Kaum ein Buch hat mich derart erschüttert und gleichzeitig
so deutlich in meiner Sicht bestätigt wie „Base Instincts. What Makes Killers Kill?“ von dem
Neurologen Jonathan H. Pincus (2001). Selbiger hat jahrelang Mörder, Serienmörder und
Massenmörder in diversen amerikanischen Hochsicherheits-Gefängnissen befragt
und begutachtet. Ein Satz
bringt die wesentliche Gemeinsamkeit auf den Punkt, die er bei fast allen
nachweisen konnte: „It has been amazing to discover that the quality and the
amount of „discipline“ these individuals have experienced are more like that of
a prisoner in a concentration camp than a child at home.“ (S. 27) Die
untersuchten Mörder erlebten nicht nur einfach Gewalt, sondern extreme Formen
und diese häufig und langjährig. In seinem Buch schilderte er einige
Einzelfälle ausführlich und es wird einem wirklich schlecht, wenn man von
diesen Kindheiten und der unfassbaren erlebten Gewalt oder eher Folter ließt.
Der Autor ergänzt, dass das Neue dabei
ist, wie sich das Gehirn auf Grund von Misshandlungen verändern und Schaden
nehmen kann. Seine Grundthese ist, dass Mörder als Kind misshandelt wurden, bei
ihnen Gehirnschädigungen nachweisbar sind und paranoides Denken. Nur diese drei
Faktoren zusammen führen u.U. zur Gewalt und zu Mord, was er in seinem Buch an Hand von Fallbeispielen nachweist. Er sagt aber auch, dass nicht alle schwer misshandelten Kinder zu Mördern werden.
Häufigen und langjährigen körperlichen und sexuellen Missbrauch
durch Elternteile oder Elternfiguren fand Pincus bei den meisten ca.
150 Mördern, die er während seiner
langjährigen Arbeit befragt und begutachtet hat. (vgl. S. 67) Er zitiert dabei auch
eine seiner Studien, die einen fünf Jahres Zeitraum umfasste und
nachwies, dass 94 % der untersuchten Mörder nachweisbar schwer als Kind
misshandelt wurden. (Anmerkung: Schwere
diverse Misshandlungen in unterschiedlichen Formen erleben dagegen nur verhältnismäßig
wenige Menschen. Eine
deutsche repräsentative Studie wies z.B. nach, dass 1,4 %
der Befragten drei, 0,8 % vier und 0,1 % fünf schwere Formen
des Missbrauchs
bzw. der Misshandlung erlebt
haben. Wenn ich den Fallbeispielen im Buch folge, gehören die meisten Mörder
wohl eher zu dieser Kategorie, mit einer Tendenz in Richtung fünf erlebter
unterschiedlicher Misshandlungsformen.)
Bei den vielen Fallbeispielen im Buch fiel mir neben der Schwere der Gewalt auch immer wieder folgendes auf: Oft ging die Gewalt nicht nur von einer Person aus, sondern von mehreren (z.B. beide Eltern, zusätzlich andere Verwandte oder Geschwister, Pflegeeltern, in einem Fall auch Nachbarn, denen erlaubt wurde, das Kind in Abwesenheit der Mutter körperlich zu bestrafen). Sofern ein Elternteil (i.d.R. die Mutter) nicht offen körperlich gewalttätig war, stand dieser den Gewalttaten duldend und nicht-helfend (ohnmächtig oder zustimmend?) gegenüber. Die besondere Schwere der Gewalt (der Sadismus und die Folter), der diese Mörder ausgesetzt waren, ist hier nicht wiederzugeben, da man jeden einzelnen Fall in seiner ganzen Realität ausbreiten müsste, so wie dies Pincus in seinem Buch teils getan hat. Unten gehe ich kurz auf zwei Fälle ein. Vorher möchte ich auf den Fall "Whitney" hinweisen. Pincus hat die erfahrene Gewalt, die dieser Mörder als Kind erlitten hat, quantitativ an Hand der Gespräche erfasst. Der Vater pflegte den Jungen innerhalb eines festen Rituals körperlich zu bestrafen. Der Junge wurde so positioniert, dass er sich nicht bewegen oder wehren konnte. Der Junge durfte auch nicht weinen oder sich ansatzweise sträuben, ansonsten riskierte er noch mehr Schläge. Er wurde auch gezwungen, seinen Kopf in einem Kissen zu vergraben und seinen Vater bei der Ausübung der Prügel nicht zu beobachten. (Da eine Schwester berichtet hat, dass sie ihren Vater nach einer Prügelorgie draußen hat masturbieren sehen, könnte dies auch während dieser Prügel geschehen sein und der Grund dafür, warum der Junge sich nicht umdrehen durfte) Mit einem Gürtel schlug der Vater dann ca. 10 bis 20 mal auf diverse Körperstellen. Diese Prügel konnten einige Minuten andauern. In dieser Form fand die Gewalt zwei bis drei mal die Woche statt, das ganze über 10 Jahre lang, ab dem Alter von 5 Jahren bis "Withney" 15 wurde. (vgl. S. 144) Ich habe einmal nachgerechnet. Dieser Junge bekam pro Woche den Angaben folgend im Minimum ca. 20, im Maximum ca. 60 sadistische Schläge; im Min. 80 und im Max. 240 pro Monat; im Min. 9.600 und im Max. 28.800 innerhalb von 10 Jahren (sprich 120 Monaten)! Und dies sind nur die Angaben bzgl. der ritualisierten (nicht außerordentlichen) körperlichen Gewalt und auch nur die des Vaters. Denn "Whitney" wurde auch von seiner Mutter misshandelt, die sich dafür eine Art Peitsche gebastelt hatte. Außerdem kam auch sexueller Missbrauch in dieser Familie vor. .
Eines fand ich auch besonders aufschlussreich. Pincus
berichtet, dass von allen Gewalttätern und Mördern, die er befragt hat,
zunächst zwei Drittel sagten, dass sie keine Kindesmisshandlung erlebt hätten.
(vgl. S. 159) Wenn er diese Fälle nicht weiter untersucht hätte, so Pincus,
wäre er wohl nicht darauf gekommen, dass Misshandlungserfahrungen besonders
weit unter Gewalttätern verbreitet sind. Er erklärt sich die ersten Antworten
der Befragten damit, dass viele sich nicht an die erlebte Gewalt erinnern können (oder wollen) und zusätzlich
auch weiterhin Angst haben, darüber zu sprechen.
Pincus beschreibt auch ausführlich den Fall eines Mörders – mit Namen Ray -,
der selbst sagte, er sei nicht misshandelt worden. (vgl. S. 106ff) Ray ging
konform mit der „harmonischen“ Geschichte, die seine Mutter, sein Bruder und
sein Stiefvater seinem Anwalt erzählt hatten. Sein Vater – Jack – wurde als
„guter Mann“ , „guter Ehemann“ und „guter Vater“ beschrieben, der besonders gut
zu seinem Sohn Ray war. Dieser tolle Mann verstarb früh an Leukämie. Und sein
Sohn hätte dies wohl nicht gut vertragen und sei daraufhin zum Alkohol gekommen
und zum Mörder geworden. Während Ray dies Pincus erzählte, wirkte er wenig
glaubhaft auf ihn.
Pincus führte daraufhin ausführliche Gespräche mit Familienmitgliedern und
stieß auf die wahre Geschichte. Rays Vater war ein Alkoholiker (und ehemaliger
Soldat), der seine Frau und Kinder schlug, dies immer heftiger und häufiger, je
mehr er dem Alkohol verfiel. Die Konflikte zwischen den Eltern eskalierten
immer mehr und das Leben der Mutter wurde sogar ernsthaft bedroht.
Rays Vater schlug ihn u.a. mit Stöcken, Gürteln, Schnallen, einer Gitarre und
einem Gewehrrohr. Manchmal nahm der Vater seinen Sohn einfach mit auf lange
Reisen, um sich an seiner Frau zu rächen und drohte ihn zu seiner Großmutter in einen anderen
US-Staat abzuschieben. Auch während dieser Reisen wurde der Sohn mit einer
Peitsche misshandelt (bis er blutete), die der Vater extra für diesen Zweck im
Auto aufbewahrt hatte. Als Rays Mutter einmal auf so einer Reise dabei war,
goss sie Alkohol auf die Wunden ihres Sohnes, angeblich um ihm zu helfen. Als
Ray nach diesem Vorfall gefragt wurde, ob dies nicht Schmerzen verursacht
hatte, rollte er mit den Augen und sagte: „Gott, hab erbarmen!“. Auf Rays
Rücken fand Pincus diverse Narben, die von den Misshandlungen stammten. Im
Alter von zwölf Jahren gab es wieder einen handfesten Streit zwischen seinen
Eltern. Ray schrie seinen Vater an: „Warum stirbst Du nicht?“Eine Woche später
starb der Vater an Leukämie und Ray fühlte sich dafür schuldig. Soviel zu dem
„tollen Vater“ und der „harmonischen Kindheit“ dieses Mörders...
Ich erinnere mich an dieser Stelle, dass nach Amokläufen routinemäßig
in den Medien das behütende, durchschnittliche bürgerliche Elternhaus des
Täters beschworen wird und die Unerklärlichkeit der Tat. Die Tatsache, dass
zwei Drittel der befragten Mörder zunächst abstritten, misshandelt worden zu
sein, Pincus aber bei fast allen eine schwere Misshandlungsgeschichte fand,
sollte nachdenklich machen, vor allem auch die JournalistInnen, die über solche
Mörder berichten.
Besonders interessant fand ich das Kapitel „Hitler and
Hatred“ (ab Seite 178) im Buch. Pincus verknüpft seine Erkenntnisse darin mit
möglichen politischen Prozessen, wie sie in NAZI-Deutschland stattfanden. Er
bezieht sich auf den Historiker Goldhagen, der davon ausgeht, dass mehr als
500.000 Deutsche während dieser Zeit aktive Täter und Mörder waren. Pincus
vermutet, dass diese Mörder in ganz besonders hasserfüllten und misshandelnden
Familien aufgewachsen sind.
Er behandelt in diesem Kapitel auch den Fall des Mörders „Trent“.
Trents Eltern waren misshandelnde Alkoholiker und er wurde im Altern von drei Jahren
per Gerichtsbeschluss zusammen mit
seinem Bruder aus der Familie genommen und zu einem Onkel gebracht. Auslöser
für diesen Weg war eine Situation, in der Trents Vater ein Messer über einer
Flamme heiß machte und damit zur Strafe Trent verbrannte. Der Onkel, zu dem
Trent kam, war allerdings ebenfalls Alkoholiker, der Trent und seinen Bruder
regelmäßig schwer verprügelte, dabei u.a. einen Gürtel, Fäuste oder andere Instrumente
verwendete. Einmal, als der Onkel total die Kontrolle verlor, trat er Trent so
heftig auf den Kopf, dass Pincus bei seiner Begutachtung des Erwachsenen immer
noch die Narbe deutlich vorfand. Der
Onkel dachte sich auch andere Grausamkeiten aus, z.B. musste Trent nackt in der
Ecke stehen und durfte sich nicht herum drehen, sonst wurde er mit einem Gürtel
verprügelt. Da er sich nicht herumdrehen durfte, sah er auch nicht, wann sein
Onkel kam, um ihn zu kontrollieren. Schläge kamen dann quasi aus dem Nichts
über ihn. Diese Folter konnte über Stunden andauern. Der Onkel zwang beide
Brüder auch dazu, quasi in einer Art Gladiatorenkampf zu seiner Unterhaltung gegeneinander
anzutreten. Zusätzlich missbrauchte er die Jungen sexuell, zwang sie zu Oral-
und Analsex, bei Trent bereits ab dem Alter von vier Jahren. Trents Tante unternahm
nichts gegen all dies und war ebenfalls Opfer von Schlägen durch ihren Mann.
