Mittwoch, 23. August 2023

Der Historiker David G. Marwell und die Kindheit von Josef Mengele

David G. Marwell ist amerikanischer Historiker und hat das Buch „Mengele. Biographie eines Massenmörders“ (2021, wbg Theiss, Kindle E-Book Version; original Titel aus 2020: „Mengele: Unmasking the "Angel of Death") geschrieben.

Für mich bot das Buch eine große Überraschung und lenkt mein Interesse auf den Autor an sich. 

Belastende Kindheitserfahrungen von Josef Mengele habe ich relativ ausführlich in meinem Buch besprochen. Meine beiden Quellen dafür waren: 

Knopp, G.  (1998): Hitlers Helfer. Täter und Vollstrecker. C. Bertelsmann Verlag, München.

Völklein, U. (1999): Josef Mengele – Der Arzt von Auschwitz. Steidl Verlag, Göttingen.

Die Kindheitsbelastungen von Josef Mengele lassen sich diesen Quellen zufolge wie folgt zusammenfassen: im Alter von drei Jahren fast ertrunken, weil niemand auf ihn aufgepasst hatte (Rettung in letzter Sekunde); der Vater war chronisch abwesend, seine sehr dominante Mutter (die bei ihren Angestellten gefürchtet war) war ebenfalls häufig abwesend, Personal kümmerte sich um das Kind, Gefühlskälte in der Familie und Erziehung, häufige Streitigkeiten zwischen den Eltern, hohe Erwartungen und Gehorsamsforderungen, Vater war sehr dem Alkohol zugeneigt, beide Elternteile wendeten Körperstrafen gegen das Kind an (Fuchs 2019, S. 290-292).

Und jetzt die Überraschung: Von den genannten Belastungen findet man fast nichts in dem viel neueren Buch von David G. Marwell! Wie kann das sein?

Das erste Kapitel, in dem er auch den Blick auf Kindheit und Familie von Mengele richtet, fängt Marwell so an:
Allen Berichten nach ließ wenig darauf schließen, dass Mengeles Zuhause einen Mann hervorbringen würde, der zum `Todesengel` werden sollte. Anzeichen für extreme politische Überzeugungen, Antisemitismus und Fähigkeit zum Mord sind schwer zu finden. Studien über den sozialen Hintergrund und die Kindheitserfahrungen von Männern, die später Verbrechen unter den Nazis verübten, beschreiben oft die Wirkung des Ersten Weltkriegs auf ihre psychische und emotionale Entwicklung“ (Marwell 2021, S. 18).

In diesen einleitenden Sätzen sind gleich zwei Ausblendungen enthalten, was Einfluss von Familie und Kindheit angeht. Insofern ahnte ich nach diesen Zeilen schon, wie es weitergehen würde…und zwar so:

Während Mengele seinen Vater später als `gutmütig und weichherzig` beschrieb, war seine Mutter `äußerst resolut und energisch`. Nach Aussage eines Bekannten war das Erscheinen von Mengeles Mutter in der Fabrik viel mehr gefürchtet als das seines Vaters“ (ebd., S. 19).

In seiner Autobiografie widmete Mengele über 100 Seiten seiner Kindheit und Jugend und zeichnete das Bild einer behüteten Kindheit inmitten von Eltern, Großeltern und Hausangestellten“ (ebd., S. 19).

Mit seinen jüngeren Brüdern Karl und Alois, die in den folgenden drei Jahren geboren wurden, verlebte er eine recht unbeschwerte und ereignislose Kindheit“ (ebd., S. 19). Dem hängt der Autor noch an, dass laut einem Kindheitsfreund von Mengele die Atomsphäre in der Familie „konservativ, katholisch, konventionell“ gewesen wäre. 

Bei diesen spärlichen Ausführungen bzgl. der Innenansicht der Familie bleibt es im Grunde. Das Bild, das der Autor zeichnet, ist ziemlich deutlich: Es war halt eine ganz normale Familie, die sogar im Wohlstand lebte. In der Kindheit von Mengele findet der Autor keine Auffälligkeiten. 

Laut dem Quellenverzeichnis hat Marwell auch das von mir als Quelle verwendete Buch „Hitlers Helfer. Täter und Vollstrecker“ von Ulrich Völklein verwendet. Dem Buch von Völklein konnte ich u.a. entnehmen, dass beide Elternteile Körperstrafen gegen ihren Sohn Josef anwendeten, was eine massive und folgenreiche Belastung für ein Kind bedeutet. Kein Wort davon bei Marwell. 

