Es wird Zeit für einen Zwischenbericht zur Entwicklung meiner Arbeit, aber auch über meine persönliche Entwicklung.
Ich erinnere mich heute zunächst zurück an das Jahr 2003. Damals war ich noch Student der Soziologie an der UNI Hamburg. Im Nebenfach Politologie hielt ich innerhalb eines Seminars über Kriegsursachen ein Referat über die Zusammenhänge zwischen destruktiven Kindheitserfahrungen und Krieg. Geleitet wurde das Seminar von einer Dozentin, die auch aktives Mitglied der Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) war.
Geprägt war ich zu der Zeit ganz wesentlich von dem ca. Anfang 2002 veröffentlichen Buch „Der Fremde in uns“ von Arno Gruen, aber auch von „Am Anfang war Erziehung“ von Alice Miller. Ergänzend konnte ich zwei Semester lang einer großen Vorlesungsreihe am UKE von Peter Riedesser (früherer Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Experten für Psychotraumatologie) über Kindheit folgen. Diese Vorlesungen, fast alle von Riedesser persönlich gehalten, haben mich damals schwer beeindruckt und auch bestätigt. Später fand ich einen eindrucksvollen Text (bzw. eine Rede) von Riedesser, aus dem ich auch heute noch oft zitiere.
Schon damals erkannte ich für mich die absolut wertvollen Aussagen von Gruen und Miller, die gesellschaftliche destruktive Prozesse auf einer tieferen Ebene analysierten. Schon damals sah ich aber auch, wie beiden Arbeiten empirisches Material und handfeste Daten fehlten, weil sie sehr psychoanalytisch ausgerichtet waren.
Meine damalige Hausarbeit (Titel: Der "Krieg" in den Kinderzimmern als Wurzel kriegerischer Gewalt) war ein erster Versuch, diese „Lücke“ zu schließen. Im Jahr 2003 war meine Herangehensweise provokant. Zudem musste ich auf die noch verhältnismäßig wenig Daten über das internationale Ausmaß von Gewalt gegen Kinder zurückgreifen (was heute ganz anders aussieht).
Ich werde nie das Gefühl vergessen, als der Tag der Besprechung meiner Hausarbeit anstand. Die Rahmenbedingungen entsprachen auf eine Art dem Thema. Das Gebäude, in dem der Termin mit der Dozentin stattfand, war von innen her ein fast klassisches „Behördengebäude“: Optisch kalte und karge Räume und Gänge, große und lange Flure. Ich weiß nicht warum, aber als ich das Gebäude betrat, war kein einziger Mensch zu sehen, auch auf meinem Weg nach oben zum Raum der Dozentin nicht. Es war fast etwas unwirklich und ich rechnete damit, hinter der Tür mit der mir aufgezeigten Raumnummer niemanden anzutreffen. Nun, da saß sie nun, meine Dozentin und wir begannen damit, meine Hausarbeit zu besprechen.
Mit Anfang 20 ist man noch nicht ganz reif und neigt auch zur Überschwänglichkeit. Ich betrat damals mit dem Gefühl diesen Raum, dass ich jetzt Meldung bei der „Feuerwehr“ abgeben werde. Die Dozentin repräsentierte für mich die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) und mir war bewusst, dass Kindheitserfahrungen in der sozialwissenschaftlich ausgerichteten Ausrichtung dieser Einrichtung kein Thema war. Ich kam mit dem Gefühl, den „Schlüssel“ zu übergeben, der dann weitergereicht werden sollte.
Nun, meine Erwartungen wurden enttäuscht. Auf den Inhalt ging die Dozentin kaum ein. Meinen Ausführungen lauschte sie zwar, gab aber am Ende bzgl. der Benotung den Kommentar, dass ich die einigermaßen gute Note vor allem auf Grund meiner Vielzahl an Quellenarbeit erhalten würde.
Diese Hausarbeit war mein Startpunkt bzgl. der Erforschung der politischen Folgen von Kindheit. Seit ca. 2001 hatte ich mich zuvor intensiv mit dem Gesamtthemenkomplex Kindesmisshandlung und den individuellen Folgen befasst. Damals betrieb ich auch eine Homepage über das Thema, die ich dann später einstellte. Nun betrat ich zunehmend den politischen Raum.
An der Tür der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) wurde ich nach meinem Empfinden abgewiesen. Später schickte ich noch – in meinem jungen Überschwang... - die überarbeitete und ausgeweitete Hausarbeit an diverse Mitglieder der AKUF. Reaktion bekam ich nur von einer einzigen Person, die im Jahr 2003 noch studentische Hilfskraft des oben besprochenen Seminars gewesen war und die meine Hausarbeit mit kontrolliert hatte. Wir verfielen in einen tagelangen Emailverkehr zu dem Thema. Im wesentliche kam heraus, dass das Thema Kindheitseinflüsse abgewehrt wurde.