Einmal wollte der Onkel zur Strafe die Finger einer Hand von Trent mit einem
Beil abtrennen und verfehlte diese, traf aber noch einen Finger, so dass Trent
von seiner Tante ins Krankhaus gebracht werden musste. Dadurch kamen die
Misshandlungen heraus und die Brüder kamen zunächst in eine Pflegefamilie; danach wurde Trent in diversen
Einrichtungen untergebracht. .Auch in einigen Pflegefamilien wurde Trent erneut
schwer verprügelt und sexuell missbraucht.
Das Unfassbare: Sein Onkel holte Trent für manche Wochenenden oder auch Urlaube
aus den Pflegefamilien. Erneut wurde er sexuell missbraucht und sogar dazu
gezwungen, bei der Vergewaltigung seiner Tante mitzuwirken. Der Onkel redete
Trent dann ein, dass ihm all die Gewalt widerfahren sei, weil seine Tante nicht
die sexuellen Dinge mit dem Onkel getan hatte, die dieser sich gewünscht hatte.
Trent entwickelte daraufhin einen enormen Hass auf diese Tante und auf Frauen
allgemein.
Diese Tante missbrauchte den Jungen ebenfalls sexuell, veranstaltete regelmäßig „Badetage“,
ließ sich von ihm "waschen" und „wusch“ ihn. Bereits im Alter von 17 Jahren kam
Trent ins Gefängnis, nachdem er erneut eine Lehrerin schwer angegriffen
hatte (vorher hatte er eine andere Lehrerin fast vergewaltigt). Dort vergewaltigte er eine weibliche Wärterin. Später brachte er ohne
Skrupel "einfach so" einen Mithäftling um.
Was wäre, fragt sich Pincus, wenn jemand wie Trent einen
politischen Führer – so wie Hitler - hätte sagen hören: „Die Frauen
sind unser Unglück“, „Die Juden sind unser Unglück“?
Was wäre, wenn so jemand gehört hätte, dass
die Juden für Pornographie verantwortlich sind, für Unmoral, dass sie
Krankheiten übertragen, dass sie schwach sind und keine Menschen, so wie Hitler
es tat? So eine Nachricht wäre bei Jemandem wie Trent sehr willkommen gewesen,
so Pincus, genau wie diese Nachricht bei vielen Deutschen willkommen geheißen
wurde. Er fragt sich weiter, was gewesen wäre, wenn jemand wie Trent Anführer
in einem Lager geworden wäre, mit dem Auftrag, Frauen und Homosexuelle zu töten.
Pincus schreibt, dass er zu wenig Daten
hat, glaubt aber auf Grund seiner Arbeit mit unzähligen Mördern, dass Trent und
Hitler sehr viel gemeinsam haben. Und er hat Recht damit, wenn man um die
Kindheit von Hitler (auf diese geht Pincus auch kurz ein) weiß oder auch um die
Kindheit der meisten Deutschen, die vor allem Lloyd deMause beschrieben hat.
Am Ende des Kapitels schreibt der Autor, dass die beste
Prävention von Gewalt und Terror Kinderschutzprogramme sind. Und wie Recht er
damit hat!
Studien wie diese machen den Blick frei auf das Wesentliche.
Abgründe tun sich auf. Man muss aber dort hineinschauen, um zu verstehen, wie
Menschen zu grausamen Mördern werden können. Und man wird daraufhin auch den
von mir oft formulierten Satz ableiten können: