Ich habe kürzlich den Beitrag „Kindheit in den USA“ etwas ergänzt. Und zwar um Daten aus der sogenannten ACE-Studie, Zahlen aus Befragungen - surveyusa - zur Akzeptanz von Gewalt gegen Kinder und um Zahlen aus der Studie „International Variations in Harsh Child Discipline“.
Besonders erwähnen möchte ich die Zahlen zur Akzeptanz der Gewalt (siehe Quelle hier):
Im Jahr 2005 wurden in allen 50 US-Bundesstaaten jeweils 600 Erwachsene befragt (surveyusa, Disciplining a Child). Im Schnitt sagten 72 % aller Befragten, dass es in Ordnung sei, ein Kind zu schlagen (um es zu disziplinieren). (In Alabama gab es dabei die höchste Zustimmung mit 87 %, die niedrigste mit 55 % in Vermont)
31 % meinten, dass es in Ordnung sei, den Mund eines Kindes mit Seife "auszuwaschen". (Etwas, dass in den USA als Bestrafungsform für z.B. das Benutzen von Schimpfwörtern benutzt wird. Auf Wikipedia gibt es sogar einen eigenen Artikel dazu.) Und 23 % meinten, dass es in Ordnung für einen Lehrer sei, Schüler körperlich zu bestrafen. Schaut man sich die Ergebnisse für alle Bundesstaten einzelnd an, stellt man ein starkes Gefälle fest. Die Gewaltbereitschaft gegen Kinder ist offensichtlich am höchsten in den südlichen Staaten. (dies zeigt auch eine Grafik auf Wikipedia; die rot gekennzeichneten Staaten sind die, in denen neben dem elterlichen Züchtigungsrecht auch noch Gewalt gegen Schüler erlaubt ist.) Interessant an den Ergebnissen der Umfrage ist u.a. auch, dass auch noch mal kenntlich gemacht wurde, in welchen Staaten 2004 für Bush oder für Kerry gestimmt wurden. Auf Grund der vorliegenden Zahlen könnte man auch formulieren, dass in den Staaten, in denen für Bush und damit seine kriegerische Politik gestimmt wurde, auch die höchste Akzeptanz von Gewalt gegen Kinder zu finden ist. Ich denke, dass diese oberflächlichen Daten ein Wink dahingehend sind, dass Erziehungsverhalten sich auch in politischen Neigungen wiederfindet.
Um so manche destruktive Entwicklungen in den USA von Grund auf verstehen zu können, muss mensch um die Kindheiten vor Ort wissen. Die irrationale Angst, die Amerika lähmt und u.a. dazu gebracht hat, die ganze Welt auszuspähen, könnte hier ihren Ursprung haben.
Montag, 5. August 2013
Freitag, 2. August 2013
Eine kritische Betrachtung der aktuellen UNICEF Initiative "End Violence"
UNICEF startet aktuell gemeinsam mit dem Schauspieler Liam Neeson eine weltweite Initiative gegen Gewalt gegen Kinder (Initiative „End Violence“).
Ich persönlich habe die Initiative mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Grundsätzlich finde ich natürlich alles gut, was sich öffentlichkeitswirksam gegen die Gewalt gegen Kinder richtet. Nach meinem Empfinden trifft das, was ich bisher gesehen und gelesen habe, allerdings nicht wirklich den Nerv.
UNICEF appelliert an die Menschen, hinzusehen und sich gegen Gewalt einzusetzen.
Das Problem dabei ist, dass in den meisten Ländern dieser Welt die Mehrheit der Erziehungspersonen Gewalt gegen Kinder anwendet und dies auch nicht als Problem ansieht (auch in westlichen Ländern wie den USA oder in Frankreich). Das bedeutet, dass sich der UNICEF Appell (speziell bzgl. der Gewalt in Familien) letztlich nur an eine Minderheit wendet, die überhaupt potentiell gegen Gewalt an Kindern ist. Diese Minderheit ist, sofern sie emotional und auch im Handeln Gewalt gegen Kinder ablehnt, eh schon gegen diese Gewalt. Insofern sehe ich hier nicht wirklich mögliche Effekte. Es sei denn, es würde gelingen, diese Minderheit zu vernetzen und gezielt zu Bündnissen und Aktionen zu gewinnen.
Das zweite Problem der Initiative sind die fehlenden Zahlen. UNICEF Deutschland schreibt z.B. aktuell zum Anlass der Initiative: „Gerade weil Gewalt gegen Kinder häufig nicht gesehen und nicht angezeigt wird, gibt es keine Zahlen über das genaue Ausmaß des Problems. Trotzdem geben vorsichtige Schätzungen von UNICEF und anderen Organisationen großen Anlass zur Sorge: Laut UNICEF-Haushaltsbefragungen erleben in Jemen oder Togo mehr als 90 Prozent der Kinder körperliche oder seelische Gewalt, in Weißrussland sind es 84 Prozent und in Vietnam 74 Prozent.“
Dass es keine klaren Zahlen zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in Familien und Schule gibt, ist einfach nicht wahr. (UNICEF selbst hat u.a. 2009 im „Progress for Children. A Report Card on Child Protection“ auf Seite 8 etliche Daten vorgelegt, die aus Befragungen von Erziehungspersonen stammen.) Es gibt viele Zahlen (vor allem aus Studien der letzten 10 Jahre), so viele, dass ich mich hier seit Jahren schwer damit tue, sie auszugsweise zusammenzustellen. Die Initiative endallcorporalpunishment hat etliche Zahlen unter „research“ aufgeführt und dabei längst nicht alle erfasst. (Hier fehlt letztlich eine gut ausgestattete Initiative, die mal wirklich ALLES systematisch zusammenfasst und die weltweit auch nur die kleinsten Studien auswertet.) Natürlich sind nicht alle Studien gleich aufgebaut, aber man sollte als Kinderhilfsorganisation schon mal den Mut fassen und klar sagen, was die aller meisten vorliegenden Studien zeigen: Gewalt in der Familie ist das, was die Mehrheit aller Kinder in den meisten Ländern auf der Welt erlebt haben und weiterhin erleben. Dieser Satz ist es letztendlich, der ins öffentliche Bewusstsein gehört! Die aktuelle Initiative ist da nicht gerade auf dem Weg, für mehr Bewusstsein zu sorgen. Ihr Kernslogan "Mach das Unsichtbare sichtbar!" verläuft im Sand, weil der Initiative keine weitreichenden Daten und Zahlen angehängt wurden, die von den Medien hätten aufgegriffen werden können.
Auf den englischsprachigen Hauptseiten (siehe Link ganz am Anfang) fehlt unter „Facts“ gar komplett das Hauptthema der meisten Kinder: Gewalt in den Familien. Es werden Zahlen zum sexuellen Missbrauch genannt, kurz einige Formen der Gewalt vorgestellt, es wird auf Sklaverei, Kinderprostitution, Gewalt gegen SchülerInnen und Mord hingewiesen ebenso wie auf die Akzeptanz von Gewalt zwischen Partner bzw. auf häusliche Gewalt. Zum Thema Kindesmisshandlung in Familien? Keine einzige Zahl!! UNICEF Deutschland hat ja auch beschrieben warum, weil es angeblich keine genauen Zahlen gibt.
Als jemand, der sich viel mit den Zahlen befasst, kann ich sagen, dass es natürlich keine ganz genauen Zahlen für alle Länder geben wird. Dies wäre nur möglich, wenn in jedem Land gleichzeitig mit der gleichen "Schablone" Befragungen durchgeführt werden. Aber: Es gibt ganz viele Einzelstudien. in diesen werden teils unterschiedliche Bewertungen bzgl. dem, was als Misshandlung/schwere Gewalt angesehen wird, vorgenommen. Bei macnhen werden Eltern befragt, bei manchen Kinder, bei manchen Erwachsene bzgl. ihrer Kindheitserinerungen. Aber alle Gewaltstudien haben doch gemein, dass sie Gewalthandeln abfragen. Körperliche Schläge sind einfach zu definieren und die Ergebnisse zeigen alle in die Richtung, dass Mehrheiten von körperlicher Gewalt betroffen sind. Ähnliche Problemlagen bzgl. Studien wird UNICEF übrigens auch bei anderer Gewaltformen haben, vor allem dem sexuellem Missbrauch. Aber bzgl. dieser Gewaltform hat man sich auf der englischsprachigen Hauptseite getraut, Zahlen zu nennen. Schade, dass dies nicht für elterliche Gewaltformen gegen Kinder galt.
- Ergänzend: Neue UNICEF Vergleichsstudie - Gewalt gegen Kinder wurde ausgeblendet
Ich persönlich habe die Initiative mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Grundsätzlich finde ich natürlich alles gut, was sich öffentlichkeitswirksam gegen die Gewalt gegen Kinder richtet. Nach meinem Empfinden trifft das, was ich bisher gesehen und gelesen habe, allerdings nicht wirklich den Nerv.
UNICEF appelliert an die Menschen, hinzusehen und sich gegen Gewalt einzusetzen.
Das Problem dabei ist, dass in den meisten Ländern dieser Welt die Mehrheit der Erziehungspersonen Gewalt gegen Kinder anwendet und dies auch nicht als Problem ansieht (auch in westlichen Ländern wie den USA oder in Frankreich). Das bedeutet, dass sich der UNICEF Appell (speziell bzgl. der Gewalt in Familien) letztlich nur an eine Minderheit wendet, die überhaupt potentiell gegen Gewalt an Kindern ist. Diese Minderheit ist, sofern sie emotional und auch im Handeln Gewalt gegen Kinder ablehnt, eh schon gegen diese Gewalt. Insofern sehe ich hier nicht wirklich mögliche Effekte. Es sei denn, es würde gelingen, diese Minderheit zu vernetzen und gezielt zu Bündnissen und Aktionen zu gewinnen.
Das zweite Problem der Initiative sind die fehlenden Zahlen. UNICEF Deutschland schreibt z.B. aktuell zum Anlass der Initiative: „Gerade weil Gewalt gegen Kinder häufig nicht gesehen und nicht angezeigt wird, gibt es keine Zahlen über das genaue Ausmaß des Problems. Trotzdem geben vorsichtige Schätzungen von UNICEF und anderen Organisationen großen Anlass zur Sorge: Laut UNICEF-Haushaltsbefragungen erleben in Jemen oder Togo mehr als 90 Prozent der Kinder körperliche oder seelische Gewalt, in Weißrussland sind es 84 Prozent und in Vietnam 74 Prozent.“
Dass es keine klaren Zahlen zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in Familien und Schule gibt, ist einfach nicht wahr. (UNICEF selbst hat u.a. 2009 im „Progress for Children. A Report Card on Child Protection“ auf Seite 8 etliche Daten vorgelegt, die aus Befragungen von Erziehungspersonen stammen.) Es gibt viele Zahlen (vor allem aus Studien der letzten 10 Jahre), so viele, dass ich mich hier seit Jahren schwer damit tue, sie auszugsweise zusammenzustellen. Die Initiative endallcorporalpunishment hat etliche Zahlen unter „research“ aufgeführt und dabei längst nicht alle erfasst. (Hier fehlt letztlich eine gut ausgestattete Initiative, die mal wirklich ALLES systematisch zusammenfasst und die weltweit auch nur die kleinsten Studien auswertet.) Natürlich sind nicht alle Studien gleich aufgebaut, aber man sollte als Kinderhilfsorganisation schon mal den Mut fassen und klar sagen, was die aller meisten vorliegenden Studien zeigen: Gewalt in der Familie ist das, was die Mehrheit aller Kinder in den meisten Ländern auf der Welt erlebt haben und weiterhin erleben. Dieser Satz ist es letztendlich, der ins öffentliche Bewusstsein gehört! Die aktuelle Initiative ist da nicht gerade auf dem Weg, für mehr Bewusstsein zu sorgen. Ihr Kernslogan "Mach das Unsichtbare sichtbar!" verläuft im Sand, weil der Initiative keine weitreichenden Daten und Zahlen angehängt wurden, die von den Medien hätten aufgegriffen werden können.
Auf den englischsprachigen Hauptseiten (siehe Link ganz am Anfang) fehlt unter „Facts“ gar komplett das Hauptthema der meisten Kinder: Gewalt in den Familien. Es werden Zahlen zum sexuellen Missbrauch genannt, kurz einige Formen der Gewalt vorgestellt, es wird auf Sklaverei, Kinderprostitution, Gewalt gegen SchülerInnen und Mord hingewiesen ebenso wie auf die Akzeptanz von Gewalt zwischen Partner bzw. auf häusliche Gewalt. Zum Thema Kindesmisshandlung in Familien? Keine einzige Zahl!! UNICEF Deutschland hat ja auch beschrieben warum, weil es angeblich keine genauen Zahlen gibt.
Als jemand, der sich viel mit den Zahlen befasst, kann ich sagen, dass es natürlich keine ganz genauen Zahlen für alle Länder geben wird. Dies wäre nur möglich, wenn in jedem Land gleichzeitig mit der gleichen "Schablone" Befragungen durchgeführt werden. Aber: Es gibt ganz viele Einzelstudien. in diesen werden teils unterschiedliche Bewertungen bzgl. dem, was als Misshandlung/schwere Gewalt angesehen wird, vorgenommen. Bei macnhen werden Eltern befragt, bei manchen Kinder, bei manchen Erwachsene bzgl. ihrer Kindheitserinerungen. Aber alle Gewaltstudien haben doch gemein, dass sie Gewalthandeln abfragen. Körperliche Schläge sind einfach zu definieren und die Ergebnisse zeigen alle in die Richtung, dass Mehrheiten von körperlicher Gewalt betroffen sind. Ähnliche Problemlagen bzgl. Studien wird UNICEF übrigens auch bei anderer Gewaltformen haben, vor allem dem sexuellem Missbrauch. Aber bzgl. dieser Gewaltform hat man sich auf der englischsprachigen Hauptseite getraut, Zahlen zu nennen. Schade, dass dies nicht für elterliche Gewaltformen gegen Kinder galt.
- Ergänzend: Neue UNICEF Vergleichsstudie - Gewalt gegen Kinder wurde ausgeblendet
Freitag, 19. Juli 2013
"Eine lieblose Kindheit haben viele erlebt und werden trotzdem nicht zu Mördern."
„Woher kommt das Böse?“ fragte EMMA-Online am 06.05.2013 mit Blick auf die angeklagte Beate Zschäpe. Und führte weiter aus: „Eine Flut von Publikationen hat bereits versucht zu ergründen, wie das Böse in die desorientierte, revoltierte junge Frau aus dem Osten hineingekommen ist. Eine lieblose und vaterlose Kindheit – aber die haben viele und werden dennoch keine MenschenhasserInnen und RassistInnen.“
Solche Sätze sind keine Seltenheit sondern begegnen mir andauernd.
Der Evolutionspsychologe Steven Pinker schrieb z.B. in einem ähnlichen Sinne in seinem Buch „Eine neue Geschichte der Menschheit“ (2011): „Serienmörder kommen nicht durch eine erkennbare Veränderung, eine Schädigung des Gehirns oder Kindheitserlebnisse zu ihrer Nebenbeschäftigung. (Sie sind zwar in ihrer Kindheit häufig Opfer von sexuellem Missbrauch und körperlicher Misshandlung geworden, aber das gilt auch für Millionen andere Menschen, die nicht zu Serienmördern heranwachsen)“ (S. 813)
Lieblosigkeit, Missbrauchs- und Gewalterfahrungen, ja dies wird bei „bösen“ Menschen oft festgestellt, aber weil dies ja auch unzählige andere Menschen erlebt haben, die nicht losziehen, um andere zu quälen, wäre dies nicht relevant und würde die Frage nach den Ursachen der Gewalt nicht klären. (Dabei wird auch vergessen, dass es eine große Bandbreite an Gewalterfahrungen gibt und grausame Mörder erfahrungsgemäß die denkbar schlimmsten Kindheiten hatten. Siehe dazu z.B. Pincus,Gilligan und Harbort)
Da ich seit Jahren EMMA Leser bin, kenne ich mich mit der sonstigen Arbeit dieser Zeitschrift gut aus. EMMA berichtet in Abständen immer wieder über die Kindheitsleidensgeschichten (oft Missbrauchserfahrungen) von Prostituierten und die entsprechenden Einflüsse und Zusammenhänge bzgl. ihres „Berufes“. Und sie hat Recht damit, auf diese Zusammenhänge hinzuweisen. (1)
Doch würde irgendjemand oder gerade auch die EMMA jemals in Anbetracht schwerster Missbrauchs- und/oder Misshandlungserfahrungen eines Fallbeispiels bzgl. einer Prostituierten kommentieren:
„Eine lieblose Kindheit und häufige Missbrauchserfahrungen – aber dies haben viele erlebt und werden dennoch nicht zu Prostituierten“. Und Pinker würde dann entsprechend nachhängen: „Ja, Prostituierte sind sehr häufig Opfer von Misshandlungen in der Kindheit, aber das gilt auch für Millionen andere Menschen, die nicht zu Prostituierten heranwachsen.“
Emma berichtete in der Ausgabe 3/13 über die schweren Misshandlungserfahrungen von „Kirsten“ bzw. veröffentlichte ihren Erfahrungsbericht. Kirsten hat schwerste elterliche Folter erlebt in allen erdenklichen Formen durch beide Elternteile. Sie berichtete auch über die Folgen: U.a. Arbeitssucht, psychische und körperliche Krankheiten und spätere Arbeitsunfähigkeit.