Diese Abwehr des Themas blieb jahrelang mein beständiger Begleiter. Oder besser gesagt: Die Nicht-Reaktion auf Anschreiben, Aussagen, Gespräche und Blogbeiträge. Dies änderte sich erstmals im Jahr 2012, als mein Arbeitspapier „Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an: Plädoyer für einen offenen Blick auf die Kindheitsursprünge von Kriegen“ am Lehrstuhl Internationale Politik der Universität zu Köln veröffentlicht wurde. Prof. Dr. Thomas Jäger hatte nach einem kurzen Austausch mit mir Interesse für das Thema gezeigt und wollte dazu etwas von mir veröffentlichen.
Irgendwann in den Jahren danach kam ein Vertreter der Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie e. V. auf mich zu und regte eine Zusammenarbeit an. Daraus entstanden dann erste Beiträge von mir im „Jahrbuch für psychohistorische Forschung“. Im Jahr 2018 schrieb ich mein Buch und konnte es durch die Vermittlung von Dr. Ludwig Janus 2019 im Mattes-Verlag veröffentlichen. Das Buch hat mir in der Folge viele Türen geöffnet. Es entstanden weitere einzelne Fachbeiträge von mir und seit dem Jahr 2021 wurde ich ergänzend zu einigen Fachvorträgen u.a. auch von renommierten Akteuren wie „Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin“, „Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin“ oder dem „Deutschen Präventionstag“ eingeladen.
Beim Deutschen Präventionstag (dem größten europäischen Kongress zur Kriminalprävention) ist ergänzend auch ein großer Text von mir erschienen. Mehr fachlichen „Feueralarm“ kann ich im Grunde fast nicht mehr auslösen :-), was mich emotional enorm entlastet.
Nebenbei verbreitete sich mein Buch immer weiter in Fachkreisen (mit so einigen Fachleuten hatte ich auch persönlich Kontakt und Austausch) und ist mittlerweile auch in so manchen Büchern zitiert worden. Auch renommierte Kriminologen wie Christian Pfeiffer und Dirk Baier haben mein Buch gelesen und darauf verwiesen (wobei Pfeiffer mein Buch als „wichtiges Buch“ bezeichnet hat, während Baier es halb würdigte und halb kritisierte).
Warum schreibe ich dies alles?
Es ist zum einen ein großer Rückblick auf die vergangenen über 20 Jahre. Was aber viel wesentlicher ist, ist das ganz private und persönliche Gefühl von mir, das mit dieser Entwicklung einhergeht. Die beständige Bestätigung der Bedeutsamkeit meiner Erkenntnisse und auch die Anerkennung dieser Arbeit, dabei vor allem auch die Anerkennung, dass diese einen hohen Wahrheitsgehalt hat, haben mich nervlich wirklich extrem beruhigt. Ich fühle mich nicht länger als jemand, der einen Brand sieht, überall anruft und man lässt es halt brennen. Klar, auf gesellschaftlicher Ebene fehlt weiterhin viel an Bewusstsein. Dass die genannten Fachkreise meine Arbeit gesehen haben, gibt mir aber einfach ein gutes und auch beruhigendes Gefühl.
Die Kehrseite des Ganzen: Meine Motivation ist etwas abgeflaut. Oder anders gesagt: Es „brennt“ auch weniger in mir, das „Feuer“ wurde quasi auch innerlich etwas gelöscht, was ich persönlich sehr gute finde. Nach den Coranajahren und dem für mich, als unternehmerisch tätigen Menschen, schwierigem Wirtschaftskrisen-Jahr 2022 (ausgelöst durch den Ukraine-Krieg, der wiederum viel mit Kindheit in Russland zu tun hat; ich als Unternehmer also quasi – meinen psychohistorischen Erkenntnissen nach - auch ein Stück weit an den Folgen von Kindheit in anderen Ländern zu leiden hatte...) steht zudem auch die Frage im Raum: Wie viel Zeit möchte ich dem Thema noch zugestehen? Die Zeit, die ich dem Thema widme, ist - außer bzgl. dem Buch - unbezahlt und ehrenamtlich. Meine Antwort ist, dass ich deutlich weniger Zeit in das Thema stecken werde.
Das hat auch etwas damit zu tun, dass ich im Grunde kaum noch Entdeckerarbeit sehe. Alle für mich wesentliche Bereiche habe ich ergründet und bearbeitet. Wesentliche neue Infos und Erkenntnisse verbreite ich meist über Twitter, weil dies einfach viel schneller zu machen ist, als über einen Blogbeitrag und die Reichweite auch größer ist. Blogbeiträge kommen sicher noch, aber nicht mehr so häufig.
Für meinen Blog sehe ich drei wesentliche Aufgaben vor mir:
1. Es muss dringend ein ausführlicher neuer und großer Beitrag über die Adverse Childhood Experiences Studien her. In Fachtexten, in meinen Vorträgen und innerhalb meines Twitter-Accounts ist die ACEs Forschung zentral. Im Blog habe ich das Thema dagegen bisher vernachlässigt.
2. Nachdem die geplante Übersetzung meines Buchs ins Englische vorerst gescheitert ist, plane ich die Übersetzung zumindest eines großen Textes ins Englische. Das Thema ist viel zu wichtig, als dass ich meine Erkenntnisse nur im deutschsprachigen Raum verbreite.
3. Immer noch plane ich den Umzug des Blogs. Eine entsprechende Domain habe ich bereits reserviert. Der Blog soll optisch ansprechender und frischer werden. Viele Texte müssen zudem überarbeitet werden. Das wird sehr viel Zeit kosten und ist für mich nur Stück für Stück machbar (vermutlich innerhalb der nächsten drei Jahre). Am Ende soll dann quasi ein verschlankter Blog mit den zentralsten Beiträgen stehen, die dann für die „Ewigkeit“ im Netz allen zur Verfügung gestellt werden. Vermutlich werde ich auch einiges aus meinem Buch online stellen bzw. zusammenfassen.
Und dann ist auch irgendwann auch mal gut. Immer wieder werde ich natürlich interessiert neue Infos sichten. Aber ich bin jetzt 46 Jahre alt und plane nicht, dass Thema derart intensiv bis ins Rentenalter zu bearbeiten. Letztendlich hängt es ja auch nicht mehr am Informationsstatus, sondern an dem Vermögen und Willen, die Dinge wahrzunehmen. Dafür braucht die Gesellschaft – die gesellschaftliche „Psyche“ - einfach ihre Zeit. Meine Texte werden diesen Prozess nicht beschleunigen, sondern nur ankitzeln. Es steht und fällt mit der Evolution von Kindheit (Verbesserung von Kindheitsbedingungen) und von persönlicher, wie auch kollektiver Aufarbeitung von erlebten Traumatisierungen. Dieser Prozess ist im Gang und er ist auch nicht zu stoppen. Evolution muss immer sehr langfristig gedacht werden. So ist es nun einmal in der Welt.
Das lustige ist, dass sich, trotz der vielen gezeigten Entwicklungen, meine Grundaussagen seit dem Jahr 2003 im Grunde nie geändert haben. Damals zweifelte ich etwas an mir selbst, weil die Feedbacks so still, ausweichend oder kritisch waren. Durch meine vielen Datensammlungen habe ich diese Selbstzweifel längst überwunden. Im Kern bleibt die Grundaussage, dass eine friedlichere Kindheit eine friedlichere Gesellschaft/Welt zur Folge hat. Und natürlich gelten weiterhin die Sätze: "Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an!" und "Die Kindheit ist politisch!"
Für mich persönlich hat sich durch mein angearbeitetes "trauma-informiert-sein" allerdings der Blick auf meine Familiengeschichte, meine Verwandten, mein Umfeld, meine Alltagsbegegnungen und bzgl. dem täglichen Wahnsinn der Berichterstattungen über Geschehnisse in der Welt verändert. Viele Dinge sind für mich erklärbarer geworden. Privat sowie beruflich ist dies manches Mal auch nützlich für mich, weil man Warnzeichen bzgl. anderer Menschen und ggf. sich anbahnenden "dunklen Wolken" früher erkennt.
Insgesamt bedauere ich etwas, dass ich schon mit Anfang 20 ein Stück weit Leichtigkeit im Leben verloren habe. Zu wissen, wie die Welt heute mit Kindern umgeht und wie unsere Vorfahren sogar noch weit schlimmer mit Kindern umgegangen sind, das hinterlässt auch Spuren. Realitäten auszublenden, kommt aber nicht für mich in Frage. Denn dies würde in der Folge auch bedeuten, Präventionsmöglichkeiten auszublenden.
2 Kommentare:
Vielen Dank für diese wirklich wichtige Pionierarbeit! Und die Frage: Bezieht sich der Buchtitel "Die Kindheit ist politisch!" auf den früheren Slogan "Das Private ist politisch"?
LG Andreas
"Das Private ist politisch" war in der Tat der Bezug :-)
Bzgl. meines Titels gibt es aber 2 Richtungen:
1. Der Titel betont die enormen Folgen von Kindheit
2. Wenn Kindheit Folgen hat, dann kann auch "privat", also im und durch Umgang mit Kindern, politisch/gesellschaftlich die Welt verändert werden.
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