Jüngst haben diverse Frauen Vorwürfe gegen Till Lindemann von der Band Rammstein erhoben. Ich nahm dies zum Anlass, etwas über die Kindheit des Sängers zu recherchieren. Im Internet fand ich zunächst nicht viele Infos dazu.
Ich fand nur zwei wichtige Details: Till, der damals Leistungsschwimmer war, hat seine Kindheit weitgehend im Sportinternat in der DDR verbracht (Könnau, S. (2023, 30. Mai): Rammstein-Frontsänger: Was Vater Werner über seinen Sohn Till Lindemann schrieb. Mitteldeutsche Zeitung.).
Damit einher ging eine räumliche Trennung von der Familie, aber vermutlich auch der auf Leistung bezogene Erziehungsrahmen, den die damalige DDR Leistungs-Sportlern aufdrückte.
Seine Mutter Brigitte „Gitta“ Lindemann hat innerhalb eines Interview gesagt: „Wir waren ja nicht immer sehr glücklich als Familie, weil es waren ja alles Individualisten und jeder meinte sein Anspruch realisierten zu müssen“ (SWR2 Tandem (2013, 21. August): Irgendein Mike Oldfield neuerdings, ca. Minute 3:18).
Ich habe mir dann das Buch „Mike Oldfield im Schaukelstuhl. Notizen eines Vaters“ von Werner Lindemann (1988, Buchverlag Der Morgen, Berlin) besorgt. Der Vater von Till Lindemann berichtet darin über das Zusammenleben mit seinem Sohn, der als Neunzehnjähriger für eine kurze Zeit zu ihm aufs Land zog. Im Buch heißt sein Sohn „Timm“.
Dass mit „Timm“ Till gemeint ist, hat der Sänger in einem späteren Nachwort zum Buch selbst ausgesagt: „Ich fand überhaupt nicht gut, dass mein Vater das einfach veröffentlicht hat, ohne mich zu fragen. Alle wussten, dass ich der Timm im Buch bin. Das waren mir zu viele Einblicke in mein Leben“ (Süddeutsche Zeitung (2020, 13. März): Vater und Sohn).
In dem Buch fand ich ganz wesentliche Infos über die Kindheit von Till Lindemann. Sein Vater schreibt ganz zu Anfang statt einer Widmung: „Junge Bäume haben Mühe, hochzukommen im Schatten der alten“. Dieser Satz durchzieht auch das Buch, denn der Vater ringt stets mit sich, seinem Sohn und dem Vater-Sohn-Verhältnis. „Eine jähe Erkenntnis: Die Kluft zwischen Timm und mir ist breit und tief. Was weiß er über mich? – Was weiß ich über ihn? Der Junge hat in den vergangenen Jahren seltener an meinem Tisch gesessen, als der Vollmond am Himmel erschienen ist. In der Kinder- und Jugendsportschule war er beinahe jedes Wochenende gefordert: Schwimmtraining, Reisen, Wettkämpfe. Die gemeinsamen Tage in der Stadtwohnung könnte ich zählen; ich habe seit eh und je lieber hier draußen in unserem alten Bauernhaus zwischen den Weidenhügeln gesessen“ (Lindemann 1988, S. 10).
Manchmal gibt es intensivere Begegnungen zwischen Vater und Sohn. Manchmal verläuft es auch so: „Timm hat wohl wieder seine Dunkelkammerzeit. Schweigend verlässt er das Haus, ohne Worte betritt er es. Keine Fragen, keine Antworten. Ein gefühlloser Schatten“ (S. 62).
Der Vater scheint seinerseits auch sehr in sich zurückgezogen gewesen zu sein und wirkt melancholisch bis teils depressiv. An einer Stelle im Buch unterbricht er z.B. den Textfluss und schreibt einfach das Wort „Selbstmordeinsam“ dazwischen (S. 19).
Tills Vater wurde im Zweiten Weltkrieg schwer belastet und musste als Jugendlicher kämpfen. Aufschlussreich ist, dass er seine Erinnerungen an seinen Sohn ständig mit Erinnerungen aus seinem frühen Leben unterbricht, die er auch oft mit „Erinnerung“ betitelt, um sie vom Rest des Textes abzugrenzen. Oft sind diese Erinnerungen geprägt von Berichten über belastende Erfahrungen.