Wenn jemand wie „Kirsten“ psychisch krank wird, arbeitsunfähig, chronische Krankheiten entwickelt oder sich gar selbst verletzt usw., dann würde niemand schreiben: „Eine lieblose und vaterlose Kindheit – aber die haben viele und werden dennoch nicht psychisch krank und arbeitsunfähig.“ Der Zusammenhang zwischen ihren schweren Gewalterfahrungen und ihren Problemen ist einfach zu offensichtlich.
Ich denke, dass diese Gedankenspiele den Nebel etwas lichten können. Letztlich geht es darum, dass wir nicht das Opfer in den Tätern sehen wollen. Wir würden uns trauen, das Opfer in psychisch Kranken oder Prostituierten zu sehen (wenn wir denn direkt darauf hingewiesen werden), aber bei Tätern hört die Offenheit auf. Dass nicht alle ehemals gequälten Kinder später zu Gewalttätern werden zeigt, dass es viele Einflüsse auf menschliches Verhalten gibt und dass sich auch die Folgeschäden der Gewalt entsprechend des individuellen und unterschiedlichen Gewalterlebens von Mensch zu Mensch unterscheiden. Das heißt aber nicht, dass die Kindheitshintergründe von Mördern keine Rolle spielen. Und es wird auch ausgeblendet, dass mensch keine grausamen Mörder finden wird, die als Kind Liebe und Gewaltfreiheit erlebt haben.
-------------------------------------------------------------------------------------
(1) Ergänzende Hinweise:
Studien zu Missbrauchs-/Misshandlungserfahrungen in der Kindheit von Prostituierten
Zumbeck (2001)
54 weibliche Prostituierte
Interviews
65 % als Kind körperlich misshandelt)
50 % sexuell missbraucht (vor dem 13. Lebensjahr)
Farley & Barkan (1998) USA
130 Straßenprostituierte (75 % Frauen, 13 % Männer, 12 % transgender)
Fragebogen
57 % sexuell missbraucht
49 % körperlich misshandelt
Bagley (1991)
Ehemalige Prostituierte im Alter von 18 – 36
73 % schwerer sexueller Missbrauch
Perkins (1991) Australien
Fragebogen
128 Prostituierte verschiedener "Arbeitsfelder"
30,1 % sexueller Missbrauch
Yates, Macenzie, Pennbridge & Swofford (1991) USA
153 Jugendliche, die sich prostituierten (68 % Mädchen, 32 % Jungen)
Interviews
55,6 % sexueller Missbrauch
24,6 % körperliche Misshandlung
Quelle für alle o.g. Daten: Zumbeck, S. (2001): Die Prävalenz traumatischer Erfahrungen, posttraumatische Belastungsstörung und Dissoziation bei Prostituierten: eine explorative Studie. Dr. Kovac, Hamburg.
Solche Sätze sind keine Seltenheit sondern begegnen mir andauernd.
Der Evolutionspsychologe Steven Pinker schrieb z.B. in einem ähnlichen Sinne in seinem Buch „Eine neue Geschichte der Menschheit“ (2011): „Serienmörder kommen nicht durch eine erkennbare Veränderung, eine Schädigung des Gehirns oder Kindheitserlebnisse zu ihrer Nebenbeschäftigung. (Sie sind zwar in ihrer Kindheit häufig Opfer von sexuellem Missbrauch und körperlicher Misshandlung geworden, aber das gilt auch für Millionen andere Menschen, die nicht zu Serienmördern heranwachsen)“ (S. 813)
Lieblosigkeit, Missbrauchs- und Gewalterfahrungen, ja dies wird bei „bösen“ Menschen oft festgestellt, aber weil dies ja auch unzählige andere Menschen erlebt haben, die nicht losziehen, um andere zu quälen, wäre dies nicht relevant und würde die Frage nach den Ursachen der Gewalt nicht klären. (Dabei wird auch vergessen, dass es eine große Bandbreite an Gewalterfahrungen gibt und grausame Mörder erfahrungsgemäß die denkbar schlimmsten Kindheiten hatten. Siehe dazu z.B. Pincus,Gilligan und Harbort)
Da ich seit Jahren EMMA Leser bin, kenne ich mich mit der sonstigen Arbeit dieser Zeitschrift gut aus. EMMA berichtet in Abständen immer wieder über die Kindheitsleidensgeschichten (oft Missbrauchserfahrungen) von Prostituierten und die entsprechenden Einflüsse und Zusammenhänge bzgl. ihres „Berufes“. Und sie hat Recht damit, auf diese Zusammenhänge hinzuweisen. (1)
Doch würde irgendjemand oder gerade auch die EMMA jemals in Anbetracht schwerster Missbrauchs- und/oder Misshandlungserfahrungen eines Fallbeispiels bzgl. einer Prostituierten kommentieren:
„Eine lieblose Kindheit und häufige Missbrauchserfahrungen – aber dies haben viele erlebt und werden dennoch nicht zu Prostituierten“. Und Pinker würde dann entsprechend nachhängen: „Ja, Prostituierte sind sehr häufig Opfer von Misshandlungen in der Kindheit, aber das gilt auch für Millionen andere Menschen, die nicht zu Prostituierten heranwachsen.“
Emma berichtete in der Ausgabe 3/13 über die schweren Misshandlungserfahrungen von „Kirsten“ bzw. veröffentlichte ihren Erfahrungsbericht. Kirsten hat schwerste elterliche Folter erlebt in allen erdenklichen Formen durch beide Elternteile. Sie berichtete auch über die Folgen: U.a. Arbeitssucht, psychische und körperliche Krankheiten und spätere Arbeitsunfähigkeit.
Wenn jemand wie „Kirsten“ psychisch krank wird, arbeitsunfähig, chronische Krankheiten entwickelt oder sich gar selbst verletzt usw., dann würde niemand schreiben: „Eine lieblose und vaterlose Kindheit – aber die haben viele und werden dennoch nicht psychisch krank und arbeitsunfähig.“ Der Zusammenhang zwischen ihren schweren Gewalterfahrungen und ihren Problemen ist einfach zu offensichtlich.
Ich denke, dass diese Gedankenspiele den Nebel etwas lichten können. Letztlich geht es darum, dass wir nicht das Opfer in den Tätern sehen wollen. Wir würden uns trauen, das Opfer in psychisch Kranken oder Prostituierten zu sehen (wenn wir denn direkt darauf hingewiesen werden), aber bei Tätern hört die Offenheit auf. Dass nicht alle ehemals gequälten Kinder später zu Gewalttätern werden zeigt, dass es viele Einflüsse auf menschliches Verhalten gibt und dass sich auch die Folgeschäden der Gewalt entsprechend des individuellen und unterschiedlichen Gewalterlebens von Mensch zu Mensch unterscheiden. Das heißt aber nicht, dass die Kindheitshintergründe von Mördern keine Rolle spielen. Und es wird auch ausgeblendet, dass mensch keine grausamen Mörder finden wird, die als Kind Liebe und Gewaltfreiheit erlebt haben.
-------------------------------------------------------------------------------------
(1) Ergänzende Hinweise:
Studien zu Missbrauchs-/Misshandlungserfahrungen in der Kindheit von Prostituierten
Zumbeck (2001)
54 weibliche Prostituierte
Interviews
65 % als Kind körperlich misshandelt)
50 % sexuell missbraucht (vor dem 13. Lebensjahr)
Farley & Barkan (1998) USA
130 Straßenprostituierte (75 % Frauen, 13 % Männer, 12 % transgender)
Fragebogen
57 % sexuell missbraucht
49 % körperlich misshandelt
Bagley (1991)
Ehemalige Prostituierte im Alter von 18 – 36
73 % schwerer sexueller Missbrauch
Perkins (1991) Australien
Fragebogen
128 Prostituierte verschiedener "Arbeitsfelder"
30,1 % sexueller Missbrauch
Yates, Macenzie, Pennbridge & Swofford (1991) USA
153 Jugendliche, die sich prostituierten (68 % Mädchen, 32 % Jungen)
Interviews
55,6 % sexueller Missbrauch
24,6 % körperliche Misshandlung
Quelle für alle o.g. Daten: Zumbeck, S. (2001): Die Prävalenz traumatischer Erfahrungen, posttraumatische Belastungsstörung und Dissoziation bei Prostituierten: eine explorative Studie. Dr. Kovac, Hamburg.
Donnerstag, 18. Juli 2013
Nelson Mandela. Seine helle und seine dunkle Seite
Nelson Mandela ist für viele Menschen u.a. ein Symbol für Freiheitskampf und den Sieg der Unterdrückten, aber auch für Versöhnung zwischen den Menschen in Südafrika und das auch zu Recht. Ich selbst habe seinen Weg und die Entwicklungen in Südafrika nicht wirklich intensiv verfolgt. Ich fand es einfach nur großartig, dass das Apartheitsregime in sich zusammenstürzte und Mandela 1994 der erste schwarze Präsident des Landes wurde. Außerdem fand ich es eindrucksvoll, dass die neue Regierungsmehrheit der Schwarzafrikaner nicht in Racheakte gegenüber den Weißen verfiel, sondern ein demokratisches Miteinander zum Ziel hatte. Vor einiger Zeit habe ich etwas in seinem Buch „Mandela, N. (1994): Der lange Weg zur Freiheit. Autobiographie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.„ gelesen.
Mein Eindruck über diesen Menschen ist nach der Lektüre, dass Mandela vielschichtiger betrachtet werden muss. Der Ruhm, die Erfolge, die Aussöhnung, der Friedensnobelpreis, all dies hängt ihm aktuell nach und steht im Vordergrund. Man sollte aber im Rückblick auch seine dunkle Seite betrachten, von der er selbst offen berichtet.
Mandela sprach sich früher nach organisierten Streiks („Stay-at-Home“ Aktionen), die wenig ergiebig verliefen und eine enorm große militärische Machtdemonstration des Staates auslösten, engagiert für ein Ende des gewaltlosen Widerstandes aus, entgegen anderen hochrangigen ANC Mitgliedern. Mandela erklärte gegenüber der Presse – ohne vorherige Absprache mit der Exekutive seiner Organisation - aus dem Untergrund: „Wenn die Reaktion der Regierung darin besteht, mit nackter Gewalt unseren gewaltlosen Kampf zu zermalen, so werden wir unsere Taktik zu überdenken haben. Nach meiner Vorstellung schließen wir ein Kapitel über die Frage einer gewaltlosen Politik ab.“ (S. 364) Mandela berichtet, wie er sich auch in nachfolgenden Diskussionen stark für die Abkehr von der Gewaltfreiheit einsetzte. (S. 365ff) Später wurde er bevollmächtigt, eine neue militärische, vom ANC losgelöste Organisation zu bilden.
„Die Politik des ANC würde nach wie vor die der Gewaltlosigkeit sein. Ich wurde autorisiert, mit jedem zusammenzuarbeiten, mit dem ich wollte oder den ich brauchte, um eine Organisation zu schaffen, und ich würde nicht der unmittelbaren Kontrolle der Mutterorganisation unterstehen.“ (S. 369) Mandela informierte sich in der Folge über Guerillakriegsführung, auch über Werke von und über Che Guevara, Mao-Tse-tung und Fidel Castro. . (S. 370) (Auch in seinem späteren politischen Leben bekundete er offen Sympathie für Fidel Castro, Muammar al-Gaddafi und Jassir Arafat, was ich persönlich kritisch sehe) Außerdem las er u.a. „Vom Kriege“ von Carl von Clausewitz. „Clausewitz´ zentrale These, dass der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, entsprach meinen eigenen Neigungen.„ (S.372) Mitte des Jahres 1962 schickte Mandela aus dem Untergrund einen Brief an südafrikanische Zeitungen. Er schrieb u.a.: „Ich werde gegen diese Regierung kämpfen, Seite an Seite mit euch, Meter für Meter und Meile für Meile, bis der Sieg errungen ist. Was werdet ihr tun? (…) Ich für meinen Teil habe meine Entscheidung getroffen. Weder werde ich Südafrika verlassen noch werde ich kapitulieren. Nur durch Leiden, Opfer und militante Tat kann Freiheit erreicht werden. (Hervorhebung durch mich) Der Kampf ist mein Leben. Ich werde bis zum Ende meiner Tage für die Freiheit kämpfen.“ (S. 372)
„Bei der Planung von Richtung und Form der MK zogen wir vier Typen von Gewaltaktionen in Betracht: Sabotage, Guerillakrieg, Terrorismus und offene Revolution.“ schrieb er weiter. Man entschied sich dann für die Sabotage, um den Verlust von Menschenleben zu vermeiden. Mandela schrieb aber auch: „Sollte die Sabotage nicht die gewünschten Resultate erbringen, so waren wir bereit, zur nächsten Phase überzugehen: Guerillakrieg und Terrorismus.“ (S. 381) Mandela ließ sich später auch militärisch im Gebrauch von Waffen, Sprengstoff etc. ausbilden. „Ich fühlte, wie ich zu einem Soldaten geformt wurde, und begann zu denken wie ein Soldat – himmelweit anders als die Art, wie ein Politiker denkt.“ (S. 409) Die Ausbildung war ursprünglich auf sechs Monate angesetzt. Doch nach acht Wochen erhielt Mandela ein Telegramm vom ANC. Er wurde aufgefordert zurückzukehren, da der bewaffnete Kampf in Südafrika eskalierte. Nach seiner Rückkehr wurde er dann verhaftet und wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.
Zu der Eskalation der Gewalt und dem ersten Autobombenangriff des MK im Mai 1983, bei dem 19 Menschen starben und 200 verletzt wurden, schreibt Mandela: „Der Tod der Zivilisten war ein tragischer Unfall, und ich war zutiefst entsetzt über die Todesopfer. Doch so sehr sie mich auch verstörten, ich wusste, dass solche Unfälle die unvermeidliche Konsequenz der Entscheidung waren, einen militärischen Kampf aufzunehmen. Menschliche Fehlbarkeit ist vom Krieg nicht zu trennen, und der Preis dafür ist immer hoch. Gerade weil wir wussten, dass es zu solchen Vorfällen kommen würde, hatten wir die Entscheidung, zu den Waffen zu greifen, nur so schwer und widerstrebend getroffen. Doch wie Oliver zur Zeit der Bombenexplosion sagte, wurde uns der bewaffnete Kampf von der Gewalttätigkeit des Apartheidsregimes aufgezwungen.“ (S. 694)
Ich denke, dass an Hand dieser Auszüge deutlich wird, dass Mandela in der Lage war, sein Mitgefühl beiseitezuschieben und den Tod von Menschen (was er „Unfälle“ nennt; man bedenke, dass sein Buch 1994 veröffentlicht wurde und dieser Sprachgebrauch nicht aus früheren Zeiten stammt.) in Kauf zu nehmen. Er verbrachte ja weitgehend – 27 Jahre – seines Lebens im Gefängnis. Insofern wissen wir heute auch gar nicht, wie seine persönliche Entwicklung draußen gewesen wäre. Hätte er weiter im kriegsbereiten Untergrund agiert? Für wie viele Todesopfer wäre er mit-verantwortlich gewesen? Dies bleibt Spekulation. Ich habe Gott sei dank nie in einer ähnlichen Situation leben müssen, wie die Schwarzafrikaner damals zur Zeit der Apartheid. Ihr Widerstand und ihr Streben nach Freiheit waren absolut legitim. Aus meiner Weltsicht heraus hört der berechtigte Freiheitskampf allerdings da auf, wo andere Menschen gezielt verletzt und sogar getötet werden. In seiner Rechtfertigung der Opfer gleicht er anderen politischen Gewalttätern: Es gab Opfer, ja, aber der Kampf wurde ja von der Gegenseite angefangen und einem aufgezwungen. Schuld am Tod von Menschen wird somit auf die jeweils andere Seite geschoben, um sich selbst zu entlasten.
