eltern strafbares Fehlverhalten nachzuweisen. (Milner 2000, S. 107). 

Ab den 1930er Jahren gab es Bestrebungen, die Krippenbetreuung massiv auszuweiten. In den Folgejahren wurde die maximale Anzahl von zu betreuenden Kleinkindern auf 35 bis 40 pro Betreuungsperson angehoben (Kelly 2007, S. 344). In der Realität sei laut Kelly die Zahl der zu betreuenden Kinder zweifellos höher gewesen. 
Wir können uns vorstellen, dass die Bedingungen für die Kinder entsprechend miserabel waren, wovon auch einzelne Berichte zeugen, die Kelly zitiert. Der Standardaufenthalt der Kinder in den Krippen lag in den 1940er Jahren bei zwölf Stunden.  „'Hospitalisation', in the sense of institutionalised psychological trauma and emotional deprivation, must have been widespread among many 'graduates' of such crèches” (Kelly 2007, S. 349).
Aber nicht nur die Bedingungen waren rückständig, auch die Anzahl von Kindergärten (also Einrichtungen für etwas ältere Kinder) zeigt, dass Russland ganz anders aufgestellt war: "In 1911 there were only 100 kindergartens in operation across Russia, a figure that was strikingly low compared with the figures for France (5,863), the US (4,363), or Austro-Hungary (3,150)" (Kelly 2007, S. 369)

Bezogen auf Arbeiter- oder Bauernkinder um 1900 war das Hauptbestreben der Eltern sie durch die frühe Kindheit zu bringen. Enger Kontakt zur Mutter war begrenzt auf die ersten frühen Jahre. Sobald die Kinder sprechen und gehen konnten, wurden sie der Aufsicht von älteren Geschwistern überlassen oder gar nicht beaufsichtigt. Manchmal konnte aus Vernachlässigung auch Kindesmisshandlung werden, betont die Autorin (Kelly 2007, S. 361). 

Ein Bericht aus dem ländlichen Russland im 19. Jahrhundert zeigte vielfältige Gewalt gegen Kinder: „Dmitrii Ivanovich Rostilavov (b. 1809), raised as the son of a priest in a Russian village, noted the widespread resort to corporal punishment at all levels of society. Whereas landowners, the clergy and merchants adopted a grim ritual with birch rods or leather straps, peasants seized whatever was to hand, including sticks, ropes and horse whips, with the result that children were »beaten, pummeled, and even maimed«” (Heywood 2018, S. 114).

Um das Jahr 1900 herum war in Russland auch in den Mittel- bis Oberklassefamilien Körperstrafen gegen Kinder keineswegs unüblich. Auch das Einsperren von Kindern in dunklen Räumen waren mögliche Strafmaßnahmen (Kelly 2007, S. 362). In Arbeiter- oder Bauernfamilien galt: “Generally, the attitude to children, once they had reached the age of seven, was strict. Misdemeanours were punished by beatings or by sharp scoldings, disobedience was not tolerated" (Kelly 2007, S. 366) Manchmal wurden Kinder halbtot geschlagen, wie laut Kelly Einzelberichte zeigten. 

Ende des 19. Jahrhunderts waren auch Körperstrafen an Schulen gängige Praxis in Russland, wobei in religiösen Schulen am brutalsten geschlagen wurde (Kelly 2007, S. 521f.)
Gewalt gegen Kinder hielt sich auch in der Sowjetzeit: „Corporal Punishment was, by all accounts, used almost universally in working-class and peasant families. Strict control was still exercised in some families over how children behaved at table, and over the way they acted in the presence of visitors – interrupting and clamouring for attention were definitely not allowed. A standard method of behaviour regulation was the withdrawal of love: 'I don`t have a granddaughter any more', as a visiting grandmother said to her Leningrad granddaughter in 1960” (Kelly 2007, S. 390). 