Nun müssen wir auf zwei Dinge blicken: Marwell ist Amerikaner und wurde 1951 geboren. 

In den USA sind Körperstrafen gegen Kinder bis heute in keinem einzigen US-Staat verboten. In vielen Staaten ist sogar weiterhin das Schlagen von Kindern in der Schule erlaubt und wird auch praktiziert. Eine Mehrheit der Amerikaner befürwortet weiterhin das elterliche Recht, Kinder körperlich zu bestraften. Von seinem Geburtsjahr her, dürfte David G. Marwell mit einer hohen Wahrscheinlichkeit noch weit aus mehr von dieser Art Einstellungen bzgl. Körperstrafen geprägt worden sein, als dies heute der Fall ist. Wer in einer Kultur aufgewachsen und geprägt wurde, die kein Problem mit dem Schlagen von Kindern hat (und in der Folgen auch keine negativen Folgen für die Kinder sehen möchte), der ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auch blind gegenüber Kindheitsleid, wenn es um die Erforschung von historischen Akteuren geht. 

Insofern wird hier der Historiker David G. Marwell für mich quasi selbst zum Forschungsobjekt. Er ist darüber hinaus auch kein Einzelfall. In meinem Buch habe ich ein eigenes Kapitel unter dem Titel „Das große Schweigen“ verfasst, in dem ich u.a. das häufige Wegsehen von Fachleuten bzgl. Kindheitsleid von historischen und politischen Persönlichkeiten besprochen habe. 
Dieses Wegsehen gilt übrigens auch für die für mich ergiebige Quelle "Völklein" (siehe oben). Immerhin hat er diverse Daten und Infos bzgl. der Kindheit von Mengele aufgeführt, die für mich hilfreich waren. Ganz und gar erstaunlich ist dagegen das Schlusswort des Biografen Ulrich Völklein (Historiker und Journalist) am Ende des Kapitels über die Kindheit und Jugend: „Josef Mengele erlebte zwar keine behütete und beschirmte Kindheit in der Geborgenheit seiner Familie, aber es war eine von wirtschaftlicher Not freie Jugendzeit in dem überschaubaren Beziehungsgeflecht einer kleinen Stadt in Schwaben. Nichts in seinen äußeren Lebensbedingungen kann als notwendige Voraussetzung seiner späteren Entwicklung gedeutet werden" (Völklein 1999, S. 52). 

Abschließend sei noch erwähnt, dass das Buch von Marwell für mich immerhin zwei neue Infos bzgl. der Kindheit von Josef Mengele gebracht hat. 

Josef scheint ein sehr kränkliches Kind gewesen zu sein und das hatte Folgen: 
Mengeles Schulakte zeigt, dass er seit dem Schuljahr 1927–28 eine Reihe von Infektionen wie Knochenmarkentzündung, Nierenentzündung und Blutvergiftung hatte und wegen dieser Krankheiten längere Zeit die Schule versäumte. Sie führten auch zu einem bleibenden Nierenschaden. Dies hinderte ihn daran, das Familienunternehmen zu übernehmen, was ihm als ältestem Sohn zugestanden hätte“ (Marwell 2021., S. 22). 

Außerdem scheint um die Geburt von Josef eine gewisse Aufregung in der Familie geherrscht zu haben. Denn das erste Kind der Familie war wenige Tage nach der Geburt gestorben (ebd., S. 19). Wie diese Tragödie die Familie geprägt hat, lässt sich nur erahnen. 

Kommen wir nochmals zurück zur Einleitung von Marwell: „Allen Berichten nach ließ wenig darauf schließen, dass Mengeles Zuhause einen Mann hervorbringen würde, der zum `Todesengel` werden sollte“, schreibt er. 

Wie ich auf Grundlage anderer Quellen (wie oben beschrieben) nachweisen konnte, war die Kindheit von Josef Mengele schwer belastet. Dies führt nicht automatisch dazu, dass jemand zum Täter und Massenmörder wird. Diese Kindheitserfahrungen bilden allerdings das Fundament für destruktives Agieren bzw. die belastenden Kindheitserfahrungen erklären, warum ein Mensch zum „Todesengel“ werden konnte. Die NS-Forschung legt sich selbst Steine in den Weg, wenn sie nicht endlich trauma-informiert wird! Vermutlich wird dies zukünftig - aus oben besagten Gründen - eher die jüngere Forschergeneration erfüllen.  


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