Interessant ist jetzt ein Blick auf seine Kindheit:
„Meine Mutter war in Qunu für drei Hütten verantwortlich, die, soweit ich mich erinnern kann, immer voller Babys und Kinder meiner Verwandten waren. In der Tat kann ich mich kaum an irgendeinen Augenblick erinnern, wo ich alleine war. In der afrikanischen Kultur gelten die Söhne und Töchter der Tanten und Onkel als Brüder und Schwestern, nicht als Cousins und Cousinen. Wir machen, was unsere Verwandtschaft betrifft, nicht die gleichen Unterschiede wie die Weißen. Wir haben keine Halbbrüder. Die Schwester meiner Mutter ist meine Mutter; der Sohn meines Onkels ist mein Bruder, der Sohn meines Bruders ist mein Sohn.“ (S. 18)
Diese klassische afrikanische Kindheit wird sicher auch bedeutet haben, dass seine Mutter nicht wirklich viel Zeit für diesen Sohn aufbringen konnte. Zunächst möchte ich aber den Vater beleuchten. Mandela schreibt über ihn kurz und knapp: „Mein Vater war sehr streng, und zur Züchtigung seiner Kinder benutzte er kräftig die Rute.“ (S. 14) Sein Vater war Häuptling und besaß nach Mandelas Angaben eine „stolze Aufsässigkeit, einen unbeugsamen Sinn für Fairness, die ich an mir selbst wiedererkenne.“ (S. 15+16) Mandelas Vater war pro Monat ca. eine Woche zu Hause und somit war vor allem die Mutter der Mittelpunkt seiner Existenz, wie er selbst schreibt. (S. 26) Im Alter von ca. neun Jahren stirbt der Vater und Mandela erinnert sich nicht daran, große Trauer empfunden zu haben (was kaum verwundert, in Anbetracht der häufigen Abwesenheit und der Gewalt), sondern eher an ein Gefühl des Abgeschnittenseins . (ebd.) Einige Zeit später sollte Mandela seinen Heimatort und seine Familie verlassen, um unter die Vormundschaft des Regenten Jongintaba zu treten, der ihn genauso behandelte sollte, wie sein eigenes Kind. (Mandela wurde also von klein auf zu einer Führungsperson geformt)
Über den Abschied von seiner Mutter berichtet er: „Wir schieden ohne Umstände voneinander. Sie hielt keine predigt, bot keine weisen Worte, keine Küsse. Vermutlich wollte sie nicht, dass ich mich nach ihrem Fortgehen irgendwie verwaist fühlte, und verhielt sich deshalb so sachlich nüchtern. Ich wusste, dass ich, dem Wunsch meines Vaters gemäß, eine gute Erziehung erhalten sollte, als Vorbereitung auf eine weite Welt; und das war in Qunu nicht möglich. Ihr zärtlicher Blick enthielt all die Zuwendung und den Zuspruch, die ich brauchte, und als sie davon ging, drehte sie sich noch einmal um und sagte: „Halt die Ohren steif, mein Junge!“(…) Während sich meine liebe Mutter und meine beste Freundin auf dem Heimweg befand, schwirrte mir der Kopf von den Freuden meines neuen Lebens. Ohren steif? Ich hätte den Kopf kaum höher tragen können.“ (S. 29+30)
Nelson Mandela erwähnt seine Mutter im Gegensatz zu seinem Vater noch einige Male in seinem Buch. Er berichtet nichts Schlechtes über sie, aber führt auch keine positiven Erlebnisse aus oder beschreibt ihren Erziehungsstil. Das letzte Zitat ist letztlich die einzige Quelle bzgl. der Mutter-Sohn-Beziehung. Er erwartete Küsse zum Abschied ( ohne allerdings welche zu bekommen). Insofern scheint es zumindest vorher zärtliche Situationen gegeben zu haben. Er bezeichnet sie auch als „liebe Mutter“ und „beste Freundin“ und einen zugewandten Blick. Insofern vermute ich schon, dass Mandela durch seine Mutter eine gewisse Zuneigung erfahren hat, die der Gewalt des Vaters etwas ausgleichend entgegenstand. Wenn dem so war, würde sich erklären, warum Mandela zwischen den Welten wandern konnte. Er konnte kalt und berechnend sein und Menschenleben „opfern“. Daran hatte er- das glaube ich ihm – im Gegensatz zu anderen Gewalttätern keinen Spaß oder persönliche Befriedigung. Er agierte auch ohne offenen Hass, ohne die Gegenseite wiederum wortgewaltig zu entmenschlichen und ging nach dem Ende der Apartheid einen echten Weg der Versöhnung und Demokratie. In Mandela sehen wir einen Menschen, der zu beiden Seiten fähig ist, der dunklen und der hellen. Ich persönlich glaube nicht, dass er zum bewaffneten Widerstand fähig gewesen wäre, wenn er ohne elterliche Gewalterfahrungen aufgewachsen wäre. Für seinen späteren gewaltlosen, versöhnlichen und demokratischen Weg jedoch verdient er Respekt.
Mein Eindruck über diesen Menschen ist nach der Lektüre, dass Mandela vielschichtiger betrachtet werden muss. Der Ruhm, die Erfolge, die Aussöhnung, der Friedensnobelpreis, all dies hängt ihm aktuell nach und steht im Vordergrund. Man sollte aber im Rückblick auch seine dunkle Seite betrachten, von der er selbst offen berichtet.
Mandela sprach sich früher nach organisierten Streiks („Stay-at-Home“ Aktionen), die wenig ergiebig verliefen und eine enorm große militärische Machtdemonstration des Staates auslösten, engagiert für ein Ende des gewaltlosen Widerstandes aus, entgegen anderen hochrangigen ANC Mitgliedern. Mandela erklärte gegenüber der Presse – ohne vorherige Absprache mit der Exekutive seiner Organisation - aus dem Untergrund: „Wenn die Reaktion der Regierung darin besteht, mit nackter Gewalt unseren gewaltlosen Kampf zu zermalen, so werden wir unsere Taktik zu überdenken haben. Nach meiner Vorstellung schließen wir ein Kapitel über die Frage einer gewaltlosen Politik ab.“ (S. 364) Mandela berichtet, wie er sich auch in nachfolgenden Diskussionen stark für die Abkehr von der Gewaltfreiheit einsetzte. (S. 365ff) Später wurde er bevollmächtigt, eine neue militärische, vom ANC losgelöste Organisation zu bilden.
„Die Politik des ANC würde nach wie vor die der Gewaltlosigkeit sein. Ich wurde autorisiert, mit jedem zusammenzuarbeiten, mit dem ich wollte oder den ich brauchte, um eine Organisation zu schaffen, und ich würde nicht der unmittelbaren Kontrolle der Mutterorganisation unterstehen.“ (S. 369) Mandela informierte sich in der Folge über Guerillakriegsführung, auch über Werke von und über Che Guevara, Mao-Tse-tung und Fidel Castro. . (S. 370) (Auch in seinem späteren politischen Leben bekundete er offen Sympathie für Fidel Castro, Muammar al-Gaddafi und Jassir Arafat, was ich persönlich kritisch sehe) Außerdem las er u.a. „Vom Kriege“ von Carl von Clausewitz. „Clausewitz´ zentrale These, dass der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, entsprach meinen eigenen Neigungen.„ (S.372) Mitte des Jahres 1962 schickte Mandela aus dem Untergrund einen Brief an südafrikanische Zeitungen. Er schrieb u.a.: „Ich werde gegen diese Regierung kämpfen, Seite an Seite mit euch, Meter für Meter und Meile für Meile, bis der Sieg errungen ist. Was werdet ihr tun? (…) Ich für meinen Teil habe meine Entscheidung getroffen. Weder werde ich Südafrika verlassen noch werde ich kapitulieren. Nur durch Leiden, Opfer und militante Tat kann Freiheit erreicht werden. (Hervorhebung durch mich) Der Kampf ist mein Leben. Ich werde bis zum Ende meiner Tage für die Freiheit kämpfen.“ (S. 372)
„Bei der Planung von Richtung und Form der MK zogen wir vier Typen von Gewaltaktionen in Betracht: Sabotage, Guerillakrieg, Terrorismus und offene Revolution.“ schrieb er weiter. Man entschied sich dann für die Sabotage, um den Verlust von Menschenleben zu vermeiden. Mandela schrieb aber auch: „Sollte die Sabotage nicht die gewünschten Resultate erbringen, so waren wir bereit, zur nächsten Phase überzugehen: Guerillakrieg und Terrorismus.“ (S. 381) Mandela ließ sich später auch militärisch im Gebrauch von Waffen, Sprengstoff etc. ausbilden. „Ich fühlte, wie ich zu einem Soldaten geformt wurde, und begann zu denken wie ein Soldat – himmelweit anders als die Art, wie ein Politiker denkt.“ (S. 409) Die Ausbildung war ursprünglich auf sechs Monate angesetzt. Doch nach acht Wochen erhielt Mandela ein Telegramm vom ANC. Er wurde aufgefordert zurückzukehren, da der bewaffnete Kampf in Südafrika eskalierte. Nach seiner Rückkehr wurde er dann verhaftet und wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.
Zu der Eskalation der Gewalt und dem ersten Autobombenangriff des MK im Mai 1983, bei dem 19 Menschen starben und 200 verletzt wurden, schreibt Mandela: „Der Tod der Zivilisten war ein tragischer Unfall, und ich war zutiefst entsetzt über die Todesopfer. Doch so sehr sie mich auch verstörten, ich wusste, dass solche Unfälle die unvermeidliche Konsequenz der Entscheidung waren, einen militärischen Kampf aufzunehmen. Menschliche Fehlbarkeit ist vom Krieg nicht zu trennen, und der Preis dafür ist immer hoch. Gerade weil wir wussten, dass es zu solchen Vorfällen kommen würde, hatten wir die Entscheidung, zu den Waffen zu greifen, nur so schwer und widerstrebend getroffen. Doch wie Oliver zur Zeit der Bombenexplosion sagte, wurde uns der bewaffnete Kampf von der Gewalttätigkeit des Apartheidsregimes aufgezwungen.“ (S. 694)
Ich denke, dass an Hand dieser Auszüge deutlich wird, dass Mandela in der Lage war, sein Mitgefühl beiseitezuschieben und den Tod von Menschen (was er „Unfälle“ nennt; man bedenke, dass sein Buch 1994 veröffentlicht wurde und dieser Sprachgebrauch nicht aus früheren Zeiten stammt.) in Kauf zu nehmen. Er verbrachte ja weitgehend – 27 Jahre – seines Lebens im Gefängnis. Insofern wissen wir heute auch gar nicht, wie seine persönliche Entwicklung draußen gewesen wäre. Hätte er weiter im kriegsbereiten Untergrund agiert? Für wie viele Todesopfer wäre er mit-verantwortlich gewesen? Dies bleibt Spekulation. Ich habe Gott sei dank nie in einer ähnlichen Situation leben müssen, wie die Schwarzafrikaner damals zur Zeit der Apartheid. Ihr Widerstand und ihr Streben nach Freiheit waren absolut legitim. Aus meiner Weltsicht heraus hört der berechtigte Freiheitskampf allerdings da auf, wo andere Menschen gezielt verletzt und sogar getötet werden. In seiner Rechtfertigung der Opfer gleicht er anderen politischen Gewalttätern: Es gab Opfer, ja, aber der Kampf wurde ja von der Gegenseite angefangen und einem aufgezwungen. Schuld am Tod von Menschen wird somit auf die jeweils andere Seite geschoben, um sich selbst zu entlasten.
Interessant ist jetzt ein Blick auf seine Kindheit:
„Meine Mutter war in Qunu für drei Hütten verantwortlich, die, soweit ich mich erinnern kann, immer voller Babys und Kinder meiner Verwandten waren. In der Tat kann ich mich kaum an irgendeinen Augenblick erinnern, wo ich alleine war. In der afrikanischen Kultur gelten die Söhne und Töchter der Tanten und Onkel als Brüder und Schwestern, nicht als Cousins und Cousinen. Wir machen, was unsere Verwandtschaft betrifft, nicht die gleichen Unterschiede wie die Weißen. Wir haben keine Halbbrüder. Die Schwester meiner Mutter ist meine Mutter; der Sohn meines Onkels ist mein Bruder, der Sohn meines Bruders ist mein Sohn.“ (S. 18)
Diese klassische afrikanische Kindheit wird sicher auch bedeutet haben, dass seine Mutter nicht wirklich viel Zeit für diesen Sohn aufbringen konnte. Zunächst möchte ich aber den Vater beleuchten. Mandela schreibt über ihn kurz und knapp: „Mein Vater war sehr streng, und zur Züchtigung seiner Kinder benutzte er kräftig die Rute.“ (S. 14) Sein Vater war Häuptling und besaß nach Mandelas Angaben eine „stolze Aufsässigkeit, einen unbeugsamen Sinn für Fairness, die ich an mir selbst wiedererkenne.“ (S. 15+16) Mandelas Vater war pro Monat ca. eine Woche zu Hause und somit war vor allem die Mutter der Mittelpunkt seiner Existenz, wie er selbst schreibt. (S. 26) Im Alter von ca. neun Jahren stirbt der Vater und Mandela erinnert sich nicht daran, große Trauer empfunden zu haben (was kaum verwundert, in Anbetracht der häufigen Abwesenheit und der Gewalt), sondern eher an ein Gefühl des Abgeschnittenseins . (ebd.) Einige Zeit später sollte Mandela seinen Heimatort und seine Familie verlassen, um unter die Vormundschaft des Regenten Jongintaba zu treten, der ihn genauso behandelte sollte, wie sein eigenes Kind. (Mandela wurde also von klein auf zu einer Führungsperson geformt)
Über den Abschied von seiner Mutter berichtet er: „Wir schieden ohne Umstände voneinander. Sie hielt keine predigt, bot keine weisen Worte, keine Küsse. Vermutlich wollte sie nicht, dass ich mich nach ihrem Fortgehen irgendwie verwaist fühlte, und verhielt sich deshalb so sachlich nüchtern. Ich wusste, dass ich, dem Wunsch meines Vaters gemäß, eine gute Erziehung erhalten sollte, als Vorbereitung auf eine weite Welt; und das war in Qunu nicht möglich. Ihr zärtlicher Blick enthielt all die Zuwendung und den Zuspruch, die ich brauchte, und als sie davon ging, drehte sie sich noch einmal um und sagte: „Halt die Ohren steif, mein Junge!“(…) Während sich meine liebe Mutter und meine beste Freundin auf dem Heimweg befand, schwirrte mir der Kopf von den Freuden meines neuen Lebens. Ohren steif? Ich hätte den Kopf kaum höher tragen können.“ (S. 29+30)
Nelson Mandela erwähnt seine Mutter im Gegensatz zu seinem Vater noch einige Male in seinem Buch. Er berichtet nichts Schlechtes über sie, aber führt auch keine positiven Erlebnisse aus oder beschreibt ihren Erziehungsstil. Das letzte Zitat ist letztlich die einzige Quelle bzgl. der Mutter-Sohn-Beziehung. Er erwartete Küsse zum Abschied ( ohne allerdings welche zu bekommen). Insofern scheint es zumindest vorher zärtliche Situationen gegeben zu haben. Er bezeichnet sie auch als „liebe Mutter“ und „beste Freundin“ und einen zugewandten Blick. Insofern vermute ich schon, dass Mandela durch seine Mutter eine gewisse Zuneigung erfahren hat, die der Gewalt des Vaters etwas ausgleichend entgegenstand. Wenn dem so war, würde sich erklären, warum Mandela zwischen den Welten wandern konnte. Er konnte kalt und berechnend sein und Menschenleben „opfern“. Daran hatte er- das glaube ich ihm – im Gegensatz zu anderen Gewalttätern keinen Spaß oder persönliche Befriedigung. Er agierte auch ohne offenen Hass, ohne die Gegenseite wiederum wortgewaltig zu entmenschlichen und ging nach dem Ende der Apartheid einen echten Weg der Versöhnung und Demokratie. In Mandela sehen wir einen Menschen, der zu beiden Seiten fähig ist, der dunklen und der hellen. Ich persönlich glaube nicht, dass er zum bewaffneten Widerstand fähig gewesen wäre, wenn er ohne elterliche Gewalterfahrungen aufgewachsen wäre. Für seinen späteren gewaltlosen, versöhnlichen und demokratischen Weg jedoch verdient er Respekt.
Freitag, 12. Juli 2013
Ägypten. Neue Zahlen zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder
Ich habe eine weitere Studie (ergänzend zu den bereits vorgelegten Zahlen) zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in Ägypten gefunden:
Mostafa A Abolfotouh, Mohamed D El-Bourgy, Amira G Seif El Din, Azza A Mehanna (2009): Corporal punishment: mother's disciplinary behavior and child's psychological profile in Alexandria, Egypt. Journal of Forensic Nursing 01/2009; 5(1):5-17
400 Schulkinder und deren Mütter wurden befragt. Dabei ging es um das Strafverhalten rein der Mütter gegenüber ihren Kindern, die Gewalt der Väter wurde also nicht erfasst. Insgesamt werden 76,3 % der Kinder körperlich bestraft; dabei Jungen mit 85,4% gegenüber Mädchen mit 71,9 % deutlich mehr.
Besonders aufschlussreich an dieser Studie ist, dass die Häufigkeit des Gewalthandelns abgefragt wurde. Die Ergebnisse zeigen ein erschreckendes Bild:
Insgesamt werden 2,8 % der Kinder mehr als einmal pro Tag körperlich bestraft, 3,5% einmal täglich und 39 % ein oder zweimal die Woche. Insgesamt werden also fast die Hälfte der Kinder (45,5 %) regelmäßig und oft geschlagen. Dabei fällt erneut auf, dass Jungen besonders häufig von Gewalt betroffen sind. 5,4 % der Jungen werden mehr als einmal pro Tag körperlich bestraft, dagegen 1,5 % der Mädchen; 4,6 % der Jungen werden einmal täglich geschlagen, dagegen 3 % der Mädchen; 55,4 % der Jungen werden ein oder zweimal die Woche geschlagen, dagegen 31,1 % der Mädchen.
Deutliche Spuren/Verletzungen als Folge der Gewalt waren bei 3 % aller Kinder sichtbar (2,3 % bei den Jungen und 3,3 % bei den Mädchen). Leichte Spuren/Verletzungen waren bei 11,3 % aller Kinder sichtbar (16,2 % bei den Jungen und 8,9 % bei den Mädchen).
Diese Zahlen müssen kritisch hinterfragt werden. Aussagefreudig waren die Mütter ganz offensichtlich bzgl. ihres Gewaltverhaltens. Das verwundert nicht, da in Ägypten Gewalt gegen Kinder nicht gesetzlich verboten ist und auch ansonsten gesellschaftlich toleriert zu sein scheint. Alle Erfahrungen mit misshandelnden Eltern zeigen i.d.R. eines: Sie deuten die Gewalt nicht als Gewalt, sondern meinen, diese zum Wohle des Kindes anzuwenden. Entsprechend blind sind diese destruktiven Eltern oftmals gegenüber den Folgen der Gewalt. Würden sie die Folgen emotional an sich heran lassen, könnten sie weder sich selbst noch ihr Handeln ertragen. Insofern glaube ich, dass die Mütter hier nicht ganz die Wahrheit bzgl. den direkten Folgen sagen. Laut einer von der WHO zitierten Studie, in der die Kinder direkt befragt wurden, berichteten 26 % über Knochenbrüche, Bewusstlosigkeit oder eine bleibende Behinderung aufgrund der Misshandlungen. (vgl. WHO, 2002, S. 62) Dies stützt meine Vermutung, dass die Folgen hier nicht wahrheitsgemäß angegeben wurden.