Es mag entsprechend wenig verwundern, dass auch die Schüler untereinander oftmals nicht gerade zimperlich miteinander umgingen. Kinder, die anders oder schwächer waren, wurden schnell zur Zielscheibe (Kelly 2007, S. 562f.) Heute würden wir dazu Mobbing sagen. 

Vor allem nach den Jahren des Ersten Weltkriegs und der Oktoberrevolution stieg in Russland die Zahl der Kinder, die in Waisenhäuser untergebracht werden mussten, rasant an. Von 30.000 im Jahr 1917 auf 540.000 im Jahr 1921 (Kelly 2007, S. 193). Nach der Hungersnot 1920/1921 lag ergänzend die Zahl der Kinder, die ins Elend und totale Not gestürzt wurden bei mindestens vier Millionen. Diese Kinder wurden zu Erwachsenen und gestalteten die russische Gesellschaft mit. 

Dunn spitzt die Lebenssituation vieler russischer Kinder im historischen Rückblick wie folgt zu:
In der Zeit von 1760 bis 1860 in Russland ein Kind zu sein, war eine Qual, ein ungesichertes Dasein voll von Hindernissen für die körperliche wie die seelische Entwicklung. Vielleicht weniger als die Hälfte der Kinder erreichte das Erwachsenenalter. (…) Nur wenige von denen, die trotz allem körperlich überlebten, wurden in unserem heutigen Sinn erwachsen, nämlich autonome eigenverantwortliche Persönlichkeiten“ (Dunn 1980, S. 537).

Inna Hartwich (2022) hat für die taz den Artikel "Erziehung in Russland. Gewalt von Kindesbeinen an" verfasst und diese auf allen Ebenen zu findende Gewalt in der russischen Gesellschaft in Bezug zu Gräueltaten der russischen Armee und auch dem Krieg in der Ukraine an sich gesetzt. 
Ihr großartiger Artikel erspart mir hier das ausführliche Schlusswort! Wir müssen die aktuellen Kindheiten in Russland allerdings - dies soll dieser Blogbeitrag hier deutlich machen - im Kontext der Geschichte von Kindheit in Russland betrachten. 

Langfristig gilt: Russland verändern heißt, russische Kindheit verändern und verbessern. Ein Projekt, das nicht von heute auf morgen realisiert werden kann. Ein Bewusstsein für dieses grundlegende Problem wäre ein Anfang. 


(Siehe ergänzend die Kindheiten etlicher russischer Zaren und die Kindheit von Putin, Lenin, Stalin und Trotzki in meinem Blog)


Quellen:

de Madariaga, I. (2006). Katharina die Grosse. Das Leben der russischen Kaiserin. Hugendubel Verlag, Kreuzlingen / München.

deMause, L. (2000). Was ist Psychohistorie? Eine Grundlegung. Psychosozial Verlag, Gießen.

d'Encausse, H. C. (1998). Nikolaus II.: Das Drama des letzten Zaren. Paul Zsolnay Verlag, Wien. 

Dunn, P. P. (1980). »Der Feind ist das Kind«: Kindheit im zaristischen Russland. In: DeMause, L. (Hrsg.) (1980). Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main. S. 535-564.

Hartwich, I. (2022, 05. Juli). Erziehung in Russland. Gewalt von Kindesbeinen an. taz. 

Heywood, C. (2018). A History of Childhood. Polity Press, Medford. (Second Edition)

Massie, R. (1982). Peter der Grosse und seine Zeit. Athenäum Verlag, Königstein/Ts.

Milner, L. S. (2000). Hardness of Heart/Hardness of Life: The Stain of Human Infanticide. University Press of America, Lanham / New York / Oxford. 

Roache, M. (2021, 03. März). Russia's Leaders Won't Deal With a Domestic Violence Epidemic. These Women Stepped Up Instead. New York Times. 

Roser, M. & Ortiz-Ospina, E. (2018, 20. Sep.). Literacy. Our World in Data. 