An einer Stelle erinnert er sich an das Jahr 1941, als er bei einem Großbauern in die Lehre ging. Der Bauer strafte ihn einmal mit einer Peitsche, weil er eingeschlafen war (S. 13). Auch erinnert er sich an konkrete Kriegserlebnisse, u.a. an verletzte Kameraden und der Gefahr, selbst getötet zu werden (S. 37f.). Auf der Flucht wird er von einem Panzer beschossen. „Mit jeder Granate fliegen zwei, drei Flüchtende in die Luft“ (S. 115). Oder er erinnert sich, wie ihn sowjetische Soldaten mit gezogener Pistole beklauen (S. 57f.). Dann ist er wieder im Hier und Jetzt mit Timm, um dann anzuschließen: „Aus dem Morgen, vom Dambecker See her, tief gestaffelt, ziehen Graugänse heran. Erinnerung überfällt mich: Flugzeuge – Sirenengeheul – pfeifende Bomben. Die grauen Keile – Wildgänse. Welch heiteres Geschwätz am Himmel“ (S. 58f.). Ich vermute allein auf Grund dieser Schilderungen bzgl. Flashbacks, dass Werner Lindemann an einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten hat. Dies kann auch Folgen für Angehörige und insbesondere Kinder haben (Stichwort: transgenerationales Trauma).
Manchmal besucht die Mutter aus der Stadt kommend Vater und Sohn. Einmal gibt es Streit und sie sagt zu ihrem Mann: „Der Junge ist so verrückt, weil wir uns zu wenig um ihn gekümmert haben“. Der Vater: „Wie kümmern, wenn er jahrelang von früh bis spät, sieben Tage in der Woche im Schwimmbecken liegt?“. Die Mutter: „Wir hätten öfter mitfahren sollen“ (S. 65).
Eine glückliche Familie scheint dies nicht gewesen zu sein, was ja auch die Mutter so ähnlich in dem Zitat oben ausgesagt hat.
Werner Lindemann berichtet auch kurz über das eigene Erziehungsverhalten seinem Sohn gegenüber: es war offenbar auch geprägt von Gewalt. Der Vater hatte seinem Sohn alte Gedicht gezeigt. In einem Gedicht geht es um Fehlverhalten (meterlang die Tapete bemalt) von „Timm“ (der rechtfertigt sich damit, dass dies Arbeit gewesen wäre) und am Ende fragt der Vater sich „Bin ich berechtigt, Arbeit zu bestrafen? Timm liest die Gedichte und sagt lächelnd: `Du hast mir oft den Arsch versohlt`“ (S. 22).
Dass der Vater zu Gewalt neigte, zeigt sich auch in einer weiteren Szene. Nach einem Streit mit seinem Sohn über Unordnung schreibt Werner: „Wo es an Argumenten fehlt, gebraucht man die Fäuste – ich hole aus, schlag zu. Timm wehrt sich. Ich stolpere, falle auf die Stufen des Hauseingangs. “ (S. 103).
Vater und Sohn sprechen danach eine Zeit nicht miteinander. Seine Frau macht ihm später Vorwürfe wegen des körperlichen Übergriffs. Und er hält ein weiteres Streitgespräch mit ihr fest: „Kein Wunder bei unseren Scheißfamilienverhältnissen.“ Der Vater reagiert. „Ihr hättet ja alle mit nach hier ziehen können“. Die Mutter: „Du hättest dich ja öfter in der Stadt sehen lassen können“ (S. 105).
Werner Lindemann und seine Frau sind noch ein Paar, leben aber wohl seit Jahren getrennt.
Bereits bei der Geburt von „Timm“ war das Paar offensichtlich räumlich getrennt. Er habe in dem Haus der Familie als Untermieter zwei eigene Zimmer gehabt, schreibt Werner. „Als Timm geboren wurde, lebte jeder für sich“ (S. 143).
Der Auszug seines Sohnes erfolgte heimlich und schweigend. Er ging einfach, ohne zu sagen wohin. Werner erfährt schließlich, wo sein Sohn jetzt wohnt und schließt sogleich damit, dass er in der Folge über eine Koppel läuft und die Umgebung auf sich wirken lässt. Er fügt direkt an: „Ein Augenblick, wo das Leben so vollendet scheint, dass ich sterben möchte“ (S. 186). Was für ein Ende für ein Buch über das eigene Vater-Sohn-Verhältnis...
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