Die psychischen Folgen sind dabei noch viel bedeutsamer. Jeder Schlag ist eine Demütigung, eine Herabsetzung des Kindes, eine Ohnmachtserfahrung und soll die absolute Macht der Eltern untermauern. Gehen wir einfach mal davon aus, dass die Kinder zwischen dem 2. und 14. Lebensjahr körperlich bestraft werden. Das wären 10 Jahre. 2,8 % werden öfter als einmal pro Tag geschlagen. Bei 365 Tagen ergibt dies 7.300 Schläge bei zwei Schlägen pro Tag! 3,5 % der Kinder werden dieser Rechnung folgend also 3.650 Schläge einstecken müssen. Und 39 % aller Kinder erleben zwischen 520 und 1.040 mütterliche Schläge. Ich denke, dass jedem klar wird, dass Kinder in Ägypten in einem ganz besonders starken Maße von Gewalt betroffen sind.
Gerade jetzt, in den Zeiten, wo Ägypten nach Identität und Halt sucht, ziellos hin- und hertaumelt, ist die Gefahr besonders groß, dass das Opfer in den Menschen erwacht. Dieses „Opfer“ handelt emotional reduziert, weil damals – als Kind - die Reduzierung der inneren Gefühlswelt das Überleben sicherte. Schwarz-/Weißdenken und Freund-Feindschemata werden in der Folge reaktiviert.
Medienberichte wie diese – SPIEGEL und ZEIT - bereiten mir große Sorgen. Beide Artikel machen deutlich, dass es vielen Akteuren in Ägypten an Empathie, an Sinn für das Gemeinwohl und an fehlender inneren Stabilität mangelt. Und dass alle irgendwie auf der Suche nach Feinden sind. Wer um das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in diesem Land weiß, der wird leider zu einer wenig optimistischen Zukunftsprognose für dieses Land kommen.
Mostafa A Abolfotouh, Mohamed D El-Bourgy, Amira G Seif El Din, Azza A Mehanna (2009): Corporal punishment: mother's disciplinary behavior and child's psychological profile in Alexandria, Egypt. Journal of Forensic Nursing 01/2009; 5(1):5-17
400 Schulkinder und deren Mütter wurden befragt. Dabei ging es um das Strafverhalten rein der Mütter gegenüber ihren Kindern, die Gewalt der Väter wurde also nicht erfasst. Insgesamt werden 76,3 % der Kinder körperlich bestraft; dabei Jungen mit 85,4% gegenüber Mädchen mit 71,9 % deutlich mehr.
Besonders aufschlussreich an dieser Studie ist, dass die Häufigkeit des Gewalthandelns abgefragt wurde. Die Ergebnisse zeigen ein erschreckendes Bild:
Insgesamt werden 2,8 % der Kinder mehr als einmal pro Tag körperlich bestraft, 3,5% einmal täglich und 39 % ein oder zweimal die Woche. Insgesamt werden also fast die Hälfte der Kinder (45,5 %) regelmäßig und oft geschlagen. Dabei fällt erneut auf, dass Jungen besonders häufig von Gewalt betroffen sind. 5,4 % der Jungen werden mehr als einmal pro Tag körperlich bestraft, dagegen 1,5 % der Mädchen; 4,6 % der Jungen werden einmal täglich geschlagen, dagegen 3 % der Mädchen; 55,4 % der Jungen werden ein oder zweimal die Woche geschlagen, dagegen 31,1 % der Mädchen.
Deutliche Spuren/Verletzungen als Folge der Gewalt waren bei 3 % aller Kinder sichtbar (2,3 % bei den Jungen und 3,3 % bei den Mädchen). Leichte Spuren/Verletzungen waren bei 11,3 % aller Kinder sichtbar (16,2 % bei den Jungen und 8,9 % bei den Mädchen).
Diese Zahlen müssen kritisch hinterfragt werden. Aussagefreudig waren die Mütter ganz offensichtlich bzgl. ihres Gewaltverhaltens. Das verwundert nicht, da in Ägypten Gewalt gegen Kinder nicht gesetzlich verboten ist und auch ansonsten gesellschaftlich toleriert zu sein scheint. Alle Erfahrungen mit misshandelnden Eltern zeigen i.d.R. eines: Sie deuten die Gewalt nicht als Gewalt, sondern meinen, diese zum Wohle des Kindes anzuwenden. Entsprechend blind sind diese destruktiven Eltern oftmals gegenüber den Folgen der Gewalt. Würden sie die Folgen emotional an sich heran lassen, könnten sie weder sich selbst noch ihr Handeln ertragen. Insofern glaube ich, dass die Mütter hier nicht ganz die Wahrheit bzgl. den direkten Folgen sagen. Laut einer von der WHO zitierten Studie, in der die Kinder direkt befragt wurden, berichteten 26 % über Knochenbrüche, Bewusstlosigkeit oder eine bleibende Behinderung aufgrund der Misshandlungen. (vgl. WHO, 2002, S. 62) Dies stützt meine Vermutung, dass die Folgen hier nicht wahrheitsgemäß angegeben wurden.
Die psychischen Folgen sind dabei noch viel bedeutsamer. Jeder Schlag ist eine Demütigung, eine Herabsetzung des Kindes, eine Ohnmachtserfahrung und soll die absolute Macht der Eltern untermauern. Gehen wir einfach mal davon aus, dass die Kinder zwischen dem 2. und 14. Lebensjahr körperlich bestraft werden. Das wären 10 Jahre. 2,8 % werden öfter als einmal pro Tag geschlagen. Bei 365 Tagen ergibt dies 7.300 Schläge bei zwei Schlägen pro Tag! 3,5 % der Kinder werden dieser Rechnung folgend also 3.650 Schläge einstecken müssen. Und 39 % aller Kinder erleben zwischen 520 und 1.040 mütterliche Schläge. Ich denke, dass jedem klar wird, dass Kinder in Ägypten in einem ganz besonders starken Maße von Gewalt betroffen sind.
Gerade jetzt, in den Zeiten, wo Ägypten nach Identität und Halt sucht, ziellos hin- und hertaumelt, ist die Gefahr besonders groß, dass das Opfer in den Menschen erwacht. Dieses „Opfer“ handelt emotional reduziert, weil damals – als Kind - die Reduzierung der inneren Gefühlswelt das Überleben sicherte. Schwarz-/Weißdenken und Freund-Feindschemata werden in der Folge reaktiviert.
Medienberichte wie diese – SPIEGEL und ZEIT - bereiten mir große Sorgen. Beide Artikel machen deutlich, dass es vielen Akteuren in Ägypten an Empathie, an Sinn für das Gemeinwohl und an fehlender inneren Stabilität mangelt. Und dass alle irgendwie auf der Suche nach Feinden sind. Wer um das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in diesem Land weiß, der wird leider zu einer wenig optimistischen Zukunftsprognose für dieses Land kommen.
Samstag, 29. Juni 2013
Kindheit und Gewalt in Liberia
Ein Team um Shane Smith vom VICE-Magazine brachte 2009 die Dokumentation “The Cannibal Warlords of Liberia” heraus. Der Film, der auch auf youtube zu sehen ist, hat mich geradezu umgehauen. Die Zustände in den gezeigten liberianischen Regionen sind unvorstellbar. Ich persönlich dachte auch, dass es so ähnlich im europäischen Mittelalter ausgesehen haben muss. Überall Dreck, Gewalt, Gewalt, Gewalt, Hunger, Krankheiten, Hoffnungslosigkeit, resignierte und schwer traumatisierte Menschen.
Der Filmemacher wollte u.a. auch nachweisen, dass Kannibalismus während des Krieges oft vorkam. Und in der Tat berichten ihm Warlords, wie die jungen Soldaten vor der Schlacht zunächst unschuldige Kinder töteten, um dann ihr Herz zu essen oder ihr Blut zu trinken, um für die Schlacht Kräfte zu tanken und unverwundbar zu werden, wie sie glaubten.
In der Doku wurde gesagt, dass 70-85% aller dortigen Frauen vergewaltigt worden sind. 92% dieser Frauen waren dabei unter 18 Jahre alt.
Auf der Homepage der initiative endcorporalpunishment fand ich weitere Zahlen. Eine große Studie der Organisation „Cherish the Kids“ aus dem Jahr 1999, für die 18.000 Eltern in Liberia befragt wurden, ergab, dass 85 % ihre Kinder schlagen. 46 % gaben auch zu, besonders schwere Formen von Gewalt anzuwenden. Eine andere zitierte Studie ergab, dass 81 % der befragten 24.000 Kinder angaben, durch ihre Eltern körperliche Gewalt zu erleben oder schwer ausgepeitscht zu werden.
Es ist nur logisch, dass sich in einem solchen Land auch im sozialen Nahbereich und in der Kindererziehung überall Gewalt und besonders auch schwere Gewalt nachweisen lässt. Ich bin mir sicher, dass man, würden die grausamen Täter und „Kannibalensoldaten“ befragt werden, bei allen eine unglaublich traumatische Kindheit vorfinden würde. Die in der Doku gezeigten Lebensbedingungen – vor allem auch für die Kinder – sind an sich schon traumatisch und können nur überlebt werden, wenn Gefühle abstumpfen. Dies dürfte allen klar sein. Wenn dann auch noch die Eltern draufschlagen, demütigen und missbrauchen (etwas, das schon seltener besprochen wird, wenn es um die Analyse von Gewalt und Destruktivität in solchen Ländern geht) , dann ist alles verloren, dann gibt es keinen Glauben mehr an das Leben und an Menschlichkeit.
Übrigens: Charles Taylor persönlich - Kriegsverbrecher und bis 2003 Präsident von Liberia - peitschte seine 13 Jahre alte Tochter Edena 2001 vor ihrer Klasse mit 10 Hieben aus, um ihr Fehlverhalten in der Schule öffentlich zu bestrafen und um sich zum Vorbild für sein Land zu machen, in dem Ungehorsam nicht geduldet wird. Sein Handeln spricht Bände.
Der Filmemacher wollte u.a. auch nachweisen, dass Kannibalismus während des Krieges oft vorkam. Und in der Tat berichten ihm Warlords, wie die jungen Soldaten vor der Schlacht zunächst unschuldige Kinder töteten, um dann ihr Herz zu essen oder ihr Blut zu trinken, um für die Schlacht Kräfte zu tanken und unverwundbar zu werden, wie sie glaubten.
In der Doku wurde gesagt, dass 70-85% aller dortigen Frauen vergewaltigt worden sind. 92% dieser Frauen waren dabei unter 18 Jahre alt.
Auf der Homepage der initiative endcorporalpunishment fand ich weitere Zahlen. Eine große Studie der Organisation „Cherish the Kids“ aus dem Jahr 1999, für die 18.000 Eltern in Liberia befragt wurden, ergab, dass 85 % ihre Kinder schlagen. 46 % gaben auch zu, besonders schwere Formen von Gewalt anzuwenden. Eine andere zitierte Studie ergab, dass 81 % der befragten 24.000 Kinder angaben, durch ihre Eltern körperliche Gewalt zu erleben oder schwer ausgepeitscht zu werden.
Es ist nur logisch, dass sich in einem solchen Land auch im sozialen Nahbereich und in der Kindererziehung überall Gewalt und besonders auch schwere Gewalt nachweisen lässt. Ich bin mir sicher, dass man, würden die grausamen Täter und „Kannibalensoldaten“ befragt werden, bei allen eine unglaublich traumatische Kindheit vorfinden würde. Die in der Doku gezeigten Lebensbedingungen – vor allem auch für die Kinder – sind an sich schon traumatisch und können nur überlebt werden, wenn Gefühle abstumpfen. Dies dürfte allen klar sein. Wenn dann auch noch die Eltern draufschlagen, demütigen und missbrauchen (etwas, das schon seltener besprochen wird, wenn es um die Analyse von Gewalt und Destruktivität in solchen Ländern geht) , dann ist alles verloren, dann gibt es keinen Glauben mehr an das Leben und an Menschlichkeit.
Übrigens: Charles Taylor persönlich - Kriegsverbrecher und bis 2003 Präsident von Liberia - peitschte seine 13 Jahre alte Tochter Edena 2001 vor ihrer Klasse mit 10 Hieben aus, um ihr Fehlverhalten in der Schule öffentlich zu bestrafen und um sich zum Vorbild für sein Land zu machen, in dem Ungehorsam nicht geduldet wird. Sein Handeln spricht Bände.
Mittwoch, 26. Juni 2013
Kindererziehung und Politik in Frankreich
Frankreich plant derzeit oder liefert bereits (zusammen mit Großbritannien und den USA) Waffen an die syrischen „Rebellen“. Carsten Luther hat für die ZEIT sehr schön argumentiert, wie sinnlos ein solches Vorhaben ist. Mehr noch: Wie viele Risiken es birgt. Und im Grunde muss man auch kein Experte sein, um zu verstehen, dass Waffen nur noch mehr Tote bringen und dass die feindlichen Lager in Syrien nicht in die „Bösen dort“ und die „Guten“ hier zu unterteilen sind, sondern die Dinge und der Wahnsinn dort komplexer sind. Hat sich der Präsident Frankreichs eigentlich einmal Fotos von den Rebellen angeschaut? Es reichen da 5-6 Bilder und man würde sehr schnell merken: Denen gebe ich lieber nicht noch mehr Waffen. Der Waffenlieferungsplan erscheint mir derart unlogisch, dass emotionale Beweggründe hier eine Rolle spielen müssen.
Frankreich fiel vor nicht all zu langer Zeit auch durch seine Kriegslust im Libyen-Konflikt auf. Man wollte Gaddafi unbedingt wegbomben bzw. ihn „Staub fressen lassen“, wie Nicolas Sarkozy es formulierte. (Über die möglichen destruktiven Folgen des Einsatzes, die sich heute immer mehr abzeichnen, dachte wohl keiner nach)
Ach ja, der NATO Einsatz in Libyen befeuerte nach Medienangaben in der Folge die kriegerischen Auseinandersetzungen im Norden Malis. „Die nomadisch lebenden Tuareg, von denen viele in den neunziger Jahren bei Gaddafi als Söldner angeheuert hatten, kehrten nach dessen Sturz 2011 mit den Waffen des Diktators ausgerüstet in ihre Heimatländer zurück. Eines davon ist Mali. Anders als in den Nachbarländern, sind die Tuareg hier nicht entwaffnet worden. So liefen viele der Milizionäre mit starker Ausrüstung zu den Islamisten über.“, schreibt die ZEIT. Und Frankreich reagierte wiederum mit Militärgewalt und marschierte mit seinen Truppen im Norden Malis ein.
Im aktuellen „World Peace Index“ belegt Frankreich entsprechend Platz 53 von 162 Ländern, eine nicht wirklich vorzeigbare Platzierung für ein westeuropäisches Land.
Wer es „verdient“, wer als „böse“ geortet wird, der wird militärisch bestraft, so erscheint mir aktuell die Außenpolitik Frankreichs. Aber auch nach dem Ersten Weltkrieg war Frankreich in einige Kriege und militärische Auseinandersetzungen verwickelt. Der größte und verlustreichste Krieg (auch mit den meisten Kriegsverbrechen) war der in Algerien, der bis 1962 andauerte.
Ich bin kein Frankreich-Kenner. Welche weiteren politischen Probleme das Land durchmacht und durchgemacht hat, habe ich nicht wirklich verfolgt (was ich wahrgenommen habe ist, dass so manche Stadtbezirke in Frankreich sich in Ghettos verwandelt haben und dass Frankreich wohl ein deutliches Problem mit Schülergewalt gegen andere Schüler und auch Lehrkräfte hat. Zudem passt Frankreichs berühmter Zentralismus gut zur verbreiteten Kindererziehungspraxis: Die zentrale Autorität bestimmt, wo es lang geht, ohne Widerspruch zu dulden). Wahrscheinlich würde sich hier bei einer genauen Analyse einiges finden lassen, dass legen zumindest Zahlen über die weite Verbreitung von Elterngewalt gegen Kinder nahe, denn diese hat Folgen.
Frankreich weist im (west/nord-)europäischen Vergleich die höchsten Gewaltraten gegen Kinder innerhalb der Familie auf und führt fast durchweg auch bei den schwereren Gewaltformen die Rangliste an. Ausgesuchte Zahlen (Befragung von 1000 französischen Eltern im Jahr 2007): 87,2 % schlagen ihre Kinder auf den Po, 50,5 % verabreichen eine Tracht Prügel (schwerere Gewalt) auf die selbe Stelle, 71,5 % schlagen leicht ins Gesicht, 32,3 % wenden schallende Ohrfeigen an, 4,5 % schlagen mit Gegenständen und 11,6 % misshandeln ihre Kinder schwer. (Bussmann, K.-D., Erthal, C., & Schroth, A. (2009). The Effect of Banning Corporal Punishment in Europe: A Five-Nation Comparison. Halle-Wittenberg: Martin-Luther-Universität. S. 6) Auch nach einer im SPIEGEL zitierten Umfrage der "Organisation des Familles en Europe" gaben 87 Prozent der französischen Eltern an, eine Tracht Prügel gehöre zu ihren Praktiken. Und 53 Prozent sprachen sich gegen ein Prügelverbot aus.
Wer zudem etwas über Frankreichs Krippensystem recherchiert, wird herausfinden, dass dort sehr viele Eltern kein Problem damit haben, wenige Monate alte Säuglinge einige Stunden fremd unterzubringen. Auch dies wird Folgen haben.
Laut Europarat gibt es in Frankreich auch kein ausdrückliches Verbot der körperlichen Bestrafung in Einrichtungen für Kinder. Ob und in wie weit Kinder in schulischen Einrichtungen durch Lehrkräfte geschlagen werden, ist mir nicht bekannt.
Auch Tagesmütter und Babysitter haben in Frankreich - neben den Eltern - das Recht, Kinder körperlich zu züchtigen (wie es so "schön" heißt). Dies steht u.a. in einer Klageschrift der „Association for the Protection of All Children“, die seit Februar 2013 vor dem „European Committee of Social Rights“ Frankreich auf Grund des unzureichenden Schutzes von französischen Kinder vor Gewalt verklagt (und damit hoffentlich Erfolg hat). Außerdem wurden in der Klageschrift Zahlen genannt, die ich hier bereits vorgestellt habe.
Über Frankreichs führende politischen Köpfe habe ich im Internet nicht all zu viel finden können. Aber vielleicht sind folgende Infos doch etwas erhellend:
„Es gibt ein Kapitel, über das Hollande wenig spricht: seine Kindheit.“, schreibt der SPIEGEL in einem Artikel. „1954 in Rouen geboren, litt er laut seinem Biografen Serge Raffy unter seinem autoritären Vater, einem Arzt, der sich bei Lokalwahlen für rechtsextreme Listen aufstellen ließ und vor dem er sich ducken musste. Sein Lächeln, seine Witze hätten ihm schon damals geholfen, Konflikten aus dem Weg zu gehen, sagt Raffy.“
Der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy scheint ebenfalls eine belastete Kindheit gehabt zu haben.
„ (…) der Vater sollte sich als Lebemann erweisen, der die Mutter sitzenließ und sich nur sporadisch für die Söhne interessierte. Die Scheidung wurde vollzogen, als Nicolas fünf Jahre alt war. Seine Kindheit sei keine "wirklich glückliche Zeit" gewesen, sagte Sarkozy einmal zum Entsetzen seiner Mutter.“ (FAZ, 15.09.2004)
Der Vater diente außerdem als Fremdenlegionär für Frankreich, wie der SPIEGELberichtet. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein so militärisch getrimmter Mensch (der als Söldner arbeitete) nicht wirklich herzlich und emotional zu Kindern sein konnte.
Erwähnt werden muss auch noch Dominique Strauss-Kahn, der mit hoher Wahrscheinlichkeit die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewonnen hätte. Diverse bewiesene und nicht-bewiesene Vorwürfe gegen ihn zeigen ein Bild von meinem Mann, der alles andere als empathisch und rücksichtsvoll ist und der vor allem ein sehr gestörtes Verhältnis Frauen gegenüber zu haben scheint. Über seine Kindheit habe ich nichts gefunden, die Vermutung liegt aber nahe, dass es in dieser auch einige weite Schatten gab.
Abschließend noch der Hinweis, dass die o.g. Studie von Bussmann auch einen stetigen Rückgang der Gewalt gegen Kinder in Frankreich nachwies. In der Studie wurden außerdem nicht die Häufigkeit des Gewalthandelns und die direkten körperlichen Folgen erfasst. Ich vermute stark, dass sich hier starke Unterschiede im Vergleich zu z.B. afrikanischen oder arabischen Ländern finden lassen, in denen ebenfalls häufig um die 90 % der Kinder körperliche Gewalt erleben, dies aber auch häufiger und schwerwiegender.
Frankreich fiel vor nicht all zu langer Zeit auch durch seine Kriegslust im Libyen-Konflikt auf. Man wollte Gaddafi unbedingt wegbomben bzw. ihn „Staub fressen lassen“, wie Nicolas Sarkozy es formulierte. (Über die möglichen destruktiven Folgen des Einsatzes, die sich heute immer mehr abzeichnen, dachte wohl keiner nach)
Ach ja, der NATO Einsatz in Libyen befeuerte nach Medienangaben in der Folge die kriegerischen Auseinandersetzungen im Norden Malis. „Die nomadisch lebenden Tuareg, von denen viele in den neunziger Jahren bei Gaddafi als Söldner angeheuert hatten, kehrten nach dessen Sturz 2011 mit den Waffen des Diktators ausgerüstet in ihre Heimatländer zurück. Eines davon ist Mali. Anders als in den Nachbarländern, sind die Tuareg hier nicht entwaffnet worden. So liefen viele der Milizionäre mit starker Ausrüstung zu den Islamisten über.“, schreibt die ZEIT. Und Frankreich reagierte wiederum mit Militärgewalt und marschierte mit seinen Truppen im Norden Malis ein.
Im aktuellen „World Peace Index“ belegt Frankreich entsprechend Platz 53 von 162 Ländern, eine nicht wirklich vorzeigbare Platzierung für ein westeuropäisches Land.
Wer es „verdient“, wer als „böse“ geortet wird, der wird militärisch bestraft, so erscheint mir aktuell die Außenpolitik Frankreichs. Aber auch nach dem Ersten Weltkrieg war Frankreich in einige Kriege und militärische Auseinandersetzungen verwickelt. Der größte und verlustreichste Krieg (auch mit den meisten Kriegsverbrechen) war der in Algerien, der bis 1962 andauerte.
Ich bin kein Frankreich-Kenner. Welche weiteren politischen Probleme das Land durchmacht und durchgemacht hat, habe ich nicht wirklich verfolgt (was ich wahrgenommen habe ist, dass so manche Stadtbezirke in Frankreich sich in Ghettos verwandelt haben und dass Frankreich wohl ein deutliches Problem mit Schülergewalt gegen andere Schüler und auch Lehrkräfte hat. Zudem passt Frankreichs berühmter Zentralismus gut zur verbreiteten Kindererziehungspraxis: Die zentrale Autorität bestimmt, wo es lang geht, ohne Widerspruch zu dulden). Wahrscheinlich würde sich hier bei einer genauen Analyse einiges finden lassen, dass legen zumindest Zahlen über die weite Verbreitung von Elterngewalt gegen Kinder nahe, denn diese hat Folgen.
Frankreich weist im (west/nord-)europäischen Vergleich die höchsten Gewaltraten gegen Kinder innerhalb der Familie auf und führt fast durchweg auch bei den schwereren Gewaltformen die Rangliste an. Ausgesuchte Zahlen (Befragung von 1000 französischen Eltern im Jahr 2007): 87,2 % schlagen ihre Kinder auf den Po, 50,5 % verabreichen eine Tracht Prügel (schwerere Gewalt) auf die selbe Stelle, 71,5 % schlagen leicht ins Gesicht, 32,3 % wenden schallende Ohrfeigen an, 4,5 % schlagen mit Gegenständen und 11,6 % misshandeln ihre Kinder schwer. (Bussmann, K.-D., Erthal, C., & Schroth, A. (2009). The Effect of Banning Corporal Punishment in Europe: A Five-Nation Comparison. Halle-Wittenberg: Martin-Luther-Universität. S. 6) Auch nach einer im SPIEGEL zitierten Umfrage der "Organisation des Familles en Europe" gaben 87 Prozent der französischen Eltern an, eine Tracht Prügel gehöre zu ihren Praktiken. Und 53 Prozent sprachen sich gegen ein Prügelverbot aus.
Wer zudem etwas über Frankreichs Krippensystem recherchiert, wird herausfinden, dass dort sehr viele Eltern kein Problem damit haben, wenige Monate alte Säuglinge einige Stunden fremd unterzubringen. Auch dies wird Folgen haben.
Laut Europarat gibt es in Frankreich auch kein ausdrückliches Verbot der körperlichen Bestrafung in Einrichtungen für Kinder. Ob und in wie weit Kinder in schulischen Einrichtungen durch Lehrkräfte geschlagen werden, ist mir nicht bekannt.
Auch Tagesmütter und Babysitter haben in Frankreich - neben den Eltern - das Recht, Kinder körperlich zu züchtigen (wie es so "schön" heißt). Dies steht u.a. in einer Klageschrift der „Association for the Protection of All Children“, die seit Februar 2013 vor dem „European Committee of Social Rights“ Frankreich auf Grund des unzureichenden Schutzes von französischen Kinder vor Gewalt verklagt (und damit hoffentlich Erfolg hat). Außerdem wurden in der Klageschrift Zahlen genannt, die ich hier bereits vorgestellt habe.
Über Frankreichs führende politischen Köpfe habe ich im Internet nicht all zu viel finden können. Aber vielleicht sind folgende Infos doch etwas erhellend:
„Es gibt ein Kapitel, über das Hollande wenig spricht: seine Kindheit.“, schreibt der SPIEGEL in einem Artikel. „1954 in Rouen geboren, litt er laut seinem Biografen Serge Raffy unter seinem autoritären Vater, einem Arzt, der sich bei Lokalwahlen für rechtsextreme Listen aufstellen ließ und vor dem er sich ducken musste. Sein Lächeln, seine Witze hätten ihm schon damals geholfen, Konflikten aus dem Weg zu gehen, sagt Raffy.“
Der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy scheint ebenfalls eine belastete Kindheit gehabt zu haben.
„ (…) der Vater sollte sich als Lebemann erweisen, der die Mutter sitzenließ und sich nur sporadisch für die Söhne interessierte. Die Scheidung wurde vollzogen, als Nicolas fünf Jahre alt war. Seine Kindheit sei keine "wirklich glückliche Zeit" gewesen, sagte Sarkozy einmal zum Entsetzen seiner Mutter.“ (FAZ, 15.09.2004)
Der Vater diente außerdem als Fremdenlegionär für Frankreich, wie der SPIEGELberichtet. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein so militärisch getrimmter Mensch (der als Söldner arbeitete) nicht wirklich herzlich und emotional zu Kindern sein konnte.
Erwähnt werden muss auch noch Dominique Strauss-Kahn, der mit hoher Wahrscheinlichkeit die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewonnen hätte. Diverse bewiesene und nicht-bewiesene Vorwürfe gegen ihn zeigen ein Bild von meinem Mann, der alles andere als empathisch und rücksichtsvoll ist und der vor allem ein sehr gestörtes Verhältnis Frauen gegenüber zu haben scheint. Über seine Kindheit habe ich nichts gefunden, die Vermutung liegt aber nahe, dass es in dieser auch einige weite Schatten gab.
Abschließend noch der Hinweis, dass die o.g. Studie von Bussmann auch einen stetigen Rückgang der Gewalt gegen Kinder in Frankreich nachwies. In der Studie wurden außerdem nicht die Häufigkeit des Gewalthandelns und die direkten körperlichen Folgen erfasst. Ich vermute stark, dass sich hier starke Unterschiede im Vergleich zu z.B. afrikanischen oder arabischen Ländern finden lassen, in denen ebenfalls häufig um die 90 % der Kinder körperliche Gewalt erleben, dies aber auch häufiger und schwerwiegender.
Freitag, 14. Juni 2013
Warum Männer gewalttätiger sind als Frauen
(aktualisiert am 28.04.2017)
Ich muss gleich zu Beginn den Titel korrigieren. Die Frage muss im Grunde lauten:
Warum sind Männer, die als Kind Gewalt-/Vernachlässigung- und Ohnmachtserfahrungen gemacht haben, gewalttätiger als Frauen, die als Kind Gewalt erfahren haben?
Meine Grundthese ist bekanntlich, dass Menschen, die Gewalt (wobei ich hier mit „Gewalt“ immer einigermaßen erhebliche Formen sowohl psychischer als auch körperlicher Art und auch die nicht seltene Anwendung meine und Selbstverteidigung auf Grund einer persönlichen Notsituation natürlich auch ausschließe; vor allem zu Letzterer ist jeder Mensch grundsätzlich fähig, da wir von Natur aus das lebenswichtige Potential haben, auf direkte Angriffe mit Aggressionen zu reagieren.) anwenden, in ihrer Kindheit irgendeine Form (oder auch mehrere) von Gewalt – meist durch Eltern und Elternfiguren – erlebt haben müssen bzw., dass wirklich geliebte Kinder emotional nicht dazu in der Lage sind, anderen Menschen gezielt Gewalt anzutun (außer im Fall der akuten Selbstverteidigung), einfach, weil sie im vollen Besitz ihrer Gefühle sind und ihr Mitgefühl nicht abspalten/ausschalten können.
Dies ist genau der Ansatz, der in den meisten feministischen Ansätzen oder auch allgemein in der Geschlechterforschung meist gar nicht mit einbezogen wird. Die Gewalt, die Männer in Kindheit und Jugend erlebt haben, wird stattdessen hinter Begriffen wie „Männliche Sozialisation“ versteckt, anstatt diese offen beim Namen zu nennen. Belastende Erfahrungen im Elternhaus werden dabei meist ausgeblendet oder hinter Sätzen versteckt wie z.B. „Jungen bekommen weniger Zuwendung, wenn sie Hilfe/Trost/Fürsorge brauchen bzw. danach verlangen, weil Jungen stark sein und ihre Probleme und Bedürfnisse selbst regeln sollen.“ Letzteres ist, um es beim Namen zu nennen, eine Form von Kindesvernachlässigung mit Tendenzen in Richtung psychische Gewalt, je nachdem wie auf Bedürfnisse von Jungen reagiert wird. Die Beispiele ließen sich fortführen.
Typische Themen der Geschlechterforschung sind Wettbewerb zwischen Jungen und Konkurrenzdenken, (mediale) Männlichkeitsbilder/Vorbilder, Peergroupsozialisation, militärische Sozialisation, öffentlicher männlich dominierter Raum, Abgrenzungsrituale vom „Weiblichen“, patriarchale Machtstrukturen, Dominanzkultur usw. usf. Wörter wie „sexueller Missbrauch“, „Kindesvernachlässigung“ und „Kindesmisshandlung“ findet mann dagegen seltener in entsprechenden Texten, die meist sozialwissenschaftlich orientiert sind.
Männer sind faktisch das gewalttätigere Geschlecht, das gilt mittlerweile als Allgemeinwissen. Zwei wesentliche Fakten werden allerdings in der Geschlechterforschung und in der Öffentlichkeit oft übersehen: „Weniger bekannt hingegen ist, dass sich die mehrheitlich von Männern ausgeübte Gewalt auch überwiegend gegen Männer selbst richtet. Mit der Ausnahme von Sexualstraftaten sind Männer als Opfer bei allen Delikten in der Überzahl. Bei Mord und Totschlag, Raub und insbesondere bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung überwiegen männliche Opfer." (Hans-Joachim Lenz, 17.12.2004,“Männer als Opfer von Gewalt“) Beispielsweise zeigte eine große Studie, dass im Jahr 2008, zwar über 85 % aller Morde durch Männer verübt wurden, aber auch weltweit 82 % aller Mordopfer männlich waren. (United Nations Office on Drugs and Crime (2011): 2011 - Global Study On Homicide. Vienna. S. 63)
Auch innerhalb von Dunkelfeld-Befragungen lassen sich diese Unterschiede feststellen. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) hat innerhalb einer repräsentativen Schülerbefragung (insgesamt 44.610 Befragte) festgehalten, dass innerhalb von 12 Monaten 20,2 % der Jungen Opfer von verschiedenen Gewaltdelikten wurden, dagegen wurden 13 % der Mädchen Opfer (inkl. sexueller Gewalt, dem einzigen Gewaltdelikt, wo Mädchen öfter als Jungen Opfer waren). (Baier, D., Pfeiffer, C., Simonson, J., & Rabold, S. (2009): Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt: Erster Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN. KFN-Forschungsberichte No. 107. KFN, Hannover, S. 39) Auch beim Mobbing oder Gewalterleben durch SchülerInnen, wie auch Mobbing und Gewalt durch Lehrkräfte sind Jungen bei 9 von 10 abgefragten Items (nur beim Items "nicht beachtet werden" waren Mädchen häufiger Opfer) häufiger Opfer, als Mädchen. Im Text hießt es beispielhaft: "Das Risiko des mehrfachen Erlebens körperlicher Gewalt durch andere Schüler ist für Jungen deutlich höher: Hier übersteigt die Wahrscheinlichkeit der Jungen, mehrfach Opfer zu werden, die der Mädchen um den Faktor 4,8. Die Wahrscheinlichkeit, mehrmalig zu erleben, dass eigene Sachen zerstört werden, ist für Jungen 3,8-mal so hoch wie für Mädchen." (Ebd., S. 58)
Ähnliches gilt für den Bereich Gewalt gegen Kinder. Ich habe bisher noch keine Studie gefunden, die nachwies, dass Jungen deutlich weniger körperliche Gewalt in der Familie erleben, als Mädchen. Mit Ausnahme der sexuellen Gewalt überwiegen sogar bei vielen Studien männliche Opfer, mindestens aber erleben Jungen genauso viel Gewalt, wie Mädchen.
Für eine große UNICEF Studie wurden beispielsweise Daten zum Gewalterleben (körperliche und psychische Gewalt) aus 33 Ländern (Osteuropa, Asien, Afrika, arabischer Raum und Südamerika) erhoben. In 16 Ländern erlebten Jungen signifikant mehr Gewalt als Mädchen (dem Diagramm folgend je nach Land ca. 4 -11 % mehr), in den anderen Ländern gab es keine signifikanten Unterschiede. Schaut man sich allerdings die Daten für alle 33 Länder im Detail an, dann fällt auf, dass bei allen Gewaltarten (unterteilt in psychische Gewalt, körperliche Gewalt und nochmal extra erfasst schwere Formen von körperlicher Gewalt) Jungen fast durchweg einige Prozentpunkte mehr Gewalt erleben, als Mädchen. Bei der psychischen Gewalt erleben nur in 10 Ländern Jungen gleich viel oder 1-2 Prozentpunkte weniger Gewalt. Körperliche Gewalt wird nur in 2 Ländern (Sierra Leone und Togo) von beiden Geschlechtern gleich viel erlebt. In einem Land wird körperliche Gewalt einen Prozentpunkt mehr von Jungen erlebt, als von Mädchen. Die weiteren Zahlenverhältnisse sehen wie folgt aus (Prozentangaben jeweils das Mehr an Gewalterleben bei Jungen): 5 Länder = 2 %; 3 Länder = 3 %; 4 Länder = 4 %; 7 Länder = 5 %,3 Länder 6 %; 4 Länder = 7 %; 3 Länder = 9 %; 1 Land = 13 %. In nur 4 Ländern erleben Mädchen und Jungen jeweils gleich viel schwere Formen von körperlicher Gewalt. In 4 Ländern erleben Mädchen jeweils einen Prozentpunkt mehr schwere körperliche Gewalt, als Jungen. In 25 Ländern erleben Jungen mehr schwere körperliche Gewalt, als Mädchen. (UNICEF 2010, "Child Disciplinary Practices at Home", S. 36)
Für eine Studie (siehe ausführlich hier) in Ägypten wurden Mütter nach ihrem Gewaltverhalten gegen Kinder befragt. 85,4% der Jungen wurden gegenüber 71,9 % der Mädchen körperlich bestraft. In der Studie wurde auch festgestellt, dass Jungen nicht nur insgesamt sondern auch bzgl. der Häufigkeit des Gewalthandelns mehr von Gewalt betroffen sind, als Mädchen. 5,4 % der ägyptischen Jungen werden mehr als einmal pro Tag körperlich bestraft, dagegen 1,5 % der Mädchen; 4,6 % der Jungen werden einmal täglich geschlagen, dagegen 3 % der Mädchen; 55,4 % der Jungen werden ein oder zweimal die Woche geschlagen, dagegen 31,1 % der Mädchen.
Auf eine hier im Blog besprochene repräsentative Studie, die Gewalterfahrungen der Menschen in El Salvador und Guatemala erfasst hat, möchte ich ebenfalls noch hinweisen.
Keinerlei Art von elterlichen Bestrafungen in der Kindheit und Jugend erlebten in Guatemala: 20,7 % der befragten Frauen und 7 % der Männer; in El Salvador: 44,3 % der Frauen und 23,9 % der Männer. Misshandlungen/Schläge erlebten in Guatemala: 35,3 % der Frauen und 45,7 % der Männer. Schläge mit einem Gegenstand wie Gürtel, Stock oder Kabel erlebten in El Salvador: 41,8 % der Frauen und 61,9 % der Männer.
Auch bzgl. Deutschland liegen aussagekräftige Studien vor. Erstere wurde Anfang der 50er Jahre durchgeführt. (Die Studie habe ich hier im Blog bereits ausführlich besprochen). Ergebnis: „Schwere körperliche Züchtigungen“ im Elternhaus erlebten Jungen deutlich mehr, nämlich ca. 85 % während Mädchen zu ca. 62 % betroffen waren. Bei der „leichten körperlichen Züchtigung“ waren Mädchen etwas mehr betroffen, als Jungen. Jungen erlebten demnach nicht nur insgesamt häufiger körperliche Gewalt, sondern auch schwerer Formen deutlich häufiger, als Mädchen.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine repräsentative Befragung aus den 90er Jahren. (vgl. Wetzels, P. 1997: Gewalterfahrungen in der Kindheit - Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung und deren langfristige Konsequenzen. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, S. 147+148) 77,9 % der Männer erlebten körperliche Elterngewalt, Frauen dagegen mit 71,9 % signifikant weniger. Interessant ist dabei auch, wenn man sich die Frequenz der Gewalt anschaut. 35 % der Männer und 37,1 % der Frauen erlebten selten körperliche Züchtigungen. Mit 43 % ist bei den Männern die Rate der häufiger als selten körperlich gezüchtigten deutlich höher als bei den Frauen mit 34,8 %. Auch bei der schwersten Gewaltform – der Misshandlung – liegen die Männer mit 11,8 % etwas über den Frauen mit 9,9 %.
Für den ostdeutschen Raum wurden zwei repräsentative Jugendstudien verglichen ("Partner 3" mit "Partner 4"). Nach der Befragung im Jahr 1990 ("Partner 3") erlebten demnach 39 % der Mädchen körperliche Gewalt in der Familie, Jungen waren dagegen zu 56 % von Gewalt betroffen. Bei der Befragung 2013 ("Partner 4") ergaben sich folgende Zahlen: 20 % der Mädchen erlebten Gewalt und 25 % der Jungen.
(Weller, Konrad (Hrsg.) (2013). PARTNER 4. Sexualität & Partnerschaft ostdeutscher Jugendlicher im historischen Vergleich. Merseburg. Tabelle 2)
Für eine repräsentative Befragung wurden 2.524 Männer und Frauen in Deutschland befragt. Gefragt nach eigens erlebtem "Erziehungsverhalten" berichteten die Männer fast durchweg von mehr Gewalterfahrungen als Frauen. Z.B. hatten 22,4 % der Männer "schallende Ohrfeigen" erlebt, dagegen 16,7 % der Frauen. 7,4 % der Männer wurden mit Gegenständen geschlagen, dagegen 5,7 % der Frauen. 4,4 % der Männer erlebten eine Tracht Prügel mit Blutergüssen, dagegen 2,9 % der Frauen. Auch bei psychischen Strafen waren Männer stark betroffen. 13,4 % der Männer wurden niedergebrüllt, dagegen 12,5 % der Frauen. Taschengeldkürzungen erlebten 31,4 % der Männer, dagegen 22,3 % der Frauen. Nur bei dem Item "Nicht mehr mit ihnen reden" waren Frauen mit 18,6 % deutlich häufiger betroffen als die Männer mit 14,2 %.
(Plener, P. L.; Rodens, K. P.; Fegert, J. M. (2016). „Ein Klaps auf den Hintern hat noch niemandem geschadet“: Einstellungen zu Körperstrafen und Erziehung in der deutschen Allgemeinbevölkerung. Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V., vol. Themenheft, S. 20-25.)
Mir ist sehr wohl klar, dass Mädchen/Frauen, sofern man zusätzlich sexuelle Gewalterfahrungen und auch diverse Formen der geschlechtsspezifischen Unterdrückung, Unterwerfung und Diskriminierung mit einbezieht, enorm belastet sind. Mir geht es an dieser Stelle allerdings darum, festzuhalten, dass es männlichen Menschen nicht an Gewalterfahrungen – sowohl in Kindheit, Jugend als auch als Erwachsene – mangelt und dass sie in so manchen Bereichen sogar mehr von Gewalt betroffen sind, als Mädchen/Frauen. Dabei sind vor allem die kindlichen Gewalterfahrungen das Fundament für später eigenes Gewaltverhalten und auch sonstiges destruktive Agieren.
Nichts desto Trotz sind Männer das gewalttätiger Geschlecht, obwohl Frauen ebenfalls als Kind sehr häufig Gewalt erfahren und insofern „emotional bewaffnet“ sind. Hier liegt nun die Schnittstelle zu sozialwissenschaftlichen Thesen und Forschungen, deren Nutzen und Bedeutsamkeit ich gar nicht bestreiten möchte.
Männer haben historisch wie auch aktuell vor allem sehr viel mehr Machtmöglichkeiten, um Gewalt anzuwenden, als Frauen. Ohne Macht kann frau keine Gewalt anwenden. Und Männer wurden und werden zudem mit einem ganz anderen Rollenbild und mit männlichen Vorbildern konfrontiert. Für mich ergibt sich gedanklich vor allem ein Bild, das vieles deutlicher macht. Letztlich gleicht die Mannwerdung idealtypisch (und somit etwas vereinfacht dargestellt) und vor allem auch, je weiter man historisch zurückschaut, der militärischen Ausbildung: „Erst brechen wir Dich und hinterher bauen wir Dich wieder auf, hinterher bist Du potentiell ein Held der Nation, ein ganzer Kerl, hinterher bekommst du Macht und wir sind stolz auf Dich.“ (Und falls der Mann ganz unten steht und kaum Macht hat, unter ihm bleibt immer noch Frau und Kind gegenüber denen er sich mächtig fühlen darf.) Frauen werden dagegen als Mädchen gebrochen und die gesellschaftliche Botschaft, die dann an sie herangetragen wird, lautet (und die ebenfalls umso deutlich wird, je weiter man historisch zurückschaut): „Du bist nicht viel wert, an Haus, Küche, Mann und Kinder gebunden, der öffentliche und politische Raum ist nicht der Deine, Deine Rolle ist die, ohnmächtig zu sein und zu bleiben, Du brauchst keine Macht und selbst wenn Du sie wolltest, Du wirst keine Macht erhalten.“ Das sind zwei – wenn auch sehr vereinfacht dargestellt – komplett andere Welten und Rollenbilder, die sich hierzulande in den letzten Jahrzehnten natürlich auch immer mehr aufgelöst und starkt verwässert haben, trotzdem aber noch nachwirken.
Man könnte es auch in einer einfachen Formel aufschreiben: „Männliche Ohnmachtserfahrungen treffen auf eine männlich dominierte Gesellschaft und auf Machtmöglichkeiten / weibliche Ohnmachtserfahrungen treffen auf eine männliche dominierte Gesellschaft und auf sehr begrenzte oder auch gar keine Machtmöglichkeiten.“ Diese Formel macht meiner Auffassung nach weitgehend den Unterschied im Gewaltverhalten. Die Mutter von Rudolf Heß – Klara Heß - schrieb einst nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges: „Wäre ich ein Mann in der Blüte der Jahre, ich würde auch mit Begeisterung für mein Vaterland kämpfen. Ich will versuchen, wenn auch nicht als Soldat, so doch für das Wohl der Zurückgebliebenen meine Kraft mit zu verwenden.“ (Pätzold, Kurt und Weißbecker, Manfred (2007): Rudolf Heß. Der Mann an Hitlers Seite. Leibzig. Militzke Verlag, S.22) Sie brachte mit diesen Worten die Situation von Frauen auf den Punkt. Grundsätzlich war sie bereit zu töten, zu hassen und Krieg zu führen. Als Frau aber war ihr damals einfach der Weg in den Kampf versperrt.
Keine Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen, sondern echte Liebe und Geborgenheit im Elternhaus machen es dagegen, so meine bereits erwähnte These, unmöglich, andere Menschen gezielt zu quälen, zu missbrauchen, zu vergewaltigen, zu ermorden, zu misshandeln usw. Dies gilt für beide Geschlechter. Ein als Kind geliebter Mann wird demnach trotz der Welt, der Machtstrukturen und der Männlichkeitsbilder auf die er trifft kein Gewalttäter werden.
Die o.g. Formel bedeutet weitergedacht und wie bereits angedeutet auch, dass Frauen, soweit sie Ohnmachts- und Gewalterfahrungen (vor allem als Kind) erlebt haben und später Macht erhalten, zu allen erdenklichen Formen von Gewalt und Grausamkeiten grundsätzlich fähig sind (wobei auch hier tendenziell wie bei den Männern gilt: Je grausamer die Taten, desto grausamer die entsprechenden Kindheiten). Dies zeigen einige Daten, die ich bereits kurz zusammengefasst habe. Vor allem gilt dies in Bezug zu Kindern, über die Frauen traditionell sehr viel Macht haben. Empirisch lässt sich nachweisen, dass Frauen als Mütter sogar häufiger Gewalt gegen ihre Kinder anwenden, als Väter.
Wir befinden uns nun hierzulande in einer Phase, in der Frauen immer mehr Macht und Machtpositionen einnehmen. Zudem verändern sich die Rollenbilder stetig. Wird es jetzt zu deutlich mehr Gewalt kommen, die durch Frauen ausgeübt wird? Nein, wird es nicht. Ein gesellschaftlicher Entwicklungsprozess, der Frauen immer mehr Freiheiten, Macht und Mitbestimmungen ermöglicht und sie immer mehr von der Rolle als Sündenböcke und Giftcontainer befreit, deutet bereits auf einen tiefen emotionalen Wandel und mehr emotionaler Reife hin, was seinen Ursprung wiederum nicht unwesentlich in der stetigen Befriedung der Kindheiten, der Abnahme von Gewalt gegen Kinder und der Zunahme an Kinderschutz und Liebe hat. Daher wird Gewalt und auch sonstiges destruktives Agieren hierzulande zukünftig weiter abnehmen.
Auf einen wichtigen Punkt möchte ich abschließend noch hinweisen. Traditionelle Männlichkeitsvorstellungen erschweren es Männern routinemäßig, sich mit ihrem Opfersein auseinanderzusetzen. Schon für viele Frauen sind Opfererfahrungen (gerade in der Kindheit) etwas, das vergessen und verdrängt bleiben will, das oftmals todgeschwiegen wird. Für Männer wird es – so mein Eindruck - sogar noch schwerer, sich das eigene Opfersein einzugestehen, da dies mit Schwäche, Ohnmachtsgefühlen, Ängsten und Hilflosigkeit bzw. Hilfsbedürftigkeit (was als „unmännlich“ gilt) zusammenhängt. Insofern erleichtert der gesellschaftliche Wandel und der Wandel der Rollenbilder es Männern, nach Hilfe zu suchen (zum Beispiel in Therapie und Selbsthilfe) und sie erhalten eine Chance, sich emotional zu “entwaffnen“.
Der ideale Weg, um Männergewalt zu verhindern, ist als aller Erstes Kinderschutz und als Zweites gesellschaftliche Botschaften und Angebote, die Jungen und Männern aufzeigen, dass sie Gefühle haben und sie auch haben und zeigen dürfen. Ich denke, dass wir da in Deutschland schon auf einem guten Weg sind.
Gesamtfazit: Geschlechterforschung muss, wenn sie nach den Ursachen von Gewalt fragt, mehr als bisher nach der Ohnmacht fragen, als nach der Macht (der Männer).
Siehe unbedingt ergänzend Kapitel 3 "Why Males Are More Violent" des Online-Buches "The Origins of War in Child Abuse" von Lloyd deMause.
Wahlen im Iran. "Wir müssen auf unseren Vater hören"
In dem Radiobeitrag "Machtkampf vor und hinter den Kulissen. Iran vor den Präsidentschaftswahlen" im Deutschlandfunk (13.06.2013, von Reinhard Baumgarten) wurde gestern die politische Situation und die anstehende Präsidentschaftswahl im Iran besprochen. Am Ende des Beitrages wird ein Großhändler aus Teheran zitiert:
"Wir sind gezwungen, auf unseren Führer zu hören. Und wir dürfen auf keinen anderen hören. Es ist wie in einer Familie. Er ist unser Vater, und wir müssen auf unseren Vater hören, auch wenn der Vater falsch liegen sollte." Und der Autor des Beitrage kommentiert noch: „Darüber, dass der Vater falsch liegen könnte, wird in der Islamischen Republik nicht öffentlich diskutiert.“
Mit dem o.g. Zitat wird überdeutlich, warum sich Diktaturen halten können. Menschen leben oftmals auch politisch das, was sie als Kind erlebt haben. Wenn der Vater im Iran in den Familien eine absolute nicht zu hinterfragende Autorität darstellt, dann hat dies auch Auswirkungen auf das spätere politische Verhalten. Umgekehrt ist es wahrscheinlich, dass die bestehenden politischen Strukturen um so mehr hinterfragt und kritisiert werden, je mehr sich auch die Familienatmosphäre demokratisiert und entspannt. Letzteres wird wie überall auf der Welt ein stetiger Entwicklungsprozess auch im Iran sein. Und das wird Folgen haben.
"Wir sind gezwungen, auf unseren Führer zu hören. Und wir dürfen auf keinen anderen hören. Es ist wie in einer Familie. Er ist unser Vater, und wir müssen auf unseren Vater hören, auch wenn der Vater falsch liegen sollte." Und der Autor des Beitrage kommentiert noch: „Darüber, dass der Vater falsch liegen könnte, wird in der Islamischen Republik nicht öffentlich diskutiert.“
Mit dem o.g. Zitat wird überdeutlich, warum sich Diktaturen halten können. Menschen leben oftmals auch politisch das, was sie als Kind erlebt haben. Wenn der Vater im Iran in den Familien eine absolute nicht zu hinterfragende Autorität darstellt, dann hat dies auch Auswirkungen auf das spätere politische Verhalten. Umgekehrt ist es wahrscheinlich, dass die bestehenden politischen Strukturen um so mehr hinterfragt und kritisiert werden, je mehr sich auch die Familienatmosphäre demokratisiert und entspannt. Letzteres wird wie überall auf der Welt ein stetiger Entwicklungsprozess auch im Iran sein. Und das wird Folgen haben.
Donnerstag, 6. Juni 2013
Neue Gewaltstudie zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in Deutschland
Erneut ist eine große Studie zum Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in Deutschland veröffentlich worden. Für die „Gewaltstudie 2013“ – unter der Leitung des Bielefelder Erziehungswissenschaftlers Holger Ziegler - wurden 900 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 16 Jahren aus Köln, Berlin und Dresden befragt.
22,3% werden von Erwachsenen oft oder manchmal geschlagen, also erleben 77,7 % keine Gewalt.
32,5 % der Kinder aus armen bzw. unterprivilegierten Familien gaben an, oft oder manchmal von ihren Eltern geschlagen worden zu sein. 17,1% dieser Gruppe wurden so heftig geschlagen, dass sie blaue Flecken hatten. 67,5 % dieser Gruppe wurden den Zahlen folgend überhaupt nicht geschlagen.
Bei den durchschnittlich bis privilegiert gestellten Kindern kommt körperliche Gewalt weit aus seltener vor, als bei den sozial schlechter gestellten Kindern.
Ca. 30 % der Kinder und Jugendlichen aus prekären Schichten hören von Erwachsenen, dass sie dumm oder nutzlos sind. Auch rund 28 % der Jugendlichen aus privilegierten Milieus wird gesagt, dass sie weniger wert seien. Insofern ist ca. jedes dritte Kind von dieser Form von psychischer Gewalt betroffen. 2/3 werden nicht in dieser Form gedemütigt.
In den Medien werden diese Zahlen oft mit einem Erschrecken kommentiert. Wer sich mit der historischen Entwicklung der Kindererziehung befasst, der wird diese Zahlen als Fortschritt deuten. Dass Ziel ist klar: 100 % der Kinder sollen gewaltfrei aufwachsen dürfen. Wenn die Entwicklungen so weiter gehen , ist dieses Ziel auch erreichbar.
Quellen:
http://www.rundschau-online.de/aus-aller-welt/gewaltstudie-2013-wer-mobbt--braucht-liebe,15184900,23114598.html
http://www.zeit.de/gesellschaft/familie/2013-06/gewalt-kinder-familien
http://www.presseportal.de/pm/34011/2484481/neue-gewaltstudie-schlaege-sind-fuer-ein-viertel-der-kinder-und-jugendlichen-in-deutschland-alltag
22,3% werden von Erwachsenen oft oder manchmal geschlagen, also erleben 77,7 % keine Gewalt.
32,5 % der Kinder aus armen bzw. unterprivilegierten Familien gaben an, oft oder manchmal von ihren Eltern geschlagen worden zu sein. 17,1% dieser Gruppe wurden so heftig geschlagen, dass sie blaue Flecken hatten. 67,5 % dieser Gruppe wurden den Zahlen folgend überhaupt nicht geschlagen.
Bei den durchschnittlich bis privilegiert gestellten Kindern kommt körperliche Gewalt weit aus seltener vor, als bei den sozial schlechter gestellten Kindern.
Ca. 30 % der Kinder und Jugendlichen aus prekären Schichten hören von Erwachsenen, dass sie dumm oder nutzlos sind. Auch rund 28 % der Jugendlichen aus privilegierten Milieus wird gesagt, dass sie weniger wert seien. Insofern ist ca. jedes dritte Kind von dieser Form von psychischer Gewalt betroffen. 2/3 werden nicht in dieser Form gedemütigt.
In den Medien werden diese Zahlen oft mit einem Erschrecken kommentiert. Wer sich mit der historischen Entwicklung der Kindererziehung befasst, der wird diese Zahlen als Fortschritt deuten. Dass Ziel ist klar: 100 % der Kinder sollen gewaltfrei aufwachsen dürfen. Wenn die Entwicklungen so weiter gehen , ist dieses Ziel auch erreichbar.
Quellen:
http://www.rundschau-online.de/aus-aller-welt/gewaltstudie-2013-wer-mobbt--braucht-liebe,15184900,23114598.html
http://www.zeit.de/gesellschaft/familie/2013-06/gewalt-kinder-familien
http://www.presseportal.de/pm/34011/2484481/neue-gewaltstudie-schlaege-sind-fuer-ein-viertel-der-kinder-und-jugendlichen-in-deutschland-alltag
Samstag, 1. Juni 2013
Brandanschlag von Solingen. Die Kindheit von Christian R.
20 Jahre ist der Brandanschlag von Solingen her, was derzeit dazu führt, dass der Fall in den Medien besprochen wird.
Der Gutachter Christian Eggers hat 1996 seine Fallstudie „Selbstlosigkeit als Ursache für ausländerfeindliche Gewalt“ herausgebracht. Darin geht er den Ursachen der Solinger Brandanschläge - bei denen fünf Menschen starben - nach, indem er den damals 17jährigen Christian R. skizziert. In der Inhaltsangabe der Studie steht u.a.: „Es entsteht das beklemmende Bild eines in zerrütteter familiärer Umwelt aufgewachsenen Jugendlichen, dessen unentwickeltes Selbstwertgefühl in einen Selbsthaß mündet, der schließlich sein Ventil im Fremdenhaß findet.“
Die Studie liegt mir nicht vor. Allerdings wurde sie von Ingrid Müller-Münch in ihrem Buch „Die geprügelte Generation“ in Kapitel 15 besprochen. Sie schreibt:
„Der Jugendliche, den das Gericht für den Anführer der Vierergruppe bei diesem Brandanschlag hielt, war ein 17-Jähriger, an dessen Kindheitsgeschichte sich sehr gut darstellen lässt, was aus einem geprügelten, vernachlässigten, misshandelten Kind schlimmstenfalls werden kann.“ Die Mutter von Christan brachte mit einem Satz all ihre Ablehnung gegenüber ihren Sohn auf den Punkt: „Hätte ich den Klumpen doch nicht geboren.“, hatte sie einmal einen Antrag auf Erziehungshilfe gegenüber einer Sozialarbeiterin kommentiert. Müller-Münch geht weiter auf die Ausführungen von Eggers ein.
„R. war als Kind so unglücklich, so verlassen und misshandelt, dass er die spielenden Kinder der im Haus schräg gegenüber lebenden türkischen Familie Genc schlichtweg nicht ertragen konnte. (…) so, wie er es bei Katzen und Kaninchen geübt hatte, mit denen er zunächst schmuste, um ihnen dann den Hals umzudrehen, so steigerte sich der Hass auf diese „Mistviecher“ – wie er die Kinder der Familie Genc einmal nannte. (…) Eigentlich war dieser Christan R. nirgendwo aufgewachsen. Als Säugling schon von der Mutter weggegeben, wurde sein Leben ein einziges Hin- und Her-Gezerre zwischen verschiedenen pädagogischen Einrichtungen und seiner Mutter, die ihre Depressionen durch Alkohol betäubte. Allein mit einem ständig schreienden, trotzigen Kind prügelte die überforderte Frau den Sohn bei jeder denkbaren Gelegenheit. Voller Groll hatte Christan seinem Gutachter Eggers geschildert, wie sie ihn als Kleinkind getreten oder gegen einen Heizkörper geschleudert hatte. Oder wie sie ihn manches Mal mit ins Auto genommen und die Türen verriegelt hatte, damit sein Schreien nicht nach Außen drang. Das Ergebnis all dieser Misshandlungen und der kontinuierlichen Lieblosigkeit war ein Mensch, der von sich annahm: „Ich bin böse, deswegen werde ich geschlagen und deswegen muss ich schlagen.“ In ihm sah es nach Eggers aus, wie in einem „verdorrten, abgestorbenen Wüstenei, ohne Leben, ohne Regungen, ohne Mitleid.“
Der Gutachter Christian Eggers hat 1996 seine Fallstudie „Selbstlosigkeit als Ursache für ausländerfeindliche Gewalt“ herausgebracht. Darin geht er den Ursachen der Solinger Brandanschläge - bei denen fünf Menschen starben - nach, indem er den damals 17jährigen Christian R. skizziert. In der Inhaltsangabe der Studie steht u.a.: „Es entsteht das beklemmende Bild eines in zerrütteter familiärer Umwelt aufgewachsenen Jugendlichen, dessen unentwickeltes Selbstwertgefühl in einen Selbsthaß mündet, der schließlich sein Ventil im Fremdenhaß findet.“
Die Studie liegt mir nicht vor. Allerdings wurde sie von Ingrid Müller-Münch in ihrem Buch „Die geprügelte Generation“ in Kapitel 15 besprochen. Sie schreibt:
„Der Jugendliche, den das Gericht für den Anführer der Vierergruppe bei diesem Brandanschlag hielt, war ein 17-Jähriger, an dessen Kindheitsgeschichte sich sehr gut darstellen lässt, was aus einem geprügelten, vernachlässigten, misshandelten Kind schlimmstenfalls werden kann.“ Die Mutter von Christan brachte mit einem Satz all ihre Ablehnung gegenüber ihren Sohn auf den Punkt: „Hätte ich den Klumpen doch nicht geboren.“, hatte sie einmal einen Antrag auf Erziehungshilfe gegenüber einer Sozialarbeiterin kommentiert. Müller-Münch geht weiter auf die Ausführungen von Eggers ein.
„R. war als Kind so unglücklich, so verlassen und misshandelt, dass er die spielenden Kinder der im Haus schräg gegenüber lebenden türkischen Familie Genc schlichtweg nicht ertragen konnte. (…) so, wie er es bei Katzen und Kaninchen geübt hatte, mit denen er zunächst schmuste, um ihnen dann den Hals umzudrehen, so steigerte sich der Hass auf diese „Mistviecher“ – wie er die Kinder der Familie Genc einmal nannte. (…) Eigentlich war dieser Christan R. nirgendwo aufgewachsen. Als Säugling schon von der Mutter weggegeben, wurde sein Leben ein einziges Hin- und Her-Gezerre zwischen verschiedenen pädagogischen Einrichtungen und seiner Mutter, die ihre Depressionen durch Alkohol betäubte. Allein mit einem ständig schreienden, trotzigen Kind prügelte die überforderte Frau den Sohn bei jeder denkbaren Gelegenheit. Voller Groll hatte Christan seinem Gutachter Eggers geschildert, wie sie ihn als Kleinkind getreten oder gegen einen Heizkörper geschleudert hatte. Oder wie sie ihn manches Mal mit ins Auto genommen und die Türen verriegelt hatte, damit sein Schreien nicht nach Außen drang. Das Ergebnis all dieser Misshandlungen und der kontinuierlichen Lieblosigkeit war ein Mensch, der von sich annahm: „Ich bin böse, deswegen werde ich geschlagen und deswegen muss ich schlagen.“ In ihm sah es nach Eggers aus, wie in einem „verdorrten, abgestorbenen Wüstenei, ohne Leben, ohne Regungen, ohne Mitleid.“
Dienstag, 28. Mai 2013
Grausame Taten. Der Unterschied zwischen "verstehen" und "erklären"
Vor einiger Zeit erschütterte ein Bericht über den Tod eines Mädchens die Öffentlichkeit. Die zwei Jahre alte Lea-Sofie war von dem Freund der Mutter so schwer misshandelt worden, dass sie verstarb (nach Medienberichten war dies wohl nicht das erste Mal, dass das Kind misshandelt wurde). Ihre Mutter ließ ihre Tochter nach den Misshandlungen drei Tage in der Wohnung gegen den Tod kämpfen und unternahm nichts. Mutter und Freund lebten während des Todeskampfes des Kleinkindes so weiter, als ob nichts geschehen wäre. Die Leiche des Mädchens legten sie dann entkleidet in einen Park, um ein Sexualdelikt vorzutäuschen. Beide sind jetzt zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Der Autor eines SPIEGEL Artikels über den Fall, Jörg Diehl, hat auch auf die Ursachen hingewiesen, die hinter dieser Tat stehen.
Der Freund der Mutter war „arbeitslos, perspektivlos, ständig betrunken“, schreibt der Autor. Als er wieder einmal betrunken war und die kleine Lea-Sofie einen Schreikrampf bekam, rastete er aus. „Wie er als Kind geprügelt worden war, so prügelte jetzt er. Er schlug Lea-Sofie mit der Faust ins Gesicht, riss sie an den Haaren hoch, schlug wieder zu, insgesamt fünfmal. Das Mädchen erlitt dabei schwerste Gehirnverletzungen.“ Über die Kindheit des Täters wird weiter berichtete, dass er bereits als Grundschüler mit einem Messer auf seine Mutter losging und dann in ein Heim kam.
Die Mutter von Lea-Sofie hatte ebenfalls eine sehr traumatische Kindheit. „Aufgewachsen mit einem brutalen Vater, der sie missbrauchte, und einer alkoholkranken Mutter habe Franziska M. "extreme Bindungssehnsüchte, deutliche Abhängigkeitstendenzen und eine erhebliche Hinnahmebereitschaft" entwickelt, so ein Psychiater vor Gericht.“ Sie habe sich in schwierigen Situationen schon immer „weggebeamt“, was vor Gericht als „dissoziatives Verhalten“ bezeichnet wurde.
Die Hintergründe der Tat sind somit eindeutig belegt. Natürlich haben solche Täter-Eltern selbst eine traumatische Kindheit erlebt. Anders sind solche Taten nicht erklärbar.
Der Autor hat in der Titel Überschrift folgendes geschrieben: „Eine Frage bleibt: Wie ist so etwas möglich?“ Diese Frage ist der Grund für diesen Beitrag. Meine Frage ist, warum trauen wir uns eigentlich nur selten, in der Öffentlichkeit deutliche Worte zu finden und deutlich zu kommentieren? Warum sagen wir nicht: „Diese Tat war unvorstellbar grausam, aber sie ist auch erklärbar“? Warum schreibt man nicht sinngemäß: „Natürlich waren diese Eltern schwer traumatisiert und dadurch emotional gestört, ohne dieses Grundgerüst wäre eine solche Tat nicht möglich.“?
Der Autor hätte in der Überschrift ja auch nur schreiben können: „Wie ist so etwas möglich?“ Sein Artikel an sich erklärt im Grunde sehr gut die Ursachen solcher Taten. Aber dieses „Eine Frage bleibt“, stört mich einfach. Denn im Grunde bleibt keine Frage. Das Verhalten der Eltern ist erklärbar, aber trotzdem nicht zu entschuldigen. Dass beide zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden, finde ich gerechtfertigt. Wenn beide wieder frei kommen, sollte unbedingt verhindert werden, dass wieder ein Kind in ihre Hände gerät.
Deutliche Worte bzgl. solcher Taten wären auch immer ein Aufruf zur Prävention. Als Kind schwer traumatisierte Menschen, die später Kinder haben, sollten gezielt Hilfsangebote bekommen. Man kann von schwer misshandelten Menschen nicht erwarten, dass sie von alleine zu besonders liebevollen Eltern werden.
Der Anwalt der Mutter formuliert in einen Interview, dass wir alle diese Tat im Grunde nicht verstehen können. Verstehen müssen wir dies in der Tat nicht. „Verstehen“ hat ja auch etwas mit Verständnis zu tun, etwas mit „wäre ich in Deiner Situation, hätte ich vielleicht ähnlich gehandelt“. Nein, verstehen kann mensch diese Tat nicht! Aber sie kann erklärt werden. Das ist ein feiner aber bedeutender Unterschied in der Wortwahl. Nur wer emotional schwer gestört ist und nichts fühlt, kann so handeln. Für Menschen, die fühlen können, sind solche Taten nicht zu verstehen und sie müssen auch nicht verstanden werden. Aber wir sollten nicht so tun, als ob sich solche und andere (auch „politisch“ motivierte) Taten nicht erklären lassen.
Der Freund der Mutter war „arbeitslos, perspektivlos, ständig betrunken“, schreibt der Autor. Als er wieder einmal betrunken war und die kleine Lea-Sofie einen Schreikrampf bekam, rastete er aus. „Wie er als Kind geprügelt worden war, so prügelte jetzt er. Er schlug Lea-Sofie mit der Faust ins Gesicht, riss sie an den Haaren hoch, schlug wieder zu, insgesamt fünfmal. Das Mädchen erlitt dabei schwerste Gehirnverletzungen.“ Über die Kindheit des Täters wird weiter berichtete, dass er bereits als Grundschüler mit einem Messer auf seine Mutter losging und dann in ein Heim kam.
Die Mutter von Lea-Sofie hatte ebenfalls eine sehr traumatische Kindheit. „Aufgewachsen mit einem brutalen Vater, der sie missbrauchte, und einer alkoholkranken Mutter habe Franziska M. "extreme Bindungssehnsüchte, deutliche Abhängigkeitstendenzen und eine erhebliche Hinnahmebereitschaft" entwickelt, so ein Psychiater vor Gericht.“ Sie habe sich in schwierigen Situationen schon immer „weggebeamt“, was vor Gericht als „dissoziatives Verhalten“ bezeichnet wurde.
Die Hintergründe der Tat sind somit eindeutig belegt. Natürlich haben solche Täter-Eltern selbst eine traumatische Kindheit erlebt. Anders sind solche Taten nicht erklärbar.
Der Autor hat in der Titel Überschrift folgendes geschrieben: „Eine Frage bleibt: Wie ist so etwas möglich?“ Diese Frage ist der Grund für diesen Beitrag. Meine Frage ist, warum trauen wir uns eigentlich nur selten, in der Öffentlichkeit deutliche Worte zu finden und deutlich zu kommentieren? Warum sagen wir nicht: „Diese Tat war unvorstellbar grausam, aber sie ist auch erklärbar“? Warum schreibt man nicht sinngemäß: „Natürlich waren diese Eltern schwer traumatisiert und dadurch emotional gestört, ohne dieses Grundgerüst wäre eine solche Tat nicht möglich.“?
Der Autor hätte in der Überschrift ja auch nur schreiben können: „Wie ist so etwas möglich?“ Sein Artikel an sich erklärt im Grunde sehr gut die Ursachen solcher Taten. Aber dieses „Eine Frage bleibt“, stört mich einfach. Denn im Grunde bleibt keine Frage. Das Verhalten der Eltern ist erklärbar, aber trotzdem nicht zu entschuldigen. Dass beide zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden, finde ich gerechtfertigt. Wenn beide wieder frei kommen, sollte unbedingt verhindert werden, dass wieder ein Kind in ihre Hände gerät.
Deutliche Worte bzgl. solcher Taten wären auch immer ein Aufruf zur Prävention. Als Kind schwer traumatisierte Menschen, die später Kinder haben, sollten gezielt Hilfsangebote bekommen. Man kann von schwer misshandelten Menschen nicht erwarten, dass sie von alleine zu besonders liebevollen Eltern werden.