Weisband, M. (2022, 07. März). Russland verstehen

Freitag, 4. November 2022

Kindheit von Xi Jinping

Xi Jinping wurde am 15. Juni 1953 in Peking geboren. Sein Vater, Xi Zhongxun, hat während der Kriege gegen Japan und gegen die Nationalisten eine steile Karriere im Militär gemacht. Während der 1950er Jahre arbeitete er im Propagandaministerium. Die Mutter war ebenfalls Teil des Parteikaders und arbeitete in der frühen Kindheit von Xi Jinping von montags bis freitags im marxistischen-leninistischen Institut. Der Vater war in dieser Zeit für das Kind zuständig (Brown 2016, S. 51). 

Aust & Geiges (2021, S. 35f.) schreiben, dass Xi Zhongxun als Guerillaführer schon im Langen Marsch an der Seite Maos kämpfte. Nach dem Sieg der Revolution wurde er stellvertretender Premierminister. Auch seine Frau Qi Xin, die Mutter von Xi Jinping, hatte an Kampfeinsätzen während des Krieges teilgenommen.
Xi Zhongxun war als Weggefährte der ersten Stunde beliebt bei Mao und gehörte wie gezeigt der Parteielite an. Sein Sohn wuchs insofern anfangs privilegiert auf und gehörte zum sogenannten „roten Adel“.

 Wohl bedingt durch eine Feindschaft mit dem Gründer der chinesischen Geheimpolizei geriet Xi Zhongxun Anfang der 1960er Jahre ins Abseits und es kam zum Bruch. Seine Karriere in der Partei war beendet und er wurde zunächst Hausmann (Brown 2016, S. 52f.). „Als Xi Jinping neun Jahre alt ist, 1962, wird sein Vater verhaftet und eingesperrt“ (Aust & Geiges 2021, S. 37). Danach wird er unter Hausarrest gestellt, was sein Leben als „Hausmann“ wie zuvor durch Brown gezeigt erklärt. 

Beide Elternteile waren deutlich auf Parteilinie und hatten durch ihre Kampfeinsätze sicherlich auch einige Rohheiten erlebt, um es vorsichtig auszudrücken. Ich gehe davon aus, dass dieser Hintergrund auch ihren Umgang mit den Kindern geprägt hat. Vor allem der Vater war auf Grund der abwesenden Mutter und dem späteren Ausschluss für die Kinder zuständig. Der Biograf und ehemalige Diplomat Kerry Brown sagte: „Es heißt, sein Vater sei ein harter Mann gewesen, der ihm kalte Bäder verordnete und sehr streng mit ihm war“ (Lepauld & Franklin 2021).
Fahrion & Giesen (2022, S. 12) fassen knapp zusammen: Xi Jinping „wurde in die abgeschirmten Quartiere der Führungselite in Peking hineingeboren, wuchs dort zunächst mit seinen Geschwistern auf. Die Eltern erzogen sie autoritär.“ Eine strenge und autoritäre Erziehung sind hier wie gezeigt die Schlüsselworte, was genau sich alles darunter verbirgt, bleibt allerdings unserer Fantasie überlassen. In den Quellen finden sich ansonsten keine weiteren Hinweise über den Erziehungsalltag. 

Der Abstieg der Familie geht weiter und spitzt sich während der Kulturrevolution noch zu. Der Vater von Xi Jinping gilt als Konterrevolutionär und wird verfolgt. Bei Massensitzungen wird er öffentlich zur Selbstkritik genötigt. Auch sein Sohn wird vom privilegierten Kind zum Verräter degradiert: Er muss bei Selbstkritiksitzungen seinen eigenen Vater denunzieren und leidet unter der Brutalität der roten Garden. „Ein Martyrium, über das die offizielle Biografie kein Wort verliert, das die Persönlichkeit des künftigen Staatspräsidenten jedoch nachhaltig prägen wird“ (Lepauld & Franklin 2021). Xi Jinping in einem Interview: „Die roten Garden sagten mir hundert Mal, dass sie mich erschießen würden. Sie drohten, mich hinzurichten, und dann musste ich von morgens bis abends Mao-Zitate vorlesen“ (Aust & Geiges 2021, S.41). Die Rotgardisten sperren den Jungen auch ein, „geben ihm tagelang nichts zu essen“ (Aust & Geiges 2021, S.41). Seine Mutter wird ebenfalls unter Druck gesetzt und von den Rotgardisten angegangen. 

Die Angriffe gegen den Vater werden immer heftiger und er wird mit Schmäh-Schildern um den Hals vorgeführt. „Er wird dabei so brutal geschlagen, dass er beinahe stirbt“ (Aust & Geiges 2021, S.42).
Ein alter Parteifreund kann schließlich bewirken, dass Xi Zhongxun für acht Jahre in Peking ins Gefängnis kommt. Es ist der einzige Weg, sein Leben zu retten. Sein Sohn wurde entsprechend lange Zeit von ihm getrennt.
Die Halbschwester von Xi Jinping konnte indes nicht gerettet werden. Sie nahm sich infolge der Demütigungen während der Kulturrevolution das Leben (Aust & Geiges 2021, S.44). 

Der Junge macht während all dieser Ereignisse einen erstaunlichen Schritt. Er hegt keinen Groll gegen die Kommunisten, sondern identifiziert sich absolut mit ihnen und dem Führer Mao. Er möchte die Schande seines Vaters wiedergutmachen, indem er ein extrem guter Kommunist wird.
Der chinesische Redakteur Li Datong kommentiert. „Da sein Vater als Konterrevolutionär verurteilt wird, muss er sich noch kommunistischer und noch revolutionärer geben als die anderen, wenn er überleben will. Um zu beweisen, dass er `ein gutes Kind` Maos ist, verdoppelt er seine Anstrengungen beim Studium von Maos Werken. Er lernt seine Reden auswendig, bis Maos Erbe tief in ihm verwurzelt ist. Sobald er den Mund öffnet, spricht Mao" (Aust & Geiges 2021, S. 38). 

Als 15-Jähriger wird Xi Jinping - wie die anderen Jugendlichen aus den Städten - aufs Land geschickt. „Der Ruf seines Vaters verfolgt ihn. Er wird als Volksfeind abgestempelt. Xi Jinping wurde von seiner Familie und seinen Freunden getrennt und in ein Umfeld versetzt, wo er als Elitekind galt, das man verprügeln und ausgrenzen musste. Die Menschen waren keineswegs mitfühlend. Sie behandelten ihn fast wie einen Sklaven“ (Lepauld & Franklin 2021). Auch der Biograf Kerry Brown (2016, S. 56). berichtet von harten Bedingungen auf dem chinesischen Land für die dort hingeschickten Jugendlichen.

Einige Monate nach seiner Ankunft auf dem Land gelingt ihm die Flucht. Zurück in Peking „wird er gefasst und für ein halbes Jahr eingesperrt. Der jetzt 16-Jährige will um jeden Preis zurück zu seiner Familie. Doch inzwischen sind auch seine Mutter und seine Geschwister aus der Hauptstadt verbannt worden“ (Aust & Geiges 2021, S. 43). Tante und Onkel raten dem Jungen nach seiner Haftentlassung zur Rückkehr aufs Dorf und er folgt ihrem Rat.
Sieben Jahre blieb er dort (Aust & Geiges 2021, S. 45).
Alles, was danach kam, ist Legende. 


Quellen:

Aust, S. & Geiges, A. (2021). Xi Jinping – der mächtigste Mann der Welt. Piper Verlag, München. 

Brown, K. (2016). CEO, China: The Rise of Xi Jinping. L.B. Tauris, London / New York. 

Fahrion, G. & Giesen, C. (2022, 15. Okt.). Der Allmächtige. DER SPIEGEL, Nr. 42. 

Lepauld, S. & Franklin, R. (2021). Die neue Welt des Xi Jinping. ARTE Dokumentation. (Produziert von Arnaud Xainte)