Frankreich plant derzeit oder liefert bereits (zusammen mit Großbritannien und den USA) Waffen an die syrischen „Rebellen“. Carsten Luther hat für die ZEIT sehr schön argumentiert, wie sinnlos ein solches Vorhaben ist. Mehr noch: Wie viele Risiken es birgt. Und im Grunde muss man auch kein Experte sein, um zu verstehen, dass Waffen nur noch mehr Tote bringen und dass die feindlichen Lager in Syrien nicht in die „Bösen dort“ und die „Guten“ hier zu unterteilen sind, sondern die Dinge und der Wahnsinn dort komplexer sind. Hat sich der Präsident Frankreichs eigentlich einmal Fotos von den Rebellen angeschaut? Es reichen da 5-6 Bilder und man würde sehr schnell merken: Denen gebe ich lieber nicht noch mehr Waffen. Der Waffenlieferungsplan erscheint mir derart unlogisch, dass emotionale Beweggründe hier eine Rolle spielen müssen.
Frankreich fiel vor nicht all zu langer Zeit auch durch seine Kriegslust im Libyen-Konflikt auf. Man wollte Gaddafi unbedingt wegbomben bzw. ihn „Staub fressen lassen“, wie Nicolas Sarkozy es formulierte. (Über die möglichen destruktiven Folgen des Einsatzes, die sich heute immer mehr abzeichnen, dachte wohl keiner nach)
Ach ja, der NATO Einsatz in Libyen befeuerte nach Medienangaben in der Folge die kriegerischen Auseinandersetzungen im Norden Malis. „Die nomadisch lebenden Tuareg, von denen viele in den neunziger Jahren bei Gaddafi als Söldner angeheuert hatten, kehrten nach dessen Sturz 2011 mit den Waffen des Diktators ausgerüstet in ihre Heimatländer zurück. Eines davon ist Mali. Anders als in den Nachbarländern, sind die Tuareg hier nicht entwaffnet worden. So liefen viele der Milizionäre mit starker Ausrüstung zu den Islamisten über.“, schreibt die ZEIT. Und Frankreich reagierte wiederum mit Militärgewalt und marschierte mit seinen Truppen im Norden Malis ein.
Im aktuellen „World Peace Index“ belegt Frankreich entsprechend Platz 53 von 162 Ländern, eine nicht wirklich vorzeigbare Platzierung für ein westeuropäisches Land.
Wer es „verdient“, wer als „böse“ geortet wird, der wird militärisch bestraft, so erscheint mir aktuell die Außenpolitik Frankreichs. Aber auch nach dem Ersten Weltkrieg war Frankreich in einige Kriege und militärische Auseinandersetzungen verwickelt. Der größte und verlustreichste Krieg (auch mit den meisten Kriegsverbrechen) war der in Algerien, der bis 1962 andauerte.
Ich bin kein Frankreich-Kenner. Welche weiteren politischen Probleme das Land durchmacht und durchgemacht hat, habe ich nicht wirklich verfolgt (was ich wahrgenommen habe ist, dass so manche Stadtbezirke in Frankreich sich in Ghettos verwandelt haben und dass Frankreich wohl ein deutliches Problem mit Schülergewalt gegen andere Schüler und auch Lehrkräfte hat. Zudem passt Frankreichs berühmter Zentralismus gut zur verbreiteten Kindererziehungspraxis: Die zentrale Autorität bestimmt, wo es lang geht, ohne Widerspruch zu dulden). Wahrscheinlich würde sich hier bei einer genauen Analyse einiges finden lassen, dass legen zumindest Zahlen über die weite Verbreitung von Elterngewalt gegen Kinder nahe, denn diese hat Folgen.
Frankreich weist im (west/nord-)europäischen Vergleich die höchsten Gewaltraten gegen Kinder innerhalb der Familie auf und führt fast durchweg auch bei den schwereren Gewaltformen die Rangliste an. Ausgesuchte Zahlen (Befragung von 1000 französischen Eltern im Jahr 2007): 87,2 % schlagen ihre Kinder auf den Po, 50,5 % verabreichen eine Tracht Prügel (schwerere Gewalt) auf die selbe Stelle, 71,5 % schlagen leicht ins Gesicht, 32,3 % wenden schallende Ohrfeigen an, 4,5 % schlagen mit Gegenständen und 11,6 % misshandeln ihre Kinder schwer. (Bussmann, K.-D., Erthal, C., & Schroth, A. (2009). The Effect of Banning Corporal Punishment in Europe: A Five-Nation Comparison. Halle-Wittenberg: Martin-Luther-Universität. S. 6) Auch nach einer im SPIEGEL zitierten Umfrage der "Organisation des Familles en Europe" gaben 87 Prozent der französischen Eltern an, eine Tracht Prügel gehöre zu ihren Praktiken. Und 53 Prozent sprachen sich gegen ein Prügelverbot aus.
Wer zudem etwas über Frankreichs Krippensystem recherchiert, wird herausfinden, dass dort sehr viele Eltern kein Problem damit haben, wenige Monate alte Säuglinge einige Stunden fremd unterzubringen. Auch dies wird Folgen haben.
Laut Europarat gibt es in Frankreich auch kein ausdrückliches Verbot der körperlichen Bestrafung in Einrichtungen für Kinder. Ob und in wie weit Kinder in schulischen Einrichtungen durch Lehrkräfte geschlagen werden, ist mir nicht bekannt.
Auch Tagesmütter und Babysitter haben in Frankreich - neben den Eltern - das Recht, Kinder körperlich zu züchtigen (wie es so "schön" heißt). Dies steht u.a. in einer Klageschrift der „Association for the Protection of All Children“, die seit Februar 2013 vor dem „European Committee of Social Rights“ Frankreich auf Grund des unzureichenden Schutzes von französischen Kinder vor Gewalt verklagt (und damit hoffentlich Erfolg hat). Außerdem wurden in der Klageschrift Zahlen genannt, die ich hier bereits vorgestellt habe.
Über Frankreichs führende politischen Köpfe habe ich im Internet nicht all zu viel finden können. Aber vielleicht sind folgende Infos doch etwas erhellend:
„Es gibt ein Kapitel, über das Hollande wenig spricht: seine Kindheit.“, schreibt der SPIEGEL in einem Artikel. „1954 in Rouen geboren, litt er laut seinem Biografen Serge Raffy unter seinem autoritären Vater, einem Arzt, der sich bei Lokalwahlen für rechtsextreme Listen aufstellen ließ und vor dem er sich ducken musste. Sein Lächeln, seine Witze hätten ihm schon damals geholfen, Konflikten aus dem Weg zu gehen, sagt Raffy.“
Der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy scheint ebenfalls eine belastete Kindheit gehabt zu haben.
„ (…) der Vater sollte sich als Lebemann erweisen, der die Mutter sitzenließ und sich nur sporadisch für die Söhne interessierte. Die Scheidung wurde vollzogen, als Nicolas fünf Jahre alt war. Seine Kindheit sei keine "wirklich glückliche Zeit" gewesen, sagte Sarkozy einmal zum Entsetzen seiner Mutter.“ (FAZ, 15.09.2004)
Der Vater diente außerdem als Fremdenlegionär für Frankreich, wie der SPIEGELberichtet. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein so militärisch getrimmter Mensch (der als Söldner arbeitete) nicht wirklich herzlich und emotional zu Kindern sein konnte.
Erwähnt werden muss auch noch Dominique Strauss-Kahn, der mit hoher Wahrscheinlichkeit die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewonnen hätte. Diverse bewiesene und nicht-bewiesene Vorwürfe gegen ihn zeigen ein Bild von meinem Mann, der alles andere als empathisch und rücksichtsvoll ist und der vor allem ein sehr gestörtes Verhältnis Frauen gegenüber zu haben scheint. Über seine Kindheit habe ich nichts gefunden, die Vermutung liegt aber nahe, dass es in dieser auch einige weite Schatten gab.
Abschließend noch der Hinweis, dass die o.g. Studie von Bussmann auch einen stetigen Rückgang der Gewalt gegen Kinder in Frankreich nachwies. In der Studie wurden außerdem nicht die Häufigkeit des Gewalthandelns und die direkten körperlichen Folgen erfasst. Ich vermute stark, dass sich hier starke Unterschiede im Vergleich zu z.B. afrikanischen oder arabischen Ländern finden lassen, in denen ebenfalls häufig um die 90 % der Kinder körperliche Gewalt erleben, dies aber auch häufiger und schwerwiegender.
Mittwoch, 26. Juni 2013
Freitag, 14. Juni 2013
Warum Männer gewalttätiger sind als Frauen
(aktualisiert am 28.04.2017)
Ich muss gleich zu Beginn den Titel korrigieren. Die Frage muss im Grunde lauten:
Warum sind Männer, die als Kind Gewalt-/Vernachlässigung- und Ohnmachtserfahrungen gemacht haben, gewalttätiger als Frauen, die als Kind Gewalt erfahren haben?
Meine Grundthese ist bekanntlich, dass Menschen, die Gewalt (wobei ich hier mit „Gewalt“ immer einigermaßen erhebliche Formen sowohl psychischer als auch körperlicher Art und auch die nicht seltene Anwendung meine und Selbstverteidigung auf Grund einer persönlichen Notsituation natürlich auch ausschließe; vor allem zu Letzterer ist jeder Mensch grundsätzlich fähig, da wir von Natur aus das lebenswichtige Potential haben, auf direkte Angriffe mit Aggressionen zu reagieren.) anwenden, in ihrer Kindheit irgendeine Form (oder auch mehrere) von Gewalt – meist durch Eltern und Elternfiguren – erlebt haben müssen bzw., dass wirklich geliebte Kinder emotional nicht dazu in der Lage sind, anderen Menschen gezielt Gewalt anzutun (außer im Fall der akuten Selbstverteidigung), einfach, weil sie im vollen Besitz ihrer Gefühle sind und ihr Mitgefühl nicht abspalten/ausschalten können.
Dies ist genau der Ansatz, der in den meisten feministischen Ansätzen oder auch allgemein in der Geschlechterforschung meist gar nicht mit einbezogen wird. Die Gewalt, die Männer in Kindheit und Jugend erlebt haben, wird stattdessen hinter Begriffen wie „Männliche Sozialisation“ versteckt, anstatt diese offen beim Namen zu nennen. Belastende Erfahrungen im Elternhaus werden dabei meist ausgeblendet oder hinter Sätzen versteckt wie z.B. „Jungen bekommen weniger Zuwendung, wenn sie Hilfe/Trost/Fürsorge brauchen bzw. danach verlangen, weil Jungen stark sein und ihre Probleme und Bedürfnisse selbst regeln sollen.“ Letzteres ist, um es beim Namen zu nennen, eine Form von Kindesvernachlässigung mit Tendenzen in Richtung psychische Gewalt, je nachdem wie auf Bedürfnisse von Jungen reagiert wird. Die Beispiele ließen sich fortführen.
Typische Themen der Geschlechterforschung sind Wettbewerb zwischen Jungen und Konkurrenzdenken, (mediale) Männlichkeitsbilder/Vorbilder, Peergroupsozialisation, militärische Sozialisation, öffentlicher männlich dominierter Raum, Abgrenzungsrituale vom „Weiblichen“, patriarchale Machtstrukturen, Dominanzkultur usw. usf. Wörter wie „sexueller Missbrauch“, „Kindesvernachlässigung“ und „Kindesmisshandlung“ findet mann dagegen seltener in entsprechenden Texten, die meist sozialwissenschaftlich orientiert sind.
Männer sind faktisch das gewalttätigere Geschlecht, das gilt mittlerweile als Allgemeinwissen. Zwei wesentliche Fakten werden allerdings in der Geschlechterforschung und in der Öffentlichkeit oft übersehen: „Weniger bekannt hingegen ist, dass sich die mehrheitlich von Männern ausgeübte Gewalt auch überwiegend gegen Männer selbst richtet. Mit der Ausnahme von Sexualstraftaten sind Männer als Opfer bei allen Delikten in der Überzahl. Bei Mord und Totschlag, Raub und insbesondere bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung überwiegen männliche Opfer." (Hans-Joachim Lenz, 17.12.2004,“Männer als Opfer von Gewalt“) Beispielsweise zeigte eine große Studie, dass im Jahr 2008, zwar über 85 % aller Morde durch Männer verübt wurden, aber auch weltweit 82 % aller Mordopfer männlich waren. (United Nations Office on Drugs and Crime (2011): 2011 - Global Study On Homicide. Vienna. S. 63)
Auch innerhalb von Dunkelfeld-Befragungen lassen sich diese Unterschiede feststellen. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) hat innerhalb einer repräsentativen Schülerbefragung (insgesamt 44.610 Befragte) festgehalten, dass innerhalb von 12 Monaten 20,2 % der Jungen Opfer von verschiedenen Gewaltdelikten wurden, dagegen wurden 13 % der Mädchen Opfer (inkl. sexueller Gewalt, dem einzigen Gewaltdelikt, wo Mädchen öfter als Jungen Opfer waren). (Baier, D., Pfeiffer, C., Simonson, J., & Rabold, S. (2009): Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt: Erster Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN. KFN-Forschungsberichte No. 107. KFN, Hannover, S. 39) Auch beim Mobbing oder Gewalterleben durch SchülerInnen, wie auch Mobbing und Gewalt durch Lehrkräfte sind Jungen bei 9 von 10 abgefragten Items (nur beim Items "nicht beachtet werden" waren Mädchen häufiger Opfer) häufiger Opfer, als Mädchen. Im Text hießt es beispielhaft: "Das Risiko des mehrfachen Erlebens körperlicher Gewalt durch andere Schüler ist für Jungen deutlich höher: Hier übersteigt die Wahrscheinlichkeit der Jungen, mehrfach Opfer zu werden, die der Mädchen um den Faktor 4,8. Die Wahrscheinlichkeit, mehrmalig zu erleben, dass eigene Sachen zerstört werden, ist für Jungen 3,8-mal so hoch wie für Mädchen." (Ebd., S. 58)
Ähnliches gilt für den Bereich Gewalt gegen Kinder. Ich habe bisher noch keine Studie gefunden, die nachwies, dass Jungen deutlich weniger körperliche Gewalt in der Familie erleben, als Mädchen. Mit Ausnahme der sexuellen Gewalt überwiegen sogar bei vielen Studien männliche Opfer, mindestens aber erleben Jungen genauso viel Gewalt, wie Mädchen.
Für eine große UNICEF Studie wurden beispielsweise Daten zum Gewalterleben (körperliche und psychische Gewalt) aus 33 Ländern (Osteuropa, Asien, Afrika, arabischer Raum und Südamerika) erhoben. In 16 Ländern erlebten Jungen signifikant mehr Gewalt als Mädchen (dem Diagramm folgend je nach Land ca. 4 -11 % mehr), in den anderen Ländern gab es keine signifikanten Unterschiede. Schaut man sich allerdings die Daten für alle 33 Länder im Detail an, dann fällt auf, dass bei allen Gewaltarten (unterteilt in psychische Gewalt, körperliche Gewalt und nochmal extra erfasst schwere Formen von körperlicher Gewalt) Jungen fast durchweg einige Prozentpunkte mehr Gewalt erleben, als Mädchen. Bei der psychischen Gewalt erleben nur in 10 Ländern Jungen gleich viel oder 1-2 Prozentpunkte weniger Gewalt. Körperliche Gewalt wird nur in 2 Ländern (Sierra Leone und Togo) von beiden Geschlechtern gleich viel erlebt. In einem Land wird körperliche Gewalt einen Prozentpunkt mehr von Jungen erlebt, als von Mädchen. Die weiteren Zahlenverhältnisse sehen wie folgt aus (Prozentangaben jeweils das Mehr an Gewalterleben bei Jungen): 5 Länder = 2 %; 3 Länder = 3 %; 4 Länder = 4 %; 7 Länder = 5 %,3 Länder 6 %; 4 Länder = 7 %; 3 Länder = 9 %; 1 Land = 13 %. In nur 4 Ländern erleben Mädchen und Jungen jeweils gleich viel schwere Formen von körperlicher Gewalt. In 4 Ländern erleben Mädchen jeweils einen Prozentpunkt mehr schwere körperliche Gewalt, als Jungen. In 25 Ländern erleben Jungen mehr schwere körperliche Gewalt, als Mädchen. (UNICEF 2010, "Child Disciplinary Practices at Home", S. 36)
Für eine Studie (siehe ausführlich hier) in Ägypten wurden Mütter nach ihrem Gewaltverhalten gegen Kinder befragt. 85,4% der Jungen wurden gegenüber 71,9 % der Mädchen körperlich bestraft. In der Studie wurde auch festgestellt, dass Jungen nicht nur insgesamt sondern auch bzgl. der Häufigkeit des Gewalthandelns mehr von Gewalt betroffen sind, als Mädchen. 5,4 % der ägyptischen Jungen werden mehr als einmal pro Tag körperlich bestraft, dagegen 1,5 % der Mädchen; 4,6 % der Jungen werden einmal täglich geschlagen, dagegen 3 % der Mädchen; 55,4 % der Jungen werden ein oder zweimal die Woche geschlagen, dagegen 31,1 % der Mädchen.
Auf eine hier im Blog besprochene repräsentative Studie, die Gewalterfahrungen der Menschen in El Salvador und Guatemala erfasst hat, möchte ich ebenfalls noch hinweisen.
Keinerlei Art von elterlichen Bestrafungen in der Kindheit und Jugend erlebten in Guatemala: 20,7 % der befragten Frauen und 7 % der Männer; in El Salvador: 44,3 % der Frauen und 23,9 % der Männer. Misshandlungen/Schläge erlebten in Guatemala: 35,3 % der Frauen und 45,7 % der Männer. Schläge mit einem Gegenstand wie Gürtel, Stock oder Kabel erlebten in El Salvador: 41,8 % der Frauen und 61,9 % der Männer.
Auch bzgl. Deutschland liegen aussagekräftige Studien vor. Erstere wurde Anfang der 50er Jahre durchgeführt. (Die Studie habe ich hier im Blog bereits ausführlich besprochen). Ergebnis: „Schwere körperliche Züchtigungen“ im Elternhaus erlebten Jungen deutlich mehr, nämlich ca. 85 % während Mädchen zu ca. 62 % betroffen waren. Bei der „leichten körperlichen Züchtigung“ waren Mädchen etwas mehr betroffen, als Jungen. Jungen erlebten demnach nicht nur insgesamt häufiger körperliche Gewalt, sondern auch schwerer Formen deutlich häufiger, als Mädchen.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine repräsentative Befragung aus den 90er Jahren. (vgl. Wetzels, P. 1997: Gewalterfahrungen in der Kindheit - Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung und deren langfristige Konsequenzen. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, S. 147+148) 77,9 % der Männer erlebten körperliche Elterngewalt, Frauen dagegen mit 71,9 % signifikant weniger. Interessant ist dabei auch, wenn man sich die Frequenz der Gewalt anschaut. 35 % der Männer und 37,1 % der Frauen erlebten selten körperliche Züchtigungen. Mit 43 % ist bei den Männern die Rate der häufiger als selten körperlich gezüchtigten deutlich höher als bei den Frauen mit 34,8 %. Auch bei der schwersten Gewaltform – der Misshandlung – liegen die Männer mit 11,8 % etwas über den Frauen mit 9,9 %.
Für den ostdeutschen Raum wurden zwei repräsentative Jugendstudien verglichen ("Partner 3" mit "Partner 4"). Nach der Befragung im Jahr 1990 ("Partner 3") erlebten demnach 39 % der Mädchen körperliche Gewalt in der Familie, Jungen waren dagegen zu 56 % von Gewalt betroffen. Bei der Befragung 2013 ("Partner 4") ergaben sich folgende Zahlen: 20 % der Mädchen erlebten Gewalt und 25 % der Jungen.
(Weller, Konrad (Hrsg.) (2013). PARTNER 4. Sexualität & Partnerschaft ostdeutscher Jugendlicher im historischen Vergleich. Merseburg. Tabelle 2)
Für eine repräsentative Befragung wurden 2.524 Männer und Frauen in Deutschland befragt. Gefragt nach eigens erlebtem "Erziehungsverhalten" berichteten die Männer fast durchweg von mehr Gewalterfahrungen als Frauen. Z.B. hatten 22,4 % der Männer "schallende Ohrfeigen" erlebt, dagegen 16,7 % der Frauen. 7,4 % der Männer wurden mit Gegenständen geschlagen, dagegen 5,7 % der Frauen. 4,4 % der Männer erlebten eine Tracht Prügel mit Blutergüssen, dagegen 2,9 % der Frauen. Auch bei psychischen Strafen waren Männer stark betroffen. 13,4 % der Männer wurden niedergebrüllt, dagegen 12,5 % der Frauen. Taschengeldkürzungen erlebten 31,4 % der Männer, dagegen 22,3 % der Frauen. Nur bei dem Item "Nicht mehr mit ihnen reden" waren Frauen mit 18,6 % deutlich häufiger betroffen als die Männer mit 14,2 %.
(Plener, P. L.; Rodens, K. P.; Fegert, J. M. (2016). „Ein Klaps auf den Hintern hat noch niemandem geschadet“: Einstellungen zu Körperstrafen und Erziehung in der deutschen Allgemeinbevölkerung. Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V., vol. Themenheft, S. 20-25.)
Mir ist sehr wohl klar, dass Mädchen/Frauen, sofern man zusätzlich sexuelle Gewalterfahrungen und auch diverse Formen der geschlechtsspezifischen Unterdrückung, Unterwerfung und Diskriminierung mit einbezieht, enorm belastet sind. Mir geht es an dieser Stelle allerdings darum, festzuhalten, dass es männlichen Menschen nicht an Gewalterfahrungen – sowohl in Kindheit, Jugend als auch als Erwachsene – mangelt und dass sie in so manchen Bereichen sogar mehr von Gewalt betroffen sind, als Mädchen/Frauen. Dabei sind vor allem die kindlichen Gewalterfahrungen das Fundament für später eigenes Gewaltverhalten und auch sonstiges destruktive Agieren.
Nichts desto Trotz sind Männer das gewalttätiger Geschlecht, obwohl Frauen ebenfalls als Kind sehr häufig Gewalt erfahren und insofern „emotional bewaffnet“ sind. Hier liegt nun die Schnittstelle zu sozialwissenschaftlichen Thesen und Forschungen, deren Nutzen und Bedeutsamkeit ich gar nicht bestreiten möchte.
Männer haben historisch wie auch aktuell vor allem sehr viel mehr Machtmöglichkeiten, um Gewalt anzuwenden, als Frauen. Ohne Macht kann frau keine Gewalt anwenden. Und Männer wurden und werden zudem mit einem ganz anderen Rollenbild und mit männlichen Vorbildern konfrontiert. Für mich ergibt sich gedanklich vor allem ein Bild, das vieles deutlicher macht. Letztlich gleicht die Mannwerdung idealtypisch (und somit etwas vereinfacht dargestellt) und vor allem auch, je weiter man historisch zurückschaut, der militärischen Ausbildung: „Erst brechen wir Dich und hinterher bauen wir Dich wieder auf, hinterher bist Du potentiell ein Held der Nation, ein ganzer Kerl, hinterher bekommst du Macht und wir sind stolz auf Dich.“ (Und falls der Mann ganz unten steht und kaum Macht hat, unter ihm bleibt immer noch Frau und Kind gegenüber denen er sich mächtig fühlen darf.) Frauen werden dagegen als Mädchen gebrochen und die gesellschaftliche Botschaft, die dann an sie herangetragen wird, lautet (und die ebenfalls umso deutlich wird, je weiter man historisch zurückschaut): „Du bist nicht viel wert, an Haus, Küche, Mann und Kinder gebunden, der öffentliche und politische Raum ist nicht der Deine, Deine Rolle ist die, ohnmächtig zu sein und zu bleiben, Du brauchst keine Macht und selbst wenn Du sie wolltest, Du wirst keine Macht erhalten.“ Das sind zwei – wenn auch sehr vereinfacht dargestellt – komplett andere Welten und Rollenbilder, die sich hierzulande in den letzten Jahrzehnten natürlich auch immer mehr aufgelöst und starkt verwässert haben, trotzdem aber noch nachwirken.
Man könnte es auch in einer einfachen Formel aufschreiben: „Männliche Ohnmachtserfahrungen treffen auf eine männlich dominierte Gesellschaft und auf Machtmöglichkeiten / weibliche Ohnmachtserfahrungen treffen auf eine männliche dominierte Gesellschaft und auf sehr begrenzte oder auch gar keine Machtmöglichkeiten.“ Diese Formel macht meiner Auffassung nach weitgehend den Unterschied im Gewaltverhalten. Die Mutter von Rudolf Heß – Klara Heß - schrieb einst nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges: „Wäre ich ein Mann in der Blüte der Jahre, ich würde auch mit Begeisterung für mein Vaterland kämpfen. Ich will versuchen, wenn auch nicht als Soldat, so doch für das Wohl der Zurückgebliebenen meine Kraft mit zu verwenden.“ (Pätzold, Kurt und Weißbecker, Manfred (2007): Rudolf Heß. Der Mann an Hitlers Seite. Leibzig. Militzke Verlag, S.22) Sie brachte mit diesen Worten die Situation von Frauen auf den Punkt. Grundsätzlich war sie bereit zu töten, zu hassen und Krieg zu führen. Als Frau aber war ihr damals einfach der Weg in den Kampf versperrt.
Keine Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen, sondern echte Liebe und Geborgenheit im Elternhaus machen es dagegen, so meine bereits erwähnte These, unmöglich, andere Menschen gezielt zu quälen, zu missbrauchen, zu vergewaltigen, zu ermorden, zu misshandeln usw. Dies gilt für beide Geschlechter. Ein als Kind geliebter Mann wird demnach trotz der Welt, der Machtstrukturen und der Männlichkeitsbilder auf die er trifft kein Gewalttäter werden.
Die o.g. Formel bedeutet weitergedacht und wie bereits angedeutet auch, dass Frauen, soweit sie Ohnmachts- und Gewalterfahrungen (vor allem als Kind) erlebt haben und später Macht erhalten, zu allen erdenklichen Formen von Gewalt und Grausamkeiten grundsätzlich fähig sind (wobei auch hier tendenziell wie bei den Männern gilt: Je grausamer die Taten, desto grausamer die entsprechenden Kindheiten). Dies zeigen einige Daten, die ich bereits kurz zusammengefasst habe. Vor allem gilt dies in Bezug zu Kindern, über die Frauen traditionell sehr viel Macht haben. Empirisch lässt sich nachweisen, dass Frauen als Mütter sogar häufiger Gewalt gegen ihre Kinder anwenden, als Väter.
Wir befinden uns nun hierzulande in einer Phase, in der Frauen immer mehr Macht und Machtpositionen einnehmen. Zudem verändern sich die Rollenbilder stetig. Wird es jetzt zu deutlich mehr Gewalt kommen, die durch Frauen ausgeübt wird? Nein, wird es nicht. Ein gesellschaftlicher Entwicklungsprozess, der Frauen immer mehr Freiheiten, Macht und Mitbestimmungen ermöglicht und sie immer mehr von der Rolle als Sündenböcke und Giftcontainer befreit, deutet bereits auf einen tiefen emotionalen Wandel und mehr emotionaler Reife hin, was seinen Ursprung wiederum nicht unwesentlich in der stetigen Befriedung der Kindheiten, der Abnahme von Gewalt gegen Kinder und der Zunahme an Kinderschutz und Liebe hat. Daher wird Gewalt und auch sonstiges destruktives Agieren hierzulande zukünftig weiter abnehmen.
Auf einen wichtigen Punkt möchte ich abschließend noch hinweisen. Traditionelle Männlichkeitsvorstellungen erschweren es Männern routinemäßig, sich mit ihrem Opfersein auseinanderzusetzen. Schon für viele Frauen sind Opfererfahrungen (gerade in der Kindheit) etwas, das vergessen und verdrängt bleiben will, das oftmals todgeschwiegen wird. Für Männer wird es – so mein Eindruck - sogar noch schwerer, sich das eigene Opfersein einzugestehen, da dies mit Schwäche, Ohnmachtsgefühlen, Ängsten und Hilflosigkeit bzw. Hilfsbedürftigkeit (was als „unmännlich“ gilt) zusammenhängt. Insofern erleichtert der gesellschaftliche Wandel und der Wandel der Rollenbilder es Männern, nach Hilfe zu suchen (zum Beispiel in Therapie und Selbsthilfe) und sie erhalten eine Chance, sich emotional zu “entwaffnen“.
Der ideale Weg, um Männergewalt zu verhindern, ist als aller Erstes Kinderschutz und als Zweites gesellschaftliche Botschaften und Angebote, die Jungen und Männern aufzeigen, dass sie Gefühle haben und sie auch haben und zeigen dürfen. Ich denke, dass wir da in Deutschland schon auf einem guten Weg sind.
Gesamtfazit: Geschlechterforschung muss, wenn sie nach den Ursachen von Gewalt fragt, mehr als bisher nach der Ohnmacht fragen, als nach der Macht (der Männer).
Siehe unbedingt ergänzend Kapitel 3 "Why Males Are More Violent" des Online-Buches "The Origins of War in Child Abuse" von Lloyd deMause.
Wahlen im Iran. "Wir müssen auf unseren Vater hören"
In dem Radiobeitrag "Machtkampf vor und hinter den Kulissen. Iran vor den Präsidentschaftswahlen" im Deutschlandfunk (13.06.2013, von Reinhard Baumgarten) wurde gestern die politische Situation und die anstehende Präsidentschaftswahl im Iran besprochen. Am Ende des Beitrages wird ein Großhändler aus Teheran zitiert:
"Wir sind gezwungen, auf unseren Führer zu hören. Und wir dürfen auf keinen anderen hören. Es ist wie in einer Familie. Er ist unser Vater, und wir müssen auf unseren Vater hören, auch wenn der Vater falsch liegen sollte." Und der Autor des Beitrage kommentiert noch: „Darüber, dass der Vater falsch liegen könnte, wird in der Islamischen Republik nicht öffentlich diskutiert.“
Mit dem o.g. Zitat wird überdeutlich, warum sich Diktaturen halten können. Menschen leben oftmals auch politisch das, was sie als Kind erlebt haben. Wenn der Vater im Iran in den Familien eine absolute nicht zu hinterfragende Autorität darstellt, dann hat dies auch Auswirkungen auf das spätere politische Verhalten. Umgekehrt ist es wahrscheinlich, dass die bestehenden politischen Strukturen um so mehr hinterfragt und kritisiert werden, je mehr sich auch die Familienatmosphäre demokratisiert und entspannt. Letzteres wird wie überall auf der Welt ein stetiger Entwicklungsprozess auch im Iran sein. Und das wird Folgen haben.
"Wir sind gezwungen, auf unseren Führer zu hören. Und wir dürfen auf keinen anderen hören. Es ist wie in einer Familie. Er ist unser Vater, und wir müssen auf unseren Vater hören, auch wenn der Vater falsch liegen sollte." Und der Autor des Beitrage kommentiert noch: „Darüber, dass der Vater falsch liegen könnte, wird in der Islamischen Republik nicht öffentlich diskutiert.“
Mit dem o.g. Zitat wird überdeutlich, warum sich Diktaturen halten können. Menschen leben oftmals auch politisch das, was sie als Kind erlebt haben. Wenn der Vater im Iran in den Familien eine absolute nicht zu hinterfragende Autorität darstellt, dann hat dies auch Auswirkungen auf das spätere politische Verhalten. Umgekehrt ist es wahrscheinlich, dass die bestehenden politischen Strukturen um so mehr hinterfragt und kritisiert werden, je mehr sich auch die Familienatmosphäre demokratisiert und entspannt. Letzteres wird wie überall auf der Welt ein stetiger Entwicklungsprozess auch im Iran sein. Und das wird Folgen haben.
Donnerstag, 6. Juni 2013
Neue Gewaltstudie zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in Deutschland
Erneut ist eine große Studie zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in Deutschland veröffentlich worden. Für die „Gewaltstudie 2013“ – unter der Leitung des Bielefelder Erziehungswissenschaftlers Holger Ziegler - wurden 900 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 16 Jahren aus Köln, Berlin und Dresden befragt.
22,3% werden von Erwachsenen oft oder manchmal geschlagen, also erleben 77,7 % keine Gewalt.
32,5 % der Kinder aus armen bzw. unterprivilegierten Familien gaben an, oft oder manchmal von ihren Eltern geschlagen worden zu sein. 17,1% dieser Gruppe wurden so heftig geschlagen, dass sie blaue Flecken hatten. 67,5 % dieser Gruppe wurden den Zahlen folgend überhaupt nicht geschlagen.
Bei den durchschnittlich bis privilegiert gestellten Kindern kommt körperliche Gewalt weit aus seltener vor, als bei den sozial schlechter gestellten Kindern.
Ca. 30 % der Kinder und Jugendlichen aus prekären Schichten hören von Erwachsenen, dass sie dumm oder nutzlos sind. Auch rund 28 % der Jugendlichen aus privilegierten Milieus wird gesagt, dass sie weniger wert seien. Insofern ist ca. jedes dritte Kind von dieser Form von psychischer Gewalt betroffen. 2/3 werden nicht in dieser Form gedemütigt.
In den Medien werden diese Zahlen oft mit einem Erschrecken kommentiert. Wer sich mit der historischen Entwicklung der Kindererziehung befasst, der wird diese Zahlen als Fortschritt deuten. Dass Ziel ist klar: 100 % der Kinder sollen gewaltfrei aufwachsen dürfen. Wenn die Entwicklungen so weiter gehen , ist dieses Ziel auch erreichbar.
Quellen:
http://www.rundschau-online.de/aus-aller-welt/gewaltstudie-2013-wer-mobbt--braucht-liebe,15184900,23114598.html
http://www.zeit.de/gesellschaft/familie/2013-06/gewalt-kinder-familien
http://www.presseportal.de/pm/34011/2484481/neue-gewaltstudie-schlaege-sind-fuer-ein-viertel-der-kinder-und-jugendlichen-in-deutschland-alltag
22,3% werden von Erwachsenen oft oder manchmal geschlagen, also erleben 77,7 % keine Gewalt.
32,5 % der Kinder aus armen bzw. unterprivilegierten Familien gaben an, oft oder manchmal von ihren Eltern geschlagen worden zu sein. 17,1% dieser Gruppe wurden so heftig geschlagen, dass sie blaue Flecken hatten. 67,5 % dieser Gruppe wurden den Zahlen folgend überhaupt nicht geschlagen.
Bei den durchschnittlich bis privilegiert gestellten Kindern kommt körperliche Gewalt weit aus seltener vor, als bei den sozial schlechter gestellten Kindern.
Ca. 30 % der Kinder und Jugendlichen aus prekären Schichten hören von Erwachsenen, dass sie dumm oder nutzlos sind. Auch rund 28 % der Jugendlichen aus privilegierten Milieus wird gesagt, dass sie weniger wert seien. Insofern ist ca. jedes dritte Kind von dieser Form von psychischer Gewalt betroffen. 2/3 werden nicht in dieser Form gedemütigt.
In den Medien werden diese Zahlen oft mit einem Erschrecken kommentiert. Wer sich mit der historischen Entwicklung der Kindererziehung befasst, der wird diese Zahlen als Fortschritt deuten. Dass Ziel ist klar: 100 % der Kinder sollen gewaltfrei aufwachsen dürfen. Wenn die Entwicklungen so weiter gehen , ist dieses Ziel auch erreichbar.
Quellen:
http://www.rundschau-online.de/aus-aller-welt/gewaltstudie-2013-wer-mobbt--braucht-liebe,15184900,23114598.html
http://www.zeit.de/gesellschaft/familie/2013-06/gewalt-kinder-familien
http://www.presseportal.de/pm/34011/2484481/neue-gewaltstudie-schlaege-sind-fuer-ein-viertel-der-kinder-und-jugendlichen-in-deutschland-alltag
Samstag, 1. Juni 2013
Brandanschlag von Solingen. Die Kindheit von Christian R.
20 Jahre ist der Brandanschlag von Solingen her, was derzeit dazu führt, dass der Fall in den Medien besprochen wird.
Der Gutachter Christian Eggers hat 1996 seine Fallstudie „Selbstlosigkeit als Ursache für ausländerfeindliche Gewalt“ herausgebracht. Darin geht er den Ursachen der Solinger Brandanschläge - bei denen fünf Menschen starben - nach, indem er den damals 17jährigen Christian R. skizziert. In der Inhaltsangabe der Studie steht u.a.: „Es entsteht das beklemmende Bild eines in zerrütteter familiärer Umwelt aufgewachsenen Jugendlichen, dessen unentwickeltes Selbstwertgefühl in einen Selbsthaß mündet, der schließlich sein Ventil im Fremdenhaß findet.“
Die Studie liegt mir nicht vor. Allerdings wurde sie von Ingrid Müller-Münch in ihrem Buch „Die geprügelte Generation“ in Kapitel 15 besprochen. Sie schreibt:
„Der Jugendliche, den das Gericht für den Anführer der Vierergruppe bei diesem Brandanschlag hielt, war ein 17-Jähriger, an dessen Kindheitsgeschichte sich sehr gut darstellen lässt, was aus einem geprügelten, vernachlässigten, misshandelten Kind schlimmstenfalls werden kann.“ Die Mutter von Christan brachte mit einem Satz all ihre Ablehnung gegenüber ihren Sohn auf den Punkt: „Hätte ich den Klumpen doch nicht geboren.“, hatte sie einmal einen Antrag auf Erziehungshilfe gegenüber einer Sozialarbeiterin kommentiert. Müller-Münch geht weiter auf die Ausführungen von Eggers ein.
„R. war als Kind so unglücklich, so verlassen und misshandelt, dass er die spielenden Kinder der im Haus schräg gegenüber lebenden türkischen Familie Genc schlichtweg nicht ertragen konnte. (…) so, wie er es bei Katzen und Kaninchen geübt hatte, mit denen er zunächst schmuste, um ihnen dann den Hals umzudrehen, so steigerte sich der Hass auf diese „Mistviecher“ – wie er die Kinder der Familie Genc einmal nannte. (…) Eigentlich war dieser Christan R. nirgendwo aufgewachsen. Als Säugling schon von der Mutter weggegeben, wurde sein Leben ein einziges Hin- und Her-Gezerre zwischen verschiedenen pädagogischen Einrichtungen und seiner Mutter, die ihre Depressionen durch Alkohol betäubte. Allein mit einem ständig schreienden, trotzigen Kind prügelte die überforderte Frau den Sohn bei jeder denkbaren Gelegenheit. Voller Groll hatte Christan seinem Gutachter Eggers geschildert, wie sie ihn als Kleinkind getreten oder gegen einen Heizkörper geschleudert hatte. Oder wie sie ihn manches Mal mit ins Auto genommen und die Türen verriegelt hatte, damit sein Schreien nicht nach Außen drang. Das Ergebnis all dieser Misshandlungen und der kontinuierlichen Lieblosigkeit war ein Mensch, der von sich annahm: „Ich bin böse, deswegen werde ich geschlagen und deswegen muss ich schlagen.“ In ihm sah es nach Eggers aus, wie in einem „verdorrten, abgestorbenen Wüstenei, ohne Leben, ohne Regungen, ohne Mitleid.“
Der Gutachter Christian Eggers hat 1996 seine Fallstudie „Selbstlosigkeit als Ursache für ausländerfeindliche Gewalt“ herausgebracht. Darin geht er den Ursachen der Solinger Brandanschläge - bei denen fünf Menschen starben - nach, indem er den damals 17jährigen Christian R. skizziert. In der Inhaltsangabe der Studie steht u.a.: „Es entsteht das beklemmende Bild eines in zerrütteter familiärer Umwelt aufgewachsenen Jugendlichen, dessen unentwickeltes Selbstwertgefühl in einen Selbsthaß mündet, der schließlich sein Ventil im Fremdenhaß findet.“
Die Studie liegt mir nicht vor. Allerdings wurde sie von Ingrid Müller-Münch in ihrem Buch „Die geprügelte Generation“ in Kapitel 15 besprochen. Sie schreibt:
„Der Jugendliche, den das Gericht für den Anführer der Vierergruppe bei diesem Brandanschlag hielt, war ein 17-Jähriger, an dessen Kindheitsgeschichte sich sehr gut darstellen lässt, was aus einem geprügelten, vernachlässigten, misshandelten Kind schlimmstenfalls werden kann.“ Die Mutter von Christan brachte mit einem Satz all ihre Ablehnung gegenüber ihren Sohn auf den Punkt: „Hätte ich den Klumpen doch nicht geboren.“, hatte sie einmal einen Antrag auf Erziehungshilfe gegenüber einer Sozialarbeiterin kommentiert. Müller-Münch geht weiter auf die Ausführungen von Eggers ein.
„R. war als Kind so unglücklich, so verlassen und misshandelt, dass er die spielenden Kinder der im Haus schräg gegenüber lebenden türkischen Familie Genc schlichtweg nicht ertragen konnte. (…) so, wie er es bei Katzen und Kaninchen geübt hatte, mit denen er zunächst schmuste, um ihnen dann den Hals umzudrehen, so steigerte sich der Hass auf diese „Mistviecher“ – wie er die Kinder der Familie Genc einmal nannte. (…) Eigentlich war dieser Christan R. nirgendwo aufgewachsen. Als Säugling schon von der Mutter weggegeben, wurde sein Leben ein einziges Hin- und Her-Gezerre zwischen verschiedenen pädagogischen Einrichtungen und seiner Mutter, die ihre Depressionen durch Alkohol betäubte. Allein mit einem ständig schreienden, trotzigen Kind prügelte die überforderte Frau den Sohn bei jeder denkbaren Gelegenheit. Voller Groll hatte Christan seinem Gutachter Eggers geschildert, wie sie ihn als Kleinkind getreten oder gegen einen Heizkörper geschleudert hatte. Oder wie sie ihn manches Mal mit ins Auto genommen und die Türen verriegelt hatte, damit sein Schreien nicht nach Außen drang. Das Ergebnis all dieser Misshandlungen und der kontinuierlichen Lieblosigkeit war ein Mensch, der von sich annahm: „Ich bin böse, deswegen werde ich geschlagen und deswegen muss ich schlagen.“ In ihm sah es nach Eggers aus, wie in einem „verdorrten, abgestorbenen Wüstenei, ohne Leben, ohne Regungen, ohne Mitleid.“
Dienstag, 28. Mai 2013
Grausame Taten. Der Unterschied zwischen "verstehen" und "erklären"
Vor einiger Zeit erschütterte ein Bericht über den Tod eines Mädchens die Öffentlichkeit. Die zwei Jahre alte Lea-Sofie war von dem Freund der Mutter so schwer misshandelt worden, dass sie verstarb (nach Medienberichten war dies wohl nicht das erste Mal, dass das Kind misshandelt wurde). Ihre Mutter ließ ihre Tochter nach den Misshandlungen drei Tage in der Wohnung gegen den Tod kämpfen und unternahm nichts. Mutter und Freund lebten während des Todeskampfes des Kleinkindes so weiter, als ob nichts geschehen wäre. Die Leiche des Mädchens legten sie dann entkleidet in einen Park, um ein Sexualdelikt vorzutäuschen. Beide sind jetzt zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Der Autor eines SPIEGEL Artikels über den Fall, Jörg Diehl, hat auch auf die Ursachen hingewiesen, die hinter dieser Tat stehen.
Der Freund der Mutter war „arbeitslos, perspektivlos, ständig betrunken“, schreibt der Autor. Als er wieder einmal betrunken war und die kleine Lea-Sofie einen Schreikrampf bekam, rastete er aus. „Wie er als Kind geprügelt worden war, so prügelte jetzt er. Er schlug Lea-Sofie mit der Faust ins Gesicht, riss sie an den Haaren hoch, schlug wieder zu, insgesamt fünfmal. Das Mädchen erlitt dabei schwerste Gehirnverletzungen.“ Über die Kindheit des Täters wird weiter berichtete, dass er bereits als Grundschüler mit einem Messer auf seine Mutter losging und dann in ein Heim kam.
Die Mutter von Lea-Sofie hatte ebenfalls eine sehr traumatische Kindheit. „Aufgewachsen mit einem brutalen Vater, der sie missbrauchte, und einer alkoholkranken Mutter habe Franziska M. "extreme Bindungssehnsüchte, deutliche Abhängigkeitstendenzen und eine erhebliche Hinnahmebereitschaft" entwickelt, so ein Psychiater vor Gericht.“ Sie habe sich in schwierigen Situationen schon immer „weggebeamt“, was vor Gericht als „dissoziatives Verhalten“ bezeichnet wurde.
Die Hintergründe der Tat sind somit eindeutig belegt. Natürlich haben solche Täter-Eltern selbst eine traumatische Kindheit erlebt. Anders sind solche Taten nicht erklärbar.
Der Autor hat in der Titel Überschrift folgendes geschrieben: „Eine Frage bleibt: Wie ist so etwas möglich?“ Diese Frage ist der Grund für diesen Beitrag. Meine Frage ist, warum trauen wir uns eigentlich nur selten, in der Öffentlichkeit deutliche Worte zu finden und deutlich zu kommentieren? Warum sagen wir nicht: „Diese Tat war unvorstellbar grausam, aber sie ist auch erklärbar“? Warum schreibt man nicht sinngemäß: „Natürlich waren diese Eltern schwer traumatisiert und dadurch emotional gestört, ohne dieses Grundgerüst wäre eine solche Tat nicht möglich.“?
Der Autor hätte in der Überschrift ja auch nur schreiben können: „Wie ist so etwas möglich?“ Sein Artikel an sich erklärt im Grunde sehr gut die Ursachen solcher Taten. Aber dieses „Eine Frage bleibt“, stört mich einfach. Denn im Grunde bleibt keine Frage. Das Verhalten der Eltern ist erklärbar, aber trotzdem nicht zu entschuldigen. Dass beide zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden, finde ich gerechtfertigt. Wenn beide wieder frei kommen, sollte unbedingt verhindert werden, dass wieder ein Kind in ihre Hände gerät.
Deutliche Worte bzgl. solcher Taten wären auch immer ein Aufruf zur Prävention. Als Kind schwer traumatisierte Menschen, die später Kinder haben, sollten gezielt Hilfsangebote bekommen. Man kann von schwer misshandelten Menschen nicht erwarten, dass sie von alleine zu besonders liebevollen Eltern werden.
Der Anwalt der Mutter formuliert in einen Interview, dass wir alle diese Tat im Grunde nicht verstehen können. Verstehen müssen wir dies in der Tat nicht. „Verstehen“ hat ja auch etwas mit Verständnis zu tun, etwas mit „wäre ich in Deiner Situation, hätte ich vielleicht ähnlich gehandelt“. Nein, verstehen kann mensch diese Tat nicht! Aber sie kann erklärt werden. Das ist ein feiner aber bedeutender Unterschied in der Wortwahl. Nur wer emotional schwer gestört ist und nichts fühlt, kann so handeln. Für Menschen, die fühlen können, sind solche Taten nicht zu verstehen und sie müssen auch nicht verstanden werden. Aber wir sollten nicht so tun, als ob sich solche und andere (auch „politisch“ motivierte) Taten nicht erklären lassen.
Der Freund der Mutter war „arbeitslos, perspektivlos, ständig betrunken“, schreibt der Autor. Als er wieder einmal betrunken war und die kleine Lea-Sofie einen Schreikrampf bekam, rastete er aus. „Wie er als Kind geprügelt worden war, so prügelte jetzt er. Er schlug Lea-Sofie mit der Faust ins Gesicht, riss sie an den Haaren hoch, schlug wieder zu, insgesamt fünfmal. Das Mädchen erlitt dabei schwerste Gehirnverletzungen.“ Über die Kindheit des Täters wird weiter berichtete, dass er bereits als Grundschüler mit einem Messer auf seine Mutter losging und dann in ein Heim kam.
Die Mutter von Lea-Sofie hatte ebenfalls eine sehr traumatische Kindheit. „Aufgewachsen mit einem brutalen Vater, der sie missbrauchte, und einer alkoholkranken Mutter habe Franziska M. "extreme Bindungssehnsüchte, deutliche Abhängigkeitstendenzen und eine erhebliche Hinnahmebereitschaft" entwickelt, so ein Psychiater vor Gericht.“ Sie habe sich in schwierigen Situationen schon immer „weggebeamt“, was vor Gericht als „dissoziatives Verhalten“ bezeichnet wurde.
Die Hintergründe der Tat sind somit eindeutig belegt. Natürlich haben solche Täter-Eltern selbst eine traumatische Kindheit erlebt. Anders sind solche Taten nicht erklärbar.
Der Autor hat in der Titel Überschrift folgendes geschrieben: „Eine Frage bleibt: Wie ist so etwas möglich?“ Diese Frage ist der Grund für diesen Beitrag. Meine Frage ist, warum trauen wir uns eigentlich nur selten, in der Öffentlichkeit deutliche Worte zu finden und deutlich zu kommentieren? Warum sagen wir nicht: „Diese Tat war unvorstellbar grausam, aber sie ist auch erklärbar“? Warum schreibt man nicht sinngemäß: „Natürlich waren diese Eltern schwer traumatisiert und dadurch emotional gestört, ohne dieses Grundgerüst wäre eine solche Tat nicht möglich.“?
Der Autor hätte in der Überschrift ja auch nur schreiben können: „Wie ist so etwas möglich?“ Sein Artikel an sich erklärt im Grunde sehr gut die Ursachen solcher Taten. Aber dieses „Eine Frage bleibt“, stört mich einfach. Denn im Grunde bleibt keine Frage. Das Verhalten der Eltern ist erklärbar, aber trotzdem nicht zu entschuldigen. Dass beide zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden, finde ich gerechtfertigt. Wenn beide wieder frei kommen, sollte unbedingt verhindert werden, dass wieder ein Kind in ihre Hände gerät.
Deutliche Worte bzgl. solcher Taten wären auch immer ein Aufruf zur Prävention. Als Kind schwer traumatisierte Menschen, die später Kinder haben, sollten gezielt Hilfsangebote bekommen. Man kann von schwer misshandelten Menschen nicht erwarten, dass sie von alleine zu besonders liebevollen Eltern werden.
Der Anwalt der Mutter formuliert in einen Interview, dass wir alle diese Tat im Grunde nicht verstehen können. Verstehen müssen wir dies in der Tat nicht. „Verstehen“ hat ja auch etwas mit Verständnis zu tun, etwas mit „wäre ich in Deiner Situation, hätte ich vielleicht ähnlich gehandelt“. Nein, verstehen kann mensch diese Tat nicht! Aber sie kann erklärt werden. Das ist ein feiner aber bedeutender Unterschied in der Wortwahl. Nur wer emotional schwer gestört ist und nichts fühlt, kann so handeln. Für Menschen, die fühlen können, sind solche Taten nicht zu verstehen und sie müssen auch nicht verstanden werden. Aber wir sollten nicht so tun, als ob sich solche und andere (auch „politisch“ motivierte) Taten nicht erklären lassen.
Freitag, 24. Mai 2013
Studie. Gewalt gegen Kinder hat in Ostdeutschland drastisch abgenommen.
Für die Studie "Partner 4" wurden im Jahr 2012 862 Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren in Ostdeutschland repräsentativ befragt. Ergebnis u.a.: 77 % gaben an, noch nie von ihren Eltern geschlagen worden zu sein. (Leipziger Volkszeitung, 23.05.2013) Das sind fast "schwedische Verhältnisse". Sie sind noch besser als die vom KFN für Gesamtdeutschland ermittelten (siehe hier).
Wenn sich dieser Trend fortsetzt und sich auch in Bereichen wie z.B. der Kindesvernachlässigung vollzieht, dann sieht die Zukunft für Deutschland mehr als rosig aus. Die Deutschen werden immer weniger psychischen Balast mit sich herumtragen und innerlich immer mehr wachsen. Dieses innere Wachstum wird ein ungeheurer Motor für die Weiterentwicklung dieser Gesellschaft sein.
Zukünftig werden sich Forschende immer mehr fragen müssen, warum wir immer friedlicher, komplexer und demokratischer werden und warum Entwicklungen hierzulande konstruktiv verlaufen. Wer sich mit der Entwicklung von Kindheit befasst, kann schon jetzt Antworten bieten.
Wenn sich dieser Trend fortsetzt und sich auch in Bereichen wie z.B. der Kindesvernachlässigung vollzieht, dann sieht die Zukunft für Deutschland mehr als rosig aus. Die Deutschen werden immer weniger psychischen Balast mit sich herumtragen und innerlich immer mehr wachsen. Dieses innere Wachstum wird ein ungeheurer Motor für die Weiterentwicklung dieser Gesellschaft sein.
Zukünftig werden sich Forschende immer mehr fragen müssen, warum wir immer friedlicher, komplexer und demokratischer werden und warum Entwicklungen hierzulande konstruktiv verlaufen. Wer sich mit der Entwicklung von Kindheit befasst, kann schon jetzt Antworten bieten.
Mittwoch, 8. Mai 2013
Beate Zschäpe. "Wenn sie ein Mensch ist, wird sie das nicht ertragen."
Vor einiger Zeit hörte ich im Deutschlandfunk ein Interview mit einer Angehörigen eines NSU-Opfers. Sie sagte, dass im Gerichtssaal sehr viele Angehörige der Opfer sitzen werden . Und dann sagte sie einen sehr bewegenden Satz: „Wenn sie ein Mensch ist, wird sie das nicht ertragen.“
Keiner wird bestreiten wollen, dass Zschäpe ein Mensch ist. Die Angehörige brachte etwas anderes auf den Punkt. Es geht um die Frage, ob Beate Zschäpe etwas fühlen kann. Denn das Fühlen macht ja gerade unser Menschsein aus. In dem Satz der Angehörigen schwingt die Hoffnung mit, dass diese Täterin etwas fühlen kann, dass sie die Schuld spüren kann, die sie auf sich geladen hat und dass sie auch den Schmerz der Angehörigen nachfühlen kann.
Doch kann ein Mensch, der derartige Taten durchführt oder direkt unterstützt, wirklich Emotionen an sich heran lassen oder etwas fühlen? Ich glaube, dass die Hoffnung dieser Angehörigen nicht erfüllt werden wird. Denn das Nicht-Fühlen oder das sich in einen abgespaltenen Part seiner Psyche begeben können ist ja gerade DIE Voraussetzung dafür, derartige Taten durchführen zu können.
Einige Auszüge aus Beates Kindheit erklären auch, woher diese Fühllosigkeit kommt. Von einer unstetigen Kindheit mit vielen Umzügen wird berichtet. Das wichtigste Detail fand ich hier:
„Von Beginn ihres Lebens an wurde Beate Zschäpe das Gefühl vermittelt, nicht gewollt zu sein. Als ihre Mutter im Januar 1975 das Mädchen zur Welt bringt, ist sie überrascht. Von der Schwangerschaft hatte sie bis dato nichts bemerkt, mit einem Verdacht auf Nierenkoliken hatte sie sich ins Krankenhaus einliefern lassen. (…) Zwei Wochen nach der Geburt geht die Mutter zurück nach Rumänien und lässt das Kind in Jena bei der Oma zurück.“ (Deutsche Welle, 11.04.2013, Autor: Arne Lichtenberg)
Die Fötalpsychologie steckt noch in den Kinderschuhen. Nach allem was ich weiß (und vor allem bei Lloyd deMause über das „Fötale Drama“ gelesen habe) und fühle, dürfte es für das werdende Kind den reinen Terror bedeuten, wenn die schwangere Mutter dieses überhaupt nicht bemerkt und es ausblendet.
Zunächst kümmert sich also die Oma um Beate, die allerdings von ihr – so die Deutsche Welle - bereit im Alter von drei Monaten in eine Kinderkrippe gegeben wird. Als Beate ein halbes Jahr alt ist, nimmt der deutsche Freund ihrer Mutter das Kind zu sich. „Mit dem Mann war die Mutter erst kurz vor Beates Geburt zusammengekommen.“ Auch diese Beziehung der Mutter geht später kaputt. Letztere gibt Beate immer wieder zur Oma. Einen richtigen Vater hat Beate nie gehabt und der von ihrer Mutter benannte biologische Vater stritt stets ab, der Vater zu sein.
Fassen wir also diese kurzen Infos zusammen:
- Beate wurde als Säugling über 9 Monate lang ignoriert (Beziehnungs-Bruch 1)
- 2 Wochen nach der Geburt von der Mutter zur Oma weggegeben (Bruch 2)
- von der Oma bereits mit 3 Monate in eine Krippe gegeben (Bruch 3)
- mit 6 Monaten zu einem Freund der Mutter gegeben (Bruch 4)
- nach dem Scheitern der Beziehung (Bruch 5) wieder alleine zur Mutter,
- die wiederum Beate häufig bei der Oma unterbrachte (Bruch 6)
- der biologische Vater stritt stets ab, der Vater zu sein (Bruch 7)
Beziehungsmäßig ist dies für einen Säugling und ein Kind ein ziemlich zerbrochenes Leben.
Wie das Leben bei der Mutter aussah, wird durch folgendes Zitat etwas mehr beleuchtet: „Auch die weiteren Partner von Zschäpes Mutter hätten offenbar „keine dezidierte Vaterrolle eingenommen“, steht im Gutachten. Und mit der zeitweise arbeitslosen Mutter gab es schwere Probleme. Annerose Zschäpe war mit der Erziehung überfordert und trank.“ (Tagesspiegel, 03.05.2013, Autoren: Frank Jansen und Christian Tretbar)
Zu den ganzen Brüchen kam also noch eine überforderte und sich betrinkende Mutter dazu. (Die Frage ist dabei, in wie weit die den Fötus ignorierende Mutter auch während der Schwangerschaft Alkohol getrunken haben könnte, mit allen bekannten möglichen Negativwirkungen auf den Fötus.) Was sich im Detail alles an Konflikten, Demütigungen, ggf. auch handfester Gewalt im Hause Zschäpe abgespielt hat, bleibt Spekulation. Zumindest wird an Hand der Oberflächendaten mehr als deutlich, dass dies eine sehr traurige Kindheit war. Ich vermute, dass die Kindheiten der beiden Mittäter, die sich selbst getötet haben, sogar noch schlimmer aussahen. Denn sie waren es ja, die die NSU-Morde direkt ausführten.
Keiner wird bestreiten wollen, dass Zschäpe ein Mensch ist. Die Angehörige brachte etwas anderes auf den Punkt. Es geht um die Frage, ob Beate Zschäpe etwas fühlen kann. Denn das Fühlen macht ja gerade unser Menschsein aus. In dem Satz der Angehörigen schwingt die Hoffnung mit, dass diese Täterin etwas fühlen kann, dass sie die Schuld spüren kann, die sie auf sich geladen hat und dass sie auch den Schmerz der Angehörigen nachfühlen kann.
Doch kann ein Mensch, der derartige Taten durchführt oder direkt unterstützt, wirklich Emotionen an sich heran lassen oder etwas fühlen? Ich glaube, dass die Hoffnung dieser Angehörigen nicht erfüllt werden wird. Denn das Nicht-Fühlen oder das sich in einen abgespaltenen Part seiner Psyche begeben können ist ja gerade DIE Voraussetzung dafür, derartige Taten durchführen zu können.
Einige Auszüge aus Beates Kindheit erklären auch, woher diese Fühllosigkeit kommt. Von einer unstetigen Kindheit mit vielen Umzügen wird berichtet. Das wichtigste Detail fand ich hier:
„Von Beginn ihres Lebens an wurde Beate Zschäpe das Gefühl vermittelt, nicht gewollt zu sein. Als ihre Mutter im Januar 1975 das Mädchen zur Welt bringt, ist sie überrascht. Von der Schwangerschaft hatte sie bis dato nichts bemerkt, mit einem Verdacht auf Nierenkoliken hatte sie sich ins Krankenhaus einliefern lassen. (…) Zwei Wochen nach der Geburt geht die Mutter zurück nach Rumänien und lässt das Kind in Jena bei der Oma zurück.“ (Deutsche Welle, 11.04.2013, Autor: Arne Lichtenberg)
Die Fötalpsychologie steckt noch in den Kinderschuhen. Nach allem was ich weiß (und vor allem bei Lloyd deMause über das „Fötale Drama“ gelesen habe) und fühle, dürfte es für das werdende Kind den reinen Terror bedeuten, wenn die schwangere Mutter dieses überhaupt nicht bemerkt und es ausblendet.
Zunächst kümmert sich also die Oma um Beate, die allerdings von ihr – so die Deutsche Welle - bereit im Alter von drei Monaten in eine Kinderkrippe gegeben wird. Als Beate ein halbes Jahr alt ist, nimmt der deutsche Freund ihrer Mutter das Kind zu sich. „Mit dem Mann war die Mutter erst kurz vor Beates Geburt zusammengekommen.“ Auch diese Beziehung der Mutter geht später kaputt. Letztere gibt Beate immer wieder zur Oma. Einen richtigen Vater hat Beate nie gehabt und der von ihrer Mutter benannte biologische Vater stritt stets ab, der Vater zu sein.
Fassen wir also diese kurzen Infos zusammen:
- Beate wurde als Säugling über 9 Monate lang ignoriert (Beziehnungs-Bruch 1)
- 2 Wochen nach der Geburt von der Mutter zur Oma weggegeben (Bruch 2)
- von der Oma bereits mit 3 Monate in eine Krippe gegeben (Bruch 3)
- mit 6 Monaten zu einem Freund der Mutter gegeben (Bruch 4)
- nach dem Scheitern der Beziehung (Bruch 5) wieder alleine zur Mutter,
- die wiederum Beate häufig bei der Oma unterbrachte (Bruch 6)
- der biologische Vater stritt stets ab, der Vater zu sein (Bruch 7)
Beziehungsmäßig ist dies für einen Säugling und ein Kind ein ziemlich zerbrochenes Leben.
Wie das Leben bei der Mutter aussah, wird durch folgendes Zitat etwas mehr beleuchtet: „Auch die weiteren Partner von Zschäpes Mutter hätten offenbar „keine dezidierte Vaterrolle eingenommen“, steht im Gutachten. Und mit der zeitweise arbeitslosen Mutter gab es schwere Probleme. Annerose Zschäpe war mit der Erziehung überfordert und trank.“ (Tagesspiegel, 03.05.2013, Autoren: Frank Jansen und Christian Tretbar)
Zu den ganzen Brüchen kam also noch eine überforderte und sich betrinkende Mutter dazu. (Die Frage ist dabei, in wie weit die den Fötus ignorierende Mutter auch während der Schwangerschaft Alkohol getrunken haben könnte, mit allen bekannten möglichen Negativwirkungen auf den Fötus.) Was sich im Detail alles an Konflikten, Demütigungen, ggf. auch handfester Gewalt im Hause Zschäpe abgespielt hat, bleibt Spekulation. Zumindest wird an Hand der Oberflächendaten mehr als deutlich, dass dies eine sehr traurige Kindheit war. Ich vermute, dass die Kindheiten der beiden Mittäter, die sich selbst getötet haben, sogar noch schlimmer aussahen. Denn sie waren es ja, die die NSU-Morde direkt ausführten.
Montag, 29. April 2013
Der Fall Josef Fritzl und die psychiatrische Gutachterin
Ich habe kürzlich ein Interview mit Dr. Heidi Kastner - der psychiatrischen Gutachterin im Fall Josef Fritzl, der u.a. seine Tochter 24 Jahre im Keller eingesperrt und unzählige Male vergewaltigt hatte – gelesen.
Auf die Frage: "Ich bin zur Vergewaltigung geboren", soll Josef Fritzl gesagt haben. Frau Dr. Kastner, steckt Abnormität in den Genen oder was macht Menschen zu grausamen Verbrechern?“ antwortete sie u.a.:
„Ich denke, jeder Mensch ist im Wesentlichen das Produkt seiner genetischen Veranlagung, seiner Biografie und seines Umfeldes. (...) In welchem Ausmaß welcher Faktor zum Tragen kommt, kann man bei keinem mit Sicherheit feststellen. (…)“
An anderer Stelle sagt sie: „Ich habe nicht die Grundhaltung, dass der Mensch an sich ein nur gutes Wesen ist und dass etwas grob fehlgelaufen sein muss, wenn einer böse handelt. Ich denke vielmehr, dass jeder die Veranlagung zu allem hat. Und dieses „alles“ ist ein breites Spektrum.“
Auf die Kindheit des Täters geht sie in diesem Interview überhaupt nicht ein, sondern belässt es bei diesen wagen Andeutungen.
In einem anderen Interview wurde Kastner noch deutlicher:
Frage: "Der berühmte FBI-Profiler John Douglas erklärte, dass alle psychiatrisch relevanten Verbrechen auf einer kaputten Kindheit beruhen."
Kastner: "Das stimmt nicht. Alle Erklärungen, die so einfältig daherkommen, sind mir eigentlich ein Gräuel."
Auf die Frage "Wie schwierig war Fritzls Kindheit?" geht Kastner nur auf die Kindheit seiner Mutter ein.
Dies alles verwundert, da sich Frau Kastner vor Gericht anders und deutlicher geäußert hat.
Der Focus berichtet unter Bezug auf Kastner: „Nachdem Fritzls Mutter geschieden war, bekam sie mit einem neuen Mann ein Kind. Fritzl selbst hatte sich als Alibikind bezeichnet, die Gutachterin nannte es Beweiskind: Die Mutter wollte nach der Demütigung der ersten Ehe beweisen, dass sie nicht unfruchtbar war – mehr Interesse hatte sie nicht an einem Kind, sie verabscheute es sogar. Die Mutter blieb Josef Fritzl gegenüber völlig kalt, sie erkannte nicht, wenn es ihm schlecht ging oder er litt. „Die einzigen Emotionen, die der Angeklagte in seiner Kindheit kannte, waren Angst und Ungewissheit“, sagte Kastner. Als Junge von sieben oder acht Jahren ließ ihn die Mutter allein zu Hause, und er wusste nicht, ob sie zurückkehren würde.“
Im Belfast Telegraph (03.05.2008) finden sich weitere Informationen. Brutale Misshandlungen durch seine Mutter erlebte Josef Fritzl beinahe täglich. Die Informationen stammen von einem Interview mit Fritzls Schwester. Sie sagte, dass die Mutter einen explosiven Charakter hatte und ihre Kinder durch Gewalt zu kontrollieren versuchte. Josef wuchs ohne Vater auf, seine Mutter erzog ihn mit ihren Fäusten, so die Schwester, und misshandelte ihn so sehr, dass er grün und blau aussah.
Diese Informationen über seine Kindheit sind wichtig. Sie belegen mal wieder, dass extrem grausame Täter durch ihre Tat an sich bereits Zeugnis darüber ablegen, was ihnen selbst angetan wurde. Es ist nicht vorstellbar, dass jemand wie Fritzl liebevoll oder „nur“ gelegentlich mit Gewalt erzogen wurde. Fast 365 Tage im Jahr erlebte er Terror und schwere Misshandlungen durch seine Mutter. Damit gehört er zu einer Minderheit von unter 1 % der Bevölkerung. Von diesen 1 % werden natürlich nicht alle zu einem „Fitzl“ oder ähnlichem Täter. Aber Taten wie seine, können nur auf Grund dieses Fundaments geschehen. Dass die Gutachterin dazu keine deutlichen Worte findet, ist nachlässig, um es milde auszudrücken. Mehr noch, sie verdreht sogar die Analyse, indem sie sagt, dass nicht unbedingt etwas "grob fehlgelaufen sein muss", damit ein Mensch "böse" wird. Aber diese Nachlässigkeit ist sehr oft Standard, wenn es um Aussagen von Psychiatern geht, die bzgl. der Tätergenese befragt werden. Die Psychiater tragen durch diese Blindheit oder durch das Vermeiden deutlicher Worte zur Kindheit mit dazu bei, dass die tieferen Ursachen der Gewalt gesellschaftlich nicht gesehen werden.
Auf die Frage: "Ich bin zur Vergewaltigung geboren", soll Josef Fritzl gesagt haben. Frau Dr. Kastner, steckt Abnormität in den Genen oder was macht Menschen zu grausamen Verbrechern?“ antwortete sie u.a.:
„Ich denke, jeder Mensch ist im Wesentlichen das Produkt seiner genetischen Veranlagung, seiner Biografie und seines Umfeldes. (...) In welchem Ausmaß welcher Faktor zum Tragen kommt, kann man bei keinem mit Sicherheit feststellen. (…)“
An anderer Stelle sagt sie: „Ich habe nicht die Grundhaltung, dass der Mensch an sich ein nur gutes Wesen ist und dass etwas grob fehlgelaufen sein muss, wenn einer böse handelt. Ich denke vielmehr, dass jeder die Veranlagung zu allem hat. Und dieses „alles“ ist ein breites Spektrum.“
Auf die Kindheit des Täters geht sie in diesem Interview überhaupt nicht ein, sondern belässt es bei diesen wagen Andeutungen.
In einem anderen Interview wurde Kastner noch deutlicher:
Frage: "Der berühmte FBI-Profiler John Douglas erklärte, dass alle psychiatrisch relevanten Verbrechen auf einer kaputten Kindheit beruhen."
Kastner: "Das stimmt nicht. Alle Erklärungen, die so einfältig daherkommen, sind mir eigentlich ein Gräuel."
Auf die Frage "Wie schwierig war Fritzls Kindheit?" geht Kastner nur auf die Kindheit seiner Mutter ein.
Dies alles verwundert, da sich Frau Kastner vor Gericht anders und deutlicher geäußert hat.
Der Focus berichtet unter Bezug auf Kastner: „Nachdem Fritzls Mutter geschieden war, bekam sie mit einem neuen Mann ein Kind. Fritzl selbst hatte sich als Alibikind bezeichnet, die Gutachterin nannte es Beweiskind: Die Mutter wollte nach der Demütigung der ersten Ehe beweisen, dass sie nicht unfruchtbar war – mehr Interesse hatte sie nicht an einem Kind, sie verabscheute es sogar. Die Mutter blieb Josef Fritzl gegenüber völlig kalt, sie erkannte nicht, wenn es ihm schlecht ging oder er litt. „Die einzigen Emotionen, die der Angeklagte in seiner Kindheit kannte, waren Angst und Ungewissheit“, sagte Kastner. Als Junge von sieben oder acht Jahren ließ ihn die Mutter allein zu Hause, und er wusste nicht, ob sie zurückkehren würde.“
Im Belfast Telegraph (03.05.2008) finden sich weitere Informationen. Brutale Misshandlungen durch seine Mutter erlebte Josef Fritzl beinahe täglich. Die Informationen stammen von einem Interview mit Fritzls Schwester. Sie sagte, dass die Mutter einen explosiven Charakter hatte und ihre Kinder durch Gewalt zu kontrollieren versuchte. Josef wuchs ohne Vater auf, seine Mutter erzog ihn mit ihren Fäusten, so die Schwester, und misshandelte ihn so sehr, dass er grün und blau aussah.
Diese Informationen über seine Kindheit sind wichtig. Sie belegen mal wieder, dass extrem grausame Täter durch ihre Tat an sich bereits Zeugnis darüber ablegen, was ihnen selbst angetan wurde. Es ist nicht vorstellbar, dass jemand wie Fritzl liebevoll oder „nur“ gelegentlich mit Gewalt erzogen wurde. Fast 365 Tage im Jahr erlebte er Terror und schwere Misshandlungen durch seine Mutter. Damit gehört er zu einer Minderheit von unter 1 % der Bevölkerung. Von diesen 1 % werden natürlich nicht alle zu einem „Fitzl“ oder ähnlichem Täter. Aber Taten wie seine, können nur auf Grund dieses Fundaments geschehen. Dass die Gutachterin dazu keine deutlichen Worte findet, ist nachlässig, um es milde auszudrücken. Mehr noch, sie verdreht sogar die Analyse, indem sie sagt, dass nicht unbedingt etwas "grob fehlgelaufen sein muss", damit ein Mensch "böse" wird. Aber diese Nachlässigkeit ist sehr oft Standard, wenn es um Aussagen von Psychiatern geht, die bzgl. der Tätergenese befragt werden. Die Psychiater tragen durch diese Blindheit oder durch das Vermeiden deutlicher Worte zur Kindheit mit dazu bei, dass die tieferen Ursachen der Gewalt gesellschaftlich nicht gesehen werden.
Freitag, 12. April 2013
"Babydiktator" Kim Jong-un, Kindheit in Korea und Kriegsrhetorik
(Mit freundlicher Erlaubnis von (c) Harm Bengen (www.harmbengen.de), Titel des Bildes "An den Tisch")
In den letzten Wochen waren die Medien täglich voll mit Bildern von dem nordkoreanischen Diktators Kim Jong-un. Wie es eine Diktatur will, werden nur Fotos in die Öffentlichkeit gebracht, die das Regime auch so befürwortet bzw. die man nach außen hin präsentieren will. Zu sehen war i.d.R. Kim Jong-un in schwarzem Mantel, umringt von uniformierten Getreuen, Generälen, Militärs und Beratern, die ihm meist irgendetwas militärisches zeigten. Man bekam das Bild eines politischen Führers, der sich (meist interessiert und gut gelaunt) informiert, zu dem seine Getreuen stehen und der sich Kompetenz aneignet oder auch bereits auszustrahlen versucht. Zudem bekam man das Bild eines Führers, der kriegsbereit ist. Dieses inszenierte Bild passt nicht zu dem, was der Diktator an sich verkörpert. Er ist jung, sehr jung, eher etwas dick, hat fast kindliche Züge, strahlt kaum Autorität aus. Seine Berater - auf den Fotos - dagegen sind oftmals über 60 Jahre alt und sehr erfahren in Politik und Militär. Die Badische Zeitung brachte die emotionale Wirkung unter dem Titel "Zwischen Witzfigur und Schreckgestalt: Kim Jong-un" auch in Worten auf den Punkt:
"Babyface: Wie alt Kim Jong-un ist, steht nicht genau fest. Sein Geburtsjahr wurde von Nordkorea erst mit 1983, später mit 1982 angegeben. Danach wäre er jetzt mindestens 30. Doch er hat – wie der berühmte Gangster "Babyface Nelson" – das Aussehen eines kleinen, dicken Kindes, mit kurzen Gliedmaßen und Pausbacken. Schon das macht es schwer, in ihm mehr als einen Jungen zu sehen, der mit Raketenattrappen spielt. Und doch scheint er – jetzt oder bald – Macht über einsatzfähige Nuklearsprengköpfe zu haben. Weiß er, was er in den Händen hält? Kann man mit so einem unheimlichen Kind reden?"
Dieses Bild wurde auch von vielen Cartoonisten und Karikaturisten aufgenommen und zwar in einer sehr abfälligen Art. Nach nur ca. 45 Minuten Recherche fand ich etliche Bilder, die den Diktator als Baby, Kleinkind oder impotenten Liebhaber darstellen – meist in der englisch sprachigen Presse oder auf englischen Internetseiten. Der Grundtenor der Bilder: Was für ein Waschlappen! Der will wohl Krieg spielen und hat von nichts Ahnung! (siehe weiter unten entsprechende Links) Dieser Druck wird sicher auch bei Kim Jong-un ankommen, natürlich nicht nur durch Cartoons, sondern vor allem durch allgemeine Berichterstattung im Ausland, aber ganz sicher auch auf die eine oder andere Art und Weise aus den eigenen Reihen in Nordkorea.
An dieser Stelle sollte man sich einen Satz des Gefängnispsychiaters James Gilligan vor Augen führen: „The most dangerous men on earth are those who are afraid that they are wimps.” Frei übersetzt: Die gefährlichsten Menschen der Welt sind die, die Angst davor haben, als “Warmduscher” angesehen zu werden. Gefährlich werden diese Menschen deshalb, weil sie als Kind massiv in ihrer Würde verletzt wurden, weil sie keine Liebe erfahren haben und später, als Erwachsene, auf äußere Ablehnung, Demütigungen oder als demütigend empfundene Äußerungen gewalttätig reagieren. Dazu kommen mögliche Gruppenprozesse. Denn den Nordkoreanern wird auferlegt, ihren Führer zu lieben und zu verehren. Wird er beleidigt und verlacht, so trifft dies auch die „Volksseele“ und dies wohl um so mehr, je mehr ebenfalls sehr verletzende und demütigende Erfahrungen in der Kindheit gemacht wurden.
Über die Kindheit von Kim Jong-un konnte ich bisher nicht viel finden. Aber jedem wird klar sein, dass sein Vater nicht gerade ein mitfühlender Mensch gewesen ist, sondern ein Mensch, der Andere knechtet und unterdrückt. Warum sollte er zu seinem Sohn anders oder besonders liebevoll gewesen sein? Über die Kindheiten in Nordkorea konnte ich ebenfalls nicht viel finden, allerdings gibt es einige Daten über Südkorea. Es ist wahrscheinlich, dass diese nicht nur auch für den Norden gelten, sondern dass Kindheit im Norden noch weit aus schlimmer sein wird, als im demokratischen Süden.
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Die Studie „Kim D-H (2000): Children’s Experience of Violence in China and Korea: A Transcultural Study. Child Abuse & Neglect, 18: 155–166” brachte folgende Ergebnisse: Familiäre Gewalt erlebten innerhalb eines Jahres vor der Befragung 68.9% der Kinder in Südkorea. 62 % wurden zudem von Lehrkräften geschlagen.
Die selbe Untersuchung ergab auch, dass in Südkorea 90 % der Eltern körperliche Bestrafungen ihrer Kinder für notwendig halten. (zitiert nach UNICEF, 2006b, S. 52ff)
Eine Studie, in der SchülerInnen direkt befragt wurden, ergab, dass 51,3 % der südkoreanischen Kinder schwere körperliche Gewalt durch ihre Eltern erlebt haben. (Kim DH et al. Children’s experience of violence in China and Korea: a transcultural study. Child Abuse & Neglect, 2000, 24:1163–1173; zitiert nach WHO, 2002, S. 63)
Eine Elternbefragung ergab, dass zwei Drittel aller südkoreanischen Eltern ihre Kinder schlagen; 45% gaben dabei schwerere Gewaltformen an (vgl. Hahm H, Guterman N. (2001):The emerging problem of physical child abuse in South Korea. Child Maltreatment, 6:169–179; zitiert nach WHO, 2002, S. 62).
Eine Befragung von 152 südkoreanischen Kindern ergab, dass 97,4 % körperliche Gewalt in ihrer Familie erleben. Und 93,6 % erlebten körperliche Bestrafungen in der Schule. (Beazley, H. et al (2006): What Children Say: Results of comparative research on the physical and emotional punishment of children in Southeast Asia and Pacific. Save the Children Sweden (Hrsg,). Stockholm. S. 136)
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Das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in Korea ist extrem hoch, zudem sind auch die schweren Gewaltformen nicht selten, sondern betreffen ca. jedes zweite Kind! Wie immer muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass dies relativ aktuelle Zahlen sind. Die Machtmenschen und ranghohen Militärs und Politiker in Korea, die heute über 50 Jahre alt sind, werden vermutlich noch weit aus mehr von Gewalt betroffen gewesen sein, als die späteren Generationen. Zudem sagen Zahlen zur körperlichen Gewalt immer auch etwas zum sonstigen Umgang mit Kindern aus. Wer Kinder misshandelt, der demütigt auch, der hört nicht auf die Bedürfnisse der Kinder, der kann nicht bedingungslos lieben, der ist als Elternteil emotional unreif.
Die emotionale Situation in Korea ist entsprechend brisant. Freund-Feindschemata werden in Krisenzeiten vor allem von den einst geschlagenen Kindern reaktiviert. Aber auch von westlicher Seite drohen destruktive Kindheiten den Eskalationsprozess zu beschleunigen. Kim Jong-un wird – das zeigen die politischen Cartoons – im englischsprachigen Westen zum Teil als launisches Baby/Kleinkind wahrgenommen, das sich „nicht benehmen“ kann. Der nächste Gedanke wäre dann (vor allem wenn als Kind selbst keine friedlichen Konfliktlösungen gelernt wurden), dass dieses "widerspenstige, ungehorsame Kind" eine Lektion und Strafe verdient hat. (Ein interessanter Cartoon aus dem Jahr 2011 zeigt, wie die UN als strafender Vater auftritt, bereit den kleinen Kim Jong-il - der verstorbene Vater von Kim Jong-un - mit einer UN-Rute zu züchtigen. Die Fantasie, dass Nordkorea ein trotziges Kleinkind ist, das körperliche Züchtigung verdient, scheint also schon länger im Raum zu sein.) Wenn sich diese beiden emotionale Prozesse verdichten – also ein sich beschämt, gedemütigt und bevormundet fühlendes Nordkorea, was alte Kindheitstraumata hervorzuholen droht und ein auf Strafe und Sanktionen pochender Westen (wobei Kindheit in den USA und natürlich auch in China ebenfalls sehr gewaltvoll ist), der den ungezogenen „Babydiktator“ endlich in seine Schranken weist – dann droht der Konflikt in der Tat kriegerisch zu werden. Die meisten Kommentatoren wundern sich auch über das Agieren des kleinen und vollkommen unterlegenen Nordkorea. Sie vergessen dabei, dass das politische Agieren in einem Land, in dem eine riesige Mehrheit als Kind von den Eltern verletzt wird, vor allem emotional gelenkt oder besser gesagt emotional gestört ist. Das kann auch bedeuten, dass man sich selbst ohne Weiteres zu opfern bereit ist, alleine aus dem Grund, dass man die Beschämungen von Außen und den drohenden inneren Zusammenbruch (weil misshandelte Menschen oftmals keine feste, sichere Identität aufbauen können) unerträglich findet. „Lieber tot, als beschämt und vor dem eigenen inneren Nichts stehend.“ Dies ist die aktuelle Gefahr in Korea! Die Prozesse sind also nicht nur durch Logik zu lösen, sondern man muss auch oder besser gesagt viel mehr die emotionale Lage der Beteiligten berücksichtigen. Das bedeutet, dass Politik Berater braucht, die sich mit emotionalen Prozessen bei Menschen auskennen. Das bedeutet u.a. auch, man muss Nordkorea ernster nehmen, emphatisch auf sie zugehen und das Land und seinen jungen Führer nicht beschämen. Akut Selbstmord gefährdete Menschen schreit man nicht aus der Ferne an und droht ihnen, was ihnen alles passieren wird, wenn sie nicht gehorchen.
Einige Cartoons über Kim Jong-un:
Kim Jong-un als...
impotenter Liebhaber (Daily News)
als impotenter Liebhaber
als Mann, der eine Unterhose mit Raketen bedruckt trägt und sich dadurch potent fühlt
als impotenter Liebhaber mit kleinem Penis
(auf dem SPIEGEL Titelbild der Ausgabe 15/2013 sitzt der Diktator auf einer Atomrakete, so dass die Rakete wie ein Phallussymbol wirkt. Auch hier die Andeutung, dass seine Kriegsdrohungen etwas mit der Angst zu tun haben, nicht potent und kompetent zu wirken.)
als Kind, das mit seiner Playstation Krieg spielt
als Comic-Kind, der eine Rakete in der Hand hält und ausruft: „Respect my Autoritah!“
als Jugendlicher, der mit echten Raketen wie mit Feuerwerkskörpern hantiert
als Kleinkind, das beim Anblick von Raketen ausruft: "Toys!" (Spielzeug!):
als Kleinkind mit Teddy, der eine Rakete zu Weihnachten bekommt
als Baby, das mit Totenköpfen in einem Zimmer sitzt
als Baby, das mit Atomraketen spielt
als Baby, dass eine Atomrakete als Saugflasche benutzt
als Baby, das den roten Knopf drückt
als Baby mit Windel
als Baby mit Raketenrassel
als Kleinkind, das an seinem Schreibtisch vor zwei roten Knöpfen sitzt. Ein Mann im Anzug sagt: "Sei vorsichtig. Mit dem einen Knopf rufst Du Deine Mutti an. Mit dem anderen löst Du einen nuklearen Feuersturm aus."
als großes Baby. Überschrift: Das größte Baby der Welt. Es ruft. "Waaaaah! Beachtet mich oder ich werde Los Angeles auslöschen!" In der Hand hält er eine Rakate. (veröffentlich in der Los Angeles Times).
als Baby, das mit einem Hammer auf eine Atomrakete hauen möchte. (veröffentlicht in der Denver Post)
Als Baby mit Rakete als Rassel (veröffentlicht bei topnewstoday)
als Baby mit Rakate
als Baby mit Rakete
als trotziges Kleinkind, das an den Tisch zitiert wird (siehe auch Bild eingangs des Blogbeitrages)
als Kleinkind-Cowboy mit großem Kopf, das aus seinem Kinder-Buggy ("Made in China") aussteigt und eine Rakete als Pistole hat.
als Schüler, der zur Strafe in der Ecke sitzen muss. Auf dem Rücken ein Schild: "Spielt nicht gut mit Anderen zusammen."
Nachtrag:
Der Kabarettist Andreas Rebers in der ca. 33. Minute von „Neues aus der Anstalt“ im ZDF, Sendung vom 28.05.2013: „Warum sind alle gegen Gewalt? Ich meine Nordkorea, dass da mal einer hinfährt, und dieses dicke kommunistische Kind einfach mal nach allen Regeln der Kunst verprügelt mit einer Dachlatte den Arsch durchwalgt (längere Pause weil das Publiukum lacht und applaudiert) bis er heult und sagt „bitte, bitte hört auf, ich will es auch nie wieder tun" und dann kommen diese Tugendbolde und sagen „Gewalt ist keine Lösung“, na gut, gibt es eben Krieg.„
Mittwoch, 10. April 2013
Neue UNICEF Vergleichsstudie - Gewalt gegen Kinder wurde ausgeblendet
Die neue vergleichende „UNICEF-Studie zur Lage der Kinder in Industrieländern“ ist veröffentlicht worden. Deutschland belegt insgesamt
den Rang 6. Nicht weiter verwunderlich ist, dass die USA wieder sehr schlecht
abgeschnitten haben, sie belegen Platz 26 von 29.
Die Macher der Studie haben angemerkt, dass sie keine Daten
zur Kindesmisshandlung- und –vernachlässigung aufnehmen konnten, weil es keine
vergleichbaren Daten gibt. Außerdem sei es schwierig, eine einheitliche Definition
zu finden, was denn alles unter Gewalt zu verstehen sei. (siehe Seite 15 im Bericht)
Interessant ist, dass UNICEF es in einer 2010 veröffentlichten Studie geschafft hat, das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder für
diverse Schwellen- und Entwicklungsländer zu erfassen. Es wurden klare
Definitionen aufgestellt und vergleichbare Daten gesammelt. Das selbe schaffte
UNICEF auch in einer 2009 veröffentlichten Studie.
Warum gelingt dies außerhalb des eigenen Lebenszirkels (denn
UNICEF wird ja weitgehend aus den Industrienationen heraus finanziert und
organisiert) und nicht in dem eigenen?
Eine für Kinder sehr bedeutsame Lebenssituation wurde also
erneut in der o.g. Vergleichsstudie ausgelassen. Dies stellt einen wesentlichen
Mangel dar, der unbedingt bis zur nächsten Vergleichsstudie behoben werden
sollte. Denn wie kann man die Lebenssituation und das gefühlte Glück von Kindern
erfassen, wenn man sich nicht mit der Gewalt befasst, die immer noch eine
Mehrheit auch in vielen Industrienationen in den Familien erlebt?
Samstag, 9. Februar 2013
Kindheit von Rudolf Heß
Rudolf Heß in einem Brief an seine Eltern vom 24.04.1925, in dem er sich und seine starke Anbindung an Hitler erklärte. „(…) Ich habe mich ja seinerzeit so gefreut, als nach dem November 23 (Anmerkung: Gemeint ist der 23.11.1923, als die NSDAP reichsweit verboten wurde), da fast alle wankten, Ihr unerschüttert zum Tribunen (Anmerkung: Gemeint ist Adolf Hitler) standet … Und lieber Gott, im Grunde seid Ihr ja eigentlich selbst daran schuld, dass ich so geworden bin und also so handeln muss …“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S. 444)
Die Kindheit von Rudolf Hess ergänzt das Bild, dass ich bisher über einzelne NS-Täter gezeichnet habe. Dazu im Text unten mehr. Allerdings ergänzt auch die Arbeit der Historiker Manfred Weißbecker (Jahrgang 1935) und Kurt Pätzold (Jahrgang 1930) das Bild, das ich immer wieder bei meinen Recherchen über die Kindheit diverser Diktatoren und ähnlicher Akteure fand. Die destruktive Kindheit wird zwar von den Historikern wahrgenommen und erwähnt, aber erstens nicht weitgehend ausgeführt und zweitens dementsprechend so kommentiert, dass ihr kaum Bedeutung beigemessen wird. Zunächst beginnen die Autoren ihre Schilderungen über die Familienatmosphäre so: Die Kinder „wuchsen in wohlhabenden Verhältnissen und sorglos auf; später wird Heß einmal den Eltern danken: »Wir haben eine freudenreiche und glänzende Jugend gehabt, wie man sie sich schöner und abwechslungsreicher nicht vorstellen kann.«“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S. 15) Diese Beschreibung einer „sorglosen“ Kindheit mag stimmen, wenn es um die finanziellen Verhältnisse und den Status der Familie ging, denn diese waren dank lukrativer Geschäfte in Ägypten (wo die Familie die ersten Lebensjahre von Rudolf ihren Hauptwohnsitz hatte) sehr gut. Die emotionale Situation war allerdings alles andere als sorglos, was auch die beiden Autoren kurz beschreiben.“Das Geschäft diktiert den Ablauf der Tage und wohl auch den Umgangston im Hause. Äußerste Pünktlichkeit, penible Ordnung und uneingeschränkte Disziplin galten als höchste Werte des patriarchalisch herrschenden Vaters, eines typischen Angehörigen stramm national gesinnter Schichten des deutschen Bürgertums.“ (ebd.: S. 17)
Aber gleich danach merken Sie an: „In der historischen Literatur ist immer wieder auf die Strenge des Vaters verwiesen worden. Spätere Entwicklungen und Verhaltensweisen des »Führer-Stellvertreters» sollen damit verstehbar werden. Psychoanalytische Deutungen dieser Art treffen gewiss zu, sie reichen jedoch keineswegs aus, alle Ursachen und die wesentlichsten Rahmenbedingungen der Sozialisation von Rudolf Heß zu erhellen. Mitunter verdecken sie andere, wichtigere Umstände und Faktoren.“ (ebd.: S. 17) Dann kritisieren sie auch noch die Quellenlage. Vieles sei aus den Erinnerungen von Rudolf Heß selbst überliefert, als er bereits an der Spitze der NSDAP stand oder aus seiner Zeit im Gefängnis. (wo ich mich frage, warum denn diese Erinnerungen keine Gültigkeit haben sollten?). Zudem kritisieren sie „manches, was von Autor zu Autor übernommen worden ist (…)“ (ebd.: S. 17), ohne zu erwähnen, welche Autoren sie meinen und was „manches“ bedeutet. Zumindest haben auch Pätzold und Weißbecker die Strenge des Vaters wahrgenommen, in dem sie oben die Werte des „patriarchalisch herrschenden Vaters“ beschreiben und etwas weiter im Text - nebenbei -von dem „oft als tyrannisch geschilderten Vater“ (ebd.: S. 21) berichten. Diesen Widerwillen gegenüber Kindheitseinflüssen auf politisches Verhalten und deren entsprechend geringer Gewichtung habe ich derart oft in Büchern von Historikern wahrgenommen, dass dies fast schon eine gesonderte, systematische Analyse Wert wäre.
Deutlichere Worte fand allerdings der Historiker Rainer F. Schmidt (Jahrgang 1955). „Alle Psychiater, die sich in späteren Jahren mit dem Charakter und der Persönlichkeitsstruktur von Rudolf Heß, mit seiner Fixierung auf Hitler und die Kommandowelt des Totalitären beschäftigen, stimmen darin überein, dass der Schlüssel für diese Disposition in der Phase der primären Sozialisation, in der Jugend mit einem strengen und übermächtigen Vater zu suchen ist.“ (Schmidt, 1997: S. 37) Schmidt berichtet über die Familie Heß: „Zum prägenden Faktor seiner frühen Jahre wurde eben jener strenge, polternde und keinen Widerspruch duldende Vater, der nach Rudolfs eigenen Worten »bleichen Schrecken bei seiner Brut« verbreitete.“ (ebd.: S. 38) Der ganze Tagesablauf der Familie war auf die Ansprüche des Vaters abgestimmt. „(…) von den vollzählig versammelten Familienmitgliedern erdreistete sich niemand, ein Wort zu sprechen, solange der Vater nicht geruhte, das Gespräch zu eröffnen. Er war es, der das Lachen der spielenden Kinder zum Verstummen brachte, wenn er das Haus betrat (…)“ (ebd.: S. 38,39) Der Vater zwang seinen Sohn auch - trotz anderer Befähigungen und Interessen- in den Kaufmannsberuf. Schmidt zitiert Heß wörtlich im Rückblick auf eine Szene: „Als eines Tages der liebe Vater feierlich die ernste Frage an mich stellte, was ich werden wollte – in dem Ton, bei dem allein uns schon das Blut zu gerinnen drohte …, da kam es mir gar nicht in den Sinn, etwas anderes zu stottern als «Kaufmann».“ (ebd.: S. 39)
Schmidt ergänzt danach, dass immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass viele führende Nationalsozialsten aus strengen Elternhäusern stammten und Hitler wiederum von den „Erziehungsschäden einer Epoche profitierte, die ihre pädagogischen Leitbilder von den Kasernenhöfen holte und ihre Söhne in den Härtekategorien von Kadetten aufzog“ (ebd..: S. 39; hier zitiert er Joachim Fest). Eine erstaunliche (weil relativ seltene) Aussage, deren Wahrheitsgehalt ich mich anschließe, sie trifft aber nicht meine Wahrnehmung bzgl. der Geschichtswissenschaft, dies diese Zusammenhänge oft unter den Tisch kehrt. (Zudem ist das Wort „streng“ wohl etwas verharmlosend, wenn man um die Realität der Kindheit im Deutschen Reich um 1900 weiß.) Rudolf Heß, so Schmidt weiter, „der unsäglich unter der tyrannischen Natur seines Vaters (…) litt, die immer wieder seinen Willen brach und die Basis schuf für die Anfälligkeit gegenüber und die Suche nach einem «Ersatzvater», entsprach exakt diesem Typus.“ (ebd.: S. 39)
Es bleibt unserer Vorstellungskraft überlassen, was sich alles an Gewalt, Gewaltformen und Gewaltandrohung im Hause Heß abgespielt hat. Wenn schon der Tonfall des Vaters das Blut des Sohnes gerinnen ließ, wie dieser es bildlich ausdrückte und der Vater „blanken Schrecken“ bei den Kindern verbreitete, was geschah dann eigentlich, wenn der Vater offen Strafen ausführte oder sich Launen hingab? Die Historiker lassen diese Frage offen. Ich halte es nach den o.g. Schilderungen für sehr sehr wahrscheinlich, dass Rudolfs Vater auch direkt körperliche Gewalt anwandte, sein Charakter und die Sitte der Zeit legen dies sehr nahe.
Es ist bezeichnend, dass man über die Mütter solcher historischen Persönlichkeiten meist weitaus weniger erfährt, als über die Väter. Dabei sind es ja vor allem die Mütter, die historisch die wesentlichen Erziehungsaufgaben übernahmen. Man kann sich auf Grund von zwei Zeugnissen und etwas Vorstellungskraft ausmalen, dass Rudolfs Mutter keine besonders mitfühlende Person/Mutter war. Von der Mutter erfuhr Rudolf während seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg direkten Zuspruch. Sie schrieb. „Wäre ich ein Mann in der Blüte der Jahre, ich würde auch mit Begeisterung für mein Vaterland kämpfen. Ich will versuchen, wenn auch nicht als Soldat, so doch für das Wohl der Zurückgebliebenen meine Kraft mit zu verwenden.“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S.22) Mit dieser Einstellung entsprach sie sicherlich den meisten Müttern der Zeit. Doch waren das herzliche, mitfühlende Mütter, die derart kriegsbegeistert waren? Noch deutlicher wird es an anderer Stelle. Bei beiden Heß Eltern kam Unmut auf, weil ihr Sohn im Ersten Weltkrieg anfänglich Reservist war und nicht sofort auf eines der umkämpften Schlachtfelder kam. „Klara Heß zeigte sich sechs Wochen nach Kriegsbeginn furchtbar enttäuscht, dass ihr Sohn immer noch «zurückgehalten» werde, seine «junge Kraft für die Freiheit des teuren Vaterlandes einzusetzen»“ (ebd.: S. 23) Und sie beteuerte: „Wir geben Dich dem Vaterland, kommst Du uns lebend zurück, so sehen wir dieses Glück als ein Geschenk Gottes an.“ (ebd.: S. 23) Was ist das für eine Mutter (und wie sah ihr Umgang früher ihren Kindern gegenüber aus), die derart bereitwillig ihren Sohn in den wahrscheinlichen Tod laufen lässt; die ihren Sohn geradezu zu opfern bereit ist?
Arno Gruen hat unter dem Zwischen-Titel „Der reduzierte Mensch“ (Gruen, 2002: S. 164) u.a. Rudolf Heß als Paradebeispiel für einen Menschen ausgewählt, der innerlich leer ist, „eines Ich ohne eigenes Selbst (…); eines Menschen, der keine eigene Identität entwickeln konnte und deshalb jemanden sucht, dem er sich bedingungslos unterwerfen kann. (…) Ein solcher Mensch ist völlig gefangen und völlig beherrscht von dem Diktat des Gehorsams, der ihm auferlegt wurde.“ (ebd.: S. 177,178) Diese innere „Fremdsein“ brachte Heß auch selbst deutlich zum Ausdruck. „Wenige Tage vor dem ersten Putsch der deutschen Faschisten bekante er, wie es um seine Gemütsverfassung stand. Er kenne sich nicht mehr aus in sich, so klagte er im Oktober 1923. Er meinte, sich als eine «eigentümliche Mischung» sehen zu müssen, woraus Spannungen entstünden, die ihm das Leben zeitweise so schwer machten. (…) «ich kenn` mich nicht aus mit mir. Sind`s moderne Kulturnerven in ihren Extremen, ist´s etwas Ungehobenes, das vorerst vergeblich nach einem Ausweg sucht, ich weiß es nicht»“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S.13,14)
Mir ist bzgl. Heß ergänzen aufgefallen, dass dieser grundsätzlich sehr selbstmordgefährdet war. Alleine schon sein begeisterter freiwilliger Kriegseintritt im Ersten Weltkrieg ist ein Zeichen dafür. Freudig zog er in die Todeszone, wie so viele Deutsche dieser Zeit. In einem Gedicht, in dem Heß seine Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg beschreibt, findet sich folgende erhellende und im Grunde alles sagende Stelle.
„(…) He, Franzmann, das ist böser Morgengruß!
Ihr dort müsst sterben, dass wir leben können,
wir selbst und unser ganzes armes Volk (…).“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S. 437)
Oder auch ein anderer Ausschnitt aus dieser Zeit: „Die Landschaft weiß von Schnee, Sternhimmel funkelt. … Brennende Ortschaften! Packend schön, Krieg!“ (Schmidt, 1997: S. 40)
Diese „Leben suchen“ im Tod (sowohl des Eigenen als auch des Anderen) ist etwas, das Arno Gruen in seinen Bücher oft beschrieben hat. Es ist die Suche des innerlich nicht Lebendigen, identitätslosen Menschen nach Leben und Fühlen, in einer pervertierten Form. Dies ist auch etwas, dass Mörder/Serienmörder beschrieben haben. (siehe hier und hier)
Nach dem Waffenstillstand und der Niederlage des Deutschen Reiches fühlte sich Heß im „schwersten Augenblicke“ seines Lebens. „An den Frieden darf man nicht denken.“ schrieb er nach Hause.„ (Schmidt, 1997: S. 42,43) Rachefantasien hielten ihn aufrecht, so scheint es. Denn zunächst dachte er nach dem Friedensschluss an Selbstmord. „Und das Leiden der Mehrheit der Guten der Heimat soll umsonst gewesen sein? … Nein, wär´s umsonst gewesen, bereute ich heute noch, dass ich am Tag, da die ungeheuerlichen Waffenstillstandsbedingungen und ihre Annahme bekannt wurden, ich mir nicht eine Kugel durchs Hirn jagte. Ich tat es damals nicht in der einzigen Hoffnung: Du kannst noch irgendwie dein Teilchen beitragen zur Wendung des Schicksals.“ (ebd.: S. 43)
Am 15. Oktober 1941 begeht Heß in britischer Haft einen Selbstmordversuch. Er leidet in der Folgezeit an Nervenkrankheiten. Am 17. August 1987 begeht Heß am Ende seiner Tage im Gefängnis in Spandau Selbstmord (Deutsches Historisches Museum, 2009) Auf Wikipedia sind weitere drei Selbstmordversuche beschrieben, die Quellen dafür kann ich allerdings hier nicht weiter nachverfolgen.
Heß, der keine eigene Identität besaß und der in der Folge von (Selbst-)Hass durchzogen war, suchte den Tod, den eigenen, wie auch den von Millionen anderer Menschen.
Zum Abschluss noch eine persönliche Anmerkung. Wenn ich mir Fotos von Heß anschaue, dann springt mich die „innere Leblosigkeit“ dieses Mannes geradezu an. Tief verborgene, schattige Augenpartie, ungemein gerade und nichts-sagende Gesichtszüge, ein flacher Mund, leere Augen und Kälte. Der Gefängnis-Psychiater James Gilligan hat die von ihm untersuchten Mörder als „Untote“ bezeichnet, innerlich tot, körperlich am Leben. Rudolf Heß passt genau in diese Kategorie Mensch.
Quellen:
Deutsches Historisches Museum (2009): Biographie: Rudolf Heß. 1894-1987.
.
Gruen, Arno (2002): Der Fremde in uns. München. Deutscher Taschenbuch Verlag.
Pätzold, Kurt und Weißbecker, Manfred (2007): Rudolf Heß. Der Mann an Hitlers Seite. Leibzig. Militzke Verlag.
Schmidt, Rainer F. (1997): Rudolf Heß. "Botengang eines Toren"?, Der Flug nach Großbritannien vom 10. Mai 1941. Düsseldorf. ECON Verlag.
Die Kindheit von Rudolf Hess ergänzt das Bild, dass ich bisher über einzelne NS-Täter gezeichnet habe. Dazu im Text unten mehr. Allerdings ergänzt auch die Arbeit der Historiker Manfred Weißbecker (Jahrgang 1935) und Kurt Pätzold (Jahrgang 1930) das Bild, das ich immer wieder bei meinen Recherchen über die Kindheit diverser Diktatoren und ähnlicher Akteure fand. Die destruktive Kindheit wird zwar von den Historikern wahrgenommen und erwähnt, aber erstens nicht weitgehend ausgeführt und zweitens dementsprechend so kommentiert, dass ihr kaum Bedeutung beigemessen wird. Zunächst beginnen die Autoren ihre Schilderungen über die Familienatmosphäre so: Die Kinder „wuchsen in wohlhabenden Verhältnissen und sorglos auf; später wird Heß einmal den Eltern danken: »Wir haben eine freudenreiche und glänzende Jugend gehabt, wie man sie sich schöner und abwechslungsreicher nicht vorstellen kann.«“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S. 15) Diese Beschreibung einer „sorglosen“ Kindheit mag stimmen, wenn es um die finanziellen Verhältnisse und den Status der Familie ging, denn diese waren dank lukrativer Geschäfte in Ägypten (wo die Familie die ersten Lebensjahre von Rudolf ihren Hauptwohnsitz hatte) sehr gut. Die emotionale Situation war allerdings alles andere als sorglos, was auch die beiden Autoren kurz beschreiben.“Das Geschäft diktiert den Ablauf der Tage und wohl auch den Umgangston im Hause. Äußerste Pünktlichkeit, penible Ordnung und uneingeschränkte Disziplin galten als höchste Werte des patriarchalisch herrschenden Vaters, eines typischen Angehörigen stramm national gesinnter Schichten des deutschen Bürgertums.“ (ebd.: S. 17)
Aber gleich danach merken Sie an: „In der historischen Literatur ist immer wieder auf die Strenge des Vaters verwiesen worden. Spätere Entwicklungen und Verhaltensweisen des »Führer-Stellvertreters» sollen damit verstehbar werden. Psychoanalytische Deutungen dieser Art treffen gewiss zu, sie reichen jedoch keineswegs aus, alle Ursachen und die wesentlichsten Rahmenbedingungen der Sozialisation von Rudolf Heß zu erhellen. Mitunter verdecken sie andere, wichtigere Umstände und Faktoren.“ (ebd.: S. 17) Dann kritisieren sie auch noch die Quellenlage. Vieles sei aus den Erinnerungen von Rudolf Heß selbst überliefert, als er bereits an der Spitze der NSDAP stand oder aus seiner Zeit im Gefängnis. (wo ich mich frage, warum denn diese Erinnerungen keine Gültigkeit haben sollten?). Zudem kritisieren sie „manches, was von Autor zu Autor übernommen worden ist (…)“ (ebd.: S. 17), ohne zu erwähnen, welche Autoren sie meinen und was „manches“ bedeutet. Zumindest haben auch Pätzold und Weißbecker die Strenge des Vaters wahrgenommen, in dem sie oben die Werte des „patriarchalisch herrschenden Vaters“ beschreiben und etwas weiter im Text - nebenbei -von dem „oft als tyrannisch geschilderten Vater“ (ebd.: S. 21) berichten. Diesen Widerwillen gegenüber Kindheitseinflüssen auf politisches Verhalten und deren entsprechend geringer Gewichtung habe ich derart oft in Büchern von Historikern wahrgenommen, dass dies fast schon eine gesonderte, systematische Analyse Wert wäre.
Deutlichere Worte fand allerdings der Historiker Rainer F. Schmidt (Jahrgang 1955). „Alle Psychiater, die sich in späteren Jahren mit dem Charakter und der Persönlichkeitsstruktur von Rudolf Heß, mit seiner Fixierung auf Hitler und die Kommandowelt des Totalitären beschäftigen, stimmen darin überein, dass der Schlüssel für diese Disposition in der Phase der primären Sozialisation, in der Jugend mit einem strengen und übermächtigen Vater zu suchen ist.“ (Schmidt, 1997: S. 37) Schmidt berichtet über die Familie Heß: „Zum prägenden Faktor seiner frühen Jahre wurde eben jener strenge, polternde und keinen Widerspruch duldende Vater, der nach Rudolfs eigenen Worten »bleichen Schrecken bei seiner Brut« verbreitete.“ (ebd.: S. 38) Der ganze Tagesablauf der Familie war auf die Ansprüche des Vaters abgestimmt. „(…) von den vollzählig versammelten Familienmitgliedern erdreistete sich niemand, ein Wort zu sprechen, solange der Vater nicht geruhte, das Gespräch zu eröffnen. Er war es, der das Lachen der spielenden Kinder zum Verstummen brachte, wenn er das Haus betrat (…)“ (ebd.: S. 38,39) Der Vater zwang seinen Sohn auch - trotz anderer Befähigungen und Interessen- in den Kaufmannsberuf. Schmidt zitiert Heß wörtlich im Rückblick auf eine Szene: „Als eines Tages der liebe Vater feierlich die ernste Frage an mich stellte, was ich werden wollte – in dem Ton, bei dem allein uns schon das Blut zu gerinnen drohte …, da kam es mir gar nicht in den Sinn, etwas anderes zu stottern als «Kaufmann».“ (ebd.: S. 39)
Schmidt ergänzt danach, dass immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass viele führende Nationalsozialsten aus strengen Elternhäusern stammten und Hitler wiederum von den „Erziehungsschäden einer Epoche profitierte, die ihre pädagogischen Leitbilder von den Kasernenhöfen holte und ihre Söhne in den Härtekategorien von Kadetten aufzog“ (ebd..: S. 39; hier zitiert er Joachim Fest). Eine erstaunliche (weil relativ seltene) Aussage, deren Wahrheitsgehalt ich mich anschließe, sie trifft aber nicht meine Wahrnehmung bzgl. der Geschichtswissenschaft, dies diese Zusammenhänge oft unter den Tisch kehrt. (Zudem ist das Wort „streng“ wohl etwas verharmlosend, wenn man um die Realität der Kindheit im Deutschen Reich um 1900 weiß.) Rudolf Heß, so Schmidt weiter, „der unsäglich unter der tyrannischen Natur seines Vaters (…) litt, die immer wieder seinen Willen brach und die Basis schuf für die Anfälligkeit gegenüber und die Suche nach einem «Ersatzvater», entsprach exakt diesem Typus.“ (ebd.: S. 39)
Es bleibt unserer Vorstellungskraft überlassen, was sich alles an Gewalt, Gewaltformen und Gewaltandrohung im Hause Heß abgespielt hat. Wenn schon der Tonfall des Vaters das Blut des Sohnes gerinnen ließ, wie dieser es bildlich ausdrückte und der Vater „blanken Schrecken“ bei den Kindern verbreitete, was geschah dann eigentlich, wenn der Vater offen Strafen ausführte oder sich Launen hingab? Die Historiker lassen diese Frage offen. Ich halte es nach den o.g. Schilderungen für sehr sehr wahrscheinlich, dass Rudolfs Vater auch direkt körperliche Gewalt anwandte, sein Charakter und die Sitte der Zeit legen dies sehr nahe.
Es ist bezeichnend, dass man über die Mütter solcher historischen Persönlichkeiten meist weitaus weniger erfährt, als über die Väter. Dabei sind es ja vor allem die Mütter, die historisch die wesentlichen Erziehungsaufgaben übernahmen. Man kann sich auf Grund von zwei Zeugnissen und etwas Vorstellungskraft ausmalen, dass Rudolfs Mutter keine besonders mitfühlende Person/Mutter war. Von der Mutter erfuhr Rudolf während seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg direkten Zuspruch. Sie schrieb. „Wäre ich ein Mann in der Blüte der Jahre, ich würde auch mit Begeisterung für mein Vaterland kämpfen. Ich will versuchen, wenn auch nicht als Soldat, so doch für das Wohl der Zurückgebliebenen meine Kraft mit zu verwenden.“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S.22) Mit dieser Einstellung entsprach sie sicherlich den meisten Müttern der Zeit. Doch waren das herzliche, mitfühlende Mütter, die derart kriegsbegeistert waren? Noch deutlicher wird es an anderer Stelle. Bei beiden Heß Eltern kam Unmut auf, weil ihr Sohn im Ersten Weltkrieg anfänglich Reservist war und nicht sofort auf eines der umkämpften Schlachtfelder kam. „Klara Heß zeigte sich sechs Wochen nach Kriegsbeginn furchtbar enttäuscht, dass ihr Sohn immer noch «zurückgehalten» werde, seine «junge Kraft für die Freiheit des teuren Vaterlandes einzusetzen»“ (ebd.: S. 23) Und sie beteuerte: „Wir geben Dich dem Vaterland, kommst Du uns lebend zurück, so sehen wir dieses Glück als ein Geschenk Gottes an.“ (ebd.: S. 23) Was ist das für eine Mutter (und wie sah ihr Umgang früher ihren Kindern gegenüber aus), die derart bereitwillig ihren Sohn in den wahrscheinlichen Tod laufen lässt; die ihren Sohn geradezu zu opfern bereit ist?
Arno Gruen hat unter dem Zwischen-Titel „Der reduzierte Mensch“ (Gruen, 2002: S. 164) u.a. Rudolf Heß als Paradebeispiel für einen Menschen ausgewählt, der innerlich leer ist, „eines Ich ohne eigenes Selbst (…); eines Menschen, der keine eigene Identität entwickeln konnte und deshalb jemanden sucht, dem er sich bedingungslos unterwerfen kann. (…) Ein solcher Mensch ist völlig gefangen und völlig beherrscht von dem Diktat des Gehorsams, der ihm auferlegt wurde.“ (ebd.: S. 177,178) Diese innere „Fremdsein“ brachte Heß auch selbst deutlich zum Ausdruck. „Wenige Tage vor dem ersten Putsch der deutschen Faschisten bekante er, wie es um seine Gemütsverfassung stand. Er kenne sich nicht mehr aus in sich, so klagte er im Oktober 1923. Er meinte, sich als eine «eigentümliche Mischung» sehen zu müssen, woraus Spannungen entstünden, die ihm das Leben zeitweise so schwer machten. (…) «ich kenn` mich nicht aus mit mir. Sind`s moderne Kulturnerven in ihren Extremen, ist´s etwas Ungehobenes, das vorerst vergeblich nach einem Ausweg sucht, ich weiß es nicht»“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S.13,14)
Mir ist bzgl. Heß ergänzen aufgefallen, dass dieser grundsätzlich sehr selbstmordgefährdet war. Alleine schon sein begeisterter freiwilliger Kriegseintritt im Ersten Weltkrieg ist ein Zeichen dafür. Freudig zog er in die Todeszone, wie so viele Deutsche dieser Zeit. In einem Gedicht, in dem Heß seine Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg beschreibt, findet sich folgende erhellende und im Grunde alles sagende Stelle.
„(…) He, Franzmann, das ist böser Morgengruß!
Ihr dort müsst sterben, dass wir leben können,
wir selbst und unser ganzes armes Volk (…).“ (Pätzold und Weißbecker, 2007: S. 437)
Oder auch ein anderer Ausschnitt aus dieser Zeit: „Die Landschaft weiß von Schnee, Sternhimmel funkelt. … Brennende Ortschaften! Packend schön, Krieg!“ (Schmidt, 1997: S. 40)
Diese „Leben suchen“ im Tod (sowohl des Eigenen als auch des Anderen) ist etwas, das Arno Gruen in seinen Bücher oft beschrieben hat. Es ist die Suche des innerlich nicht Lebendigen, identitätslosen Menschen nach Leben und Fühlen, in einer pervertierten Form. Dies ist auch etwas, dass Mörder/Serienmörder beschrieben haben. (siehe hier und hier)
Nach dem Waffenstillstand und der Niederlage des Deutschen Reiches fühlte sich Heß im „schwersten Augenblicke“ seines Lebens. „An den Frieden darf man nicht denken.“ schrieb er nach Hause.„ (Schmidt, 1997: S. 42,43) Rachefantasien hielten ihn aufrecht, so scheint es. Denn zunächst dachte er nach dem Friedensschluss an Selbstmord. „Und das Leiden der Mehrheit der Guten der Heimat soll umsonst gewesen sein? … Nein, wär´s umsonst gewesen, bereute ich heute noch, dass ich am Tag, da die ungeheuerlichen Waffenstillstandsbedingungen und ihre Annahme bekannt wurden, ich mir nicht eine Kugel durchs Hirn jagte. Ich tat es damals nicht in der einzigen Hoffnung: Du kannst noch irgendwie dein Teilchen beitragen zur Wendung des Schicksals.“ (ebd.: S. 43)
Am 15. Oktober 1941 begeht Heß in britischer Haft einen Selbstmordversuch. Er leidet in der Folgezeit an Nervenkrankheiten. Am 17. August 1987 begeht Heß am Ende seiner Tage im Gefängnis in Spandau Selbstmord (Deutsches Historisches Museum, 2009) Auf Wikipedia sind weitere drei Selbstmordversuche beschrieben, die Quellen dafür kann ich allerdings hier nicht weiter nachverfolgen.
Heß, der keine eigene Identität besaß und der in der Folge von (Selbst-)Hass durchzogen war, suchte den Tod, den eigenen, wie auch den von Millionen anderer Menschen.
Zum Abschluss noch eine persönliche Anmerkung. Wenn ich mir Fotos von Heß anschaue, dann springt mich die „innere Leblosigkeit“ dieses Mannes geradezu an. Tief verborgene, schattige Augenpartie, ungemein gerade und nichts-sagende Gesichtszüge, ein flacher Mund, leere Augen und Kälte. Der Gefängnis-Psychiater James Gilligan hat die von ihm untersuchten Mörder als „Untote“ bezeichnet, innerlich tot, körperlich am Leben. Rudolf Heß passt genau in diese Kategorie Mensch.
Quellen:
Deutsches Historisches Museum (2009): Biographie: Rudolf Heß. 1894-1987.
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Gruen, Arno (2002): Der Fremde in uns. München. Deutscher Taschenbuch Verlag.
Pätzold, Kurt und Weißbecker, Manfred (2007): Rudolf Heß. Der Mann an Hitlers Seite. Leibzig. Militzke Verlag.
Schmidt, Rainer F. (1997): Rudolf Heß. "Botengang eines Toren"?, Der Flug nach Großbritannien vom 10. Mai 1941. Düsseldorf. ECON Verlag.
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