Der Anwalt der Mutter formuliert in einen Interview, dass wir alle diese Tat im Grunde nicht verstehen können. Verstehen müssen wir dies in der Tat nicht. „Verstehen“ hat ja auch etwas mit Verständnis zu tun, etwas mit „wäre ich in Deiner Situation, hätte ich vielleicht ähnlich gehandelt“. Nein, verstehen kann mensch diese Tat nicht! Aber sie kann erklärt werden. Das ist ein feiner aber bedeutender Unterschied in der Wortwahl. Nur wer emotional schwer gestört ist und nichts fühlt, kann so handeln. Für Menschen, die fühlen können, sind solche Taten nicht zu verstehen und sie müssen auch nicht verstanden werden. Aber wir sollten nicht so tun, als ob sich solche und andere (auch „politisch“ motivierte) Taten nicht erklären lassen.
Freitag, 24. Mai 2013
Studie. Gewalt gegen Kinder hat in Ostdeutschland drastisch abgenommen.
Für die Studie "Partner 4" wurden im Jahr 2012 862 Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren in Ostdeutschland repräsentativ befragt. Ergebnis u.a.: 77 % gaben an, noch nie von ihren Eltern geschlagen worden zu sein. (Leipziger Volkszeitung, 23.05.2013) Das sind fast "schwedische Verhältnisse". Sie sind noch besser als die vom KFN für Gesamtdeutschland ermittelten (siehe hier).
Wenn sich dieser Trend fortsetzt und sich auch in Bereichen wie z.B. der Kindesvernachlässigung vollzieht, dann sieht die Zukunft für Deutschland mehr als rosig aus. Die Deutschen werden immer weniger psychischen Balast mit sich herumtragen und innerlich immer mehr wachsen. Dieses innere Wachstum wird ein ungeheurer Motor für die Weiterentwicklung dieser Gesellschaft sein.
Zukünftig werden sich Forschende immer mehr fragen müssen, warum wir immer friedlicher, komplexer und demokratischer werden und warum Entwicklungen hierzulande konstruktiv verlaufen. Wer sich mit der Entwicklung von Kindheit befasst, kann schon jetzt Antworten bieten.
Wenn sich dieser Trend fortsetzt und sich auch in Bereichen wie z.B. der Kindesvernachlässigung vollzieht, dann sieht die Zukunft für Deutschland mehr als rosig aus. Die Deutschen werden immer weniger psychischen Balast mit sich herumtragen und innerlich immer mehr wachsen. Dieses innere Wachstum wird ein ungeheurer Motor für die Weiterentwicklung dieser Gesellschaft sein.
Zukünftig werden sich Forschende immer mehr fragen müssen, warum wir immer friedlicher, komplexer und demokratischer werden und warum Entwicklungen hierzulande konstruktiv verlaufen. Wer sich mit der Entwicklung von Kindheit befasst, kann schon jetzt Antworten bieten.
Mittwoch, 8. Mai 2013
Beate Zschäpe. "Wenn sie ein Mensch ist, wird sie das nicht ertragen."
Vor einiger Zeit hörte ich im Deutschlandfunk ein Interview mit einer Angehörigen eines NSU-Opfers. Sie sagte, dass im Gerichtssaal sehr viele Angehörige der Opfer sitzen werden . Und dann sagte sie einen sehr bewegenden Satz: „Wenn sie ein Mensch ist, wird sie das nicht ertragen.“
Keiner wird bestreiten wollen, dass Zschäpe ein Mensch ist. Die Angehörige brachte etwas anderes auf den Punkt. Es geht um die Frage, ob Beate Zschäpe etwas fühlen kann. Denn das Fühlen macht ja gerade unser Menschsein aus. In dem Satz der Angehörigen schwingt die Hoffnung mit, dass diese Täterin etwas fühlen kann, dass sie die Schuld spüren kann, die sie auf sich geladen hat und dass sie auch den Schmerz der Angehörigen nachfühlen kann.
Doch kann ein Mensch, der derartige Taten durchführt oder direkt unterstützt, wirklich Emotionen an sich heran lassen oder etwas fühlen? Ich glaube, dass die Hoffnung dieser Angehörigen nicht erfüllt werden wird. Denn das Nicht-Fühlen oder das sich in einen abgespaltenen Part seiner Psyche begeben können ist ja gerade DIE Voraussetzung dafür, derartige Taten durchführen zu können.
Einige Auszüge aus Beates Kindheit erklären auch, woher diese Fühllosigkeit kommt. Von einer unstetigen Kindheit mit vielen Umzügen wird berichtet. Das wichtigste Detail fand ich hier:
„Von Beginn ihres Lebens an wurde Beate Zschäpe das Gefühl vermittelt, nicht gewollt zu sein. Als ihre Mutter im Januar 1975 das Mädchen zur Welt bringt, ist sie überrascht. Von der Schwangerschaft hatte sie bis dato nichts bemerkt, mit einem Verdacht auf Nierenkoliken hatte sie sich ins Krankenhaus einliefern lassen. (…) Zwei Wochen nach der Geburt geht die Mutter zurück nach Rumänien und lässt das Kind in Jena bei der Oma zurück.“ (Deutsche Welle, 11.04.2013, Autor: Arne Lichtenberg)
Die Fötalpsychologie steckt noch in den Kinderschuhen. Nach allem was ich weiß (und vor allem bei Lloyd deMause über das „Fötale Drama“ gelesen habe) und fühle, dürfte es für das werdende Kind den reinen Terror bedeuten, wenn die schwangere Mutter dieses überhaupt nicht bemerkt und es ausblendet.
Zunächst kümmert sich also die Oma um Beate, die allerdings von ihr – so die Deutsche Welle - bereit im Alter von drei Monaten in eine Kinderkrippe gegeben wird. Als Beate ein halbes Jahr alt ist, nimmt der deutsche Freund ihrer Mutter das Kind zu sich. „Mit dem Mann war die Mutter erst kurz vor Beates Geburt zusammengekommen.“ Auch diese Beziehung der Mutter geht später kaputt. Letztere gibt Beate immer wieder zur Oma. Einen richtigen Vater hat Beate nie gehabt und der von ihrer Mutter benannte biologische Vater stritt stets ab, der Vater zu sein.
Fassen wir also diese kurzen Infos zusammen:
- Beate wurde als Säugling über 9 Monate lang ignoriert (Beziehnungs-Bruch 1)
- 2 Wochen nach der Geburt von der Mutter zur Oma weggegeben (Bruch 2)
- von der Oma bereits mit 3 Monate in eine Krippe gegeben (Bruch 3)
- mit 6 Monaten zu einem Freund der Mutter gegeben (Bruch 4)
- nach dem Scheitern der Beziehung (Bruch 5) wieder alleine zur Mutter,
- die wiederum Beate häufig bei der Oma unterbrachte (Bruch 6)
- der biologische Vater stritt stets ab, der Vater zu sein (Bruch 7)
Beziehungsmäßig ist dies für einen Säugling und ein Kind ein ziemlich zerbrochenes Leben.
Wie das Leben bei der Mutter aussah, wird durch folgendes Zitat etwas mehr beleuchtet: „Auch die weiteren Partner von Zschäpes Mutter hätten offenbar „keine dezidierte Vaterrolle eingenommen“, steht im Gutachten. Und mit der zeitweise arbeitslosen Mutter gab es schwere Probleme. Annerose Zschäpe war mit der Erziehung überfordert und trank.“ (Tagesspiegel, 03.05.2013, Autoren: Frank Jansen und Christian Tretbar)
Zu den ganzen Brüchen kam also noch eine überforderte und sich betrinkende Mutter dazu. (Die Frage ist dabei, in wie weit die den Fötus ignorierende Mutter auch während der Schwangerschaft Alkohol getrunken haben könnte, mit allen bekannten möglichen Negativwirkungen auf den Fötus.) Was sich im Detail alles an Konflikten, Demütigungen, ggf. auch handfester Gewalt im Hause Zschäpe abgespielt hat, bleibt Spekulation. Zumindest wird an Hand der Oberflächendaten mehr als deutlich, dass dies eine sehr traurige Kindheit war. Ich vermute, dass die Kindheiten der beiden Mittäter, die sich selbst getötet haben, sogar noch schlimmer aussahen. Denn sie waren es ja, die die NSU-Morde direkt ausführten.
Keiner wird bestreiten wollen, dass Zschäpe ein Mensch ist. Die Angehörige brachte etwas anderes auf den Punkt. Es geht um die Frage, ob Beate Zschäpe etwas fühlen kann. Denn das Fühlen macht ja gerade unser Menschsein aus. In dem Satz der Angehörigen schwingt die Hoffnung mit, dass diese Täterin etwas fühlen kann, dass sie die Schuld spüren kann, die sie auf sich geladen hat und dass sie auch den Schmerz der Angehörigen nachfühlen kann.
Doch kann ein Mensch, der derartige Taten durchführt oder direkt unterstützt, wirklich Emotionen an sich heran lassen oder etwas fühlen? Ich glaube, dass die Hoffnung dieser Angehörigen nicht erfüllt werden wird. Denn das Nicht-Fühlen oder das sich in einen abgespaltenen Part seiner Psyche begeben können ist ja gerade DIE Voraussetzung dafür, derartige Taten durchführen zu können.
Einige Auszüge aus Beates Kindheit erklären auch, woher diese Fühllosigkeit kommt. Von einer unstetigen Kindheit mit vielen Umzügen wird berichtet. Das wichtigste Detail fand ich hier:
„Von Beginn ihres Lebens an wurde Beate Zschäpe das Gefühl vermittelt, nicht gewollt zu sein. Als ihre Mutter im Januar 1975 das Mädchen zur Welt bringt, ist sie überrascht. Von der Schwangerschaft hatte sie bis dato nichts bemerkt, mit einem Verdacht auf Nierenkoliken hatte sie sich ins Krankenhaus einliefern lassen. (…) Zwei Wochen nach der Geburt geht die Mutter zurück nach Rumänien und lässt das Kind in Jena bei der Oma zurück.“ (Deutsche Welle, 11.04.2013, Autor: Arne Lichtenberg)
Die Fötalpsychologie steckt noch in den Kinderschuhen. Nach allem was ich weiß (und vor allem bei Lloyd deMause über das „Fötale Drama“ gelesen habe) und fühle, dürfte es für das werdende Kind den reinen Terror bedeuten, wenn die schwangere Mutter dieses überhaupt nicht bemerkt und es ausblendet.
Zunächst kümmert sich also die Oma um Beate, die allerdings von ihr – so die Deutsche Welle - bereit im Alter von drei Monaten in eine Kinderkrippe gegeben wird. Als Beate ein halbes Jahr alt ist, nimmt der deutsche Freund ihrer Mutter das Kind zu sich. „Mit dem Mann war die Mutter erst kurz vor Beates Geburt zusammengekommen.“ Auch diese Beziehung der Mutter geht später kaputt. Letztere gibt Beate immer wieder zur Oma. Einen richtigen Vater hat Beate nie gehabt und der von ihrer Mutter benannte biologische Vater stritt stets ab, der Vater zu sein.
Fassen wir also diese kurzen Infos zusammen:
- Beate wurde als Säugling über 9 Monate lang ignoriert (Beziehnungs-Bruch 1)
- 2 Wochen nach der Geburt von der Mutter zur Oma weggegeben (Bruch 2)
- von der Oma bereits mit 3 Monate in eine Krippe gegeben (Bruch 3)
- mit 6 Monaten zu einem Freund der Mutter gegeben (Bruch 4)
- nach dem Scheitern der Beziehung (Bruch 5) wieder alleine zur Mutter,
- die wiederum Beate häufig bei der Oma unterbrachte (Bruch 6)
- der biologische Vater stritt stets ab, der Vater zu sein (Bruch 7)
Beziehungsmäßig ist dies für einen Säugling und ein Kind ein ziemlich zerbrochenes Leben.
Wie das Leben bei der Mutter aussah, wird durch folgendes Zitat etwas mehr beleuchtet: „Auch die weiteren Partner von Zschäpes Mutter hätten offenbar „keine dezidierte Vaterrolle eingenommen“, steht im Gutachten. Und mit der zeitweise arbeitslosen Mutter gab es schwere Probleme. Annerose Zschäpe war mit der Erziehung überfordert und trank.“ (Tagesspiegel, 03.05.2013, Autoren: Frank Jansen und Christian Tretbar)
Zu den ganzen Brüchen kam also noch eine überforderte und sich betrinkende Mutter dazu. (Die Frage ist dabei, in wie weit die den Fötus ignorierende Mutter auch während der Schwangerschaft Alkohol getrunken haben könnte, mit allen bekannten möglichen Negativwirkungen auf den Fötus.) Was sich im Detail alles an Konflikten, Demütigungen, ggf. auch handfester Gewalt im Hause Zschäpe abgespielt hat, bleibt Spekulation. Zumindest wird an Hand der Oberflächendaten mehr als deutlich, dass dies eine sehr traurige Kindheit war. Ich vermute, dass die Kindheiten der beiden Mittäter, die sich selbst getötet haben, sogar noch schlimmer aussahen. Denn sie waren es ja, die die NSU-Morde direkt ausführten.
Montag, 29. April 2013
Der Fall Josef Fritzl und die psychiatrische Gutachterin
Ich habe kürzlich ein Interview mit Dr. Heidi Kastner - der psychiatrischen Gutachterin im Fall Josef Fritzl, der u.a. seine Tochter 24 Jahre im Keller eingesperrt und unzählige Male vergewaltigt hatte – gelesen.
Auf die Frage: "Ich bin zur Vergewaltigung geboren", soll Josef Fritzl gesagt haben. Frau Dr. Kastner, steckt Abnormität in den Genen oder was macht Menschen zu grausamen Verbrechern?“ antwortete sie u.a.:
„Ich denke, jeder Mensch ist im Wesentlichen das Produkt seiner genetischen Veranlagung, seiner Biografie und seines Umfeldes. (...) In welchem Ausmaß welcher Faktor zum Tragen kommt, kann man bei keinem mit Sicherheit feststellen. (…)“
An anderer Stelle sagt sie: „Ich habe nicht die Grundhaltung, dass der Mensch an sich ein nur gutes Wesen ist und dass etwas grob fehlgelaufen sein muss, wenn einer böse handelt. Ich denke vielmehr, dass jeder die Veranlagung zu allem hat. Und dieses „alles“ ist ein breites Spektrum.“
Auf die Kindheit des Täters geht sie in diesem Interview überhaupt nicht ein, sondern belässt es bei diesen wagen Andeutungen.
In einem anderen Interview wurde Kastner noch deutlicher:
Frage: "Der berühmte FBI-Profiler John Douglas erklärte, dass alle psychiatrisch relevanten Verbrechen auf einer kaputten Kindheit beruhen."
Kastner: "Das stimmt nicht. Alle Erklärungen, die so einfältig daherkommen, sind mir eigentlich ein Gräuel."
Auf die Frage "Wie schwierig war Fritzls Kindheit?" geht Kastner nur auf die Kindheit seiner Mutter ein.
Dies alles verwundert, da sich Frau Kastner vor Gericht anders und deutlicher geäußert hat.
Der Focus berichtet unter Bezug auf Kastner: „Nachdem Fritzls Mutter geschieden war, bekam sie mit einem neuen Mann ein Kind. Fritzl selbst hatte sich als Alibikind bezeichnet, die Gutachterin nannte es Beweiskind: Die Mutter wollte nach der Demütigung der ersten Ehe beweisen, dass sie nicht unfruchtbar war – mehr Interesse hatte sie nicht an einem Kind, sie verabscheute es sogar. Die Mutter blieb Josef Fritzl gegenüber völlig kalt, sie erkannte nicht, wenn es ihm schlecht ging oder er litt. „Die einzigen Emotionen, die der Angeklagte in seiner Kindheit kannte, waren Angst und Ungewissheit“, sagte Kastner. Als Junge von sieben oder acht Jahren ließ ihn die Mutter allein zu Hause, und er wusste nicht, ob sie zurückkehren würde.“
Im Belfast Telegraph (03.05.2008) finden sich weitere Informationen. Brutale Misshandlungen durch seine Mutter erlebte Josef Fritzl beinahe täglich. Die Informationen stammen von einem Interview mit Fritzls Schwester. Sie sagte, dass die Mutter einen explosiven Charakter hatte und ihre Kinder durch Gewalt zu kontrollieren versuchte. Josef wuchs ohne Vater auf, seine Mutter erzog ihn mit ihren Fäusten, so die Schwester, und misshandelte ihn so sehr, dass er grün und blau aussah.
Diese Informationen über seine Kindheit sind wichtig. Sie belegen mal wieder, dass extrem grausame Täter durch ihre Tat an sich bereits Zeugnis darüber ablegen, was ihnen selbst angetan wurde. Es ist nicht vorstellbar, dass jemand wie Fritzl liebevoll oder „nur“ gelegentlich mit Gewalt erzogen wurde. Fast 365 Tage im Jahr erlebte er Terror und schwere Misshandlungen durch seine Mutter. Damit gehört er zu einer Minderheit von unter 1 % der Bevölkerung. Von diesen 1 % werden natürlich nicht alle zu einem „Fitzl“ oder ähnlichem Täter. Aber Taten wie seine, können nur auf Grund dieses Fundaments geschehen. Dass die Gutachterin dazu keine deutlichen Worte findet, ist nachlässig, um es milde auszudrücken. Mehr noch, sie verdreht sogar die Analyse, indem sie sagt, dass nicht unbedingt etwas "grob fehlgelaufen sein muss", damit ein Mensch "böse" wird. Aber diese Nachlässigkeit ist sehr oft Standard, wenn es um Aussagen von Psychiatern geht, die bzgl. der Tätergenese befragt werden. Die Psychiater tragen durch diese Blindheit oder durch das Vermeiden deutlicher Worte zur Kindheit mit dazu bei, dass die tieferen Ursachen der Gewalt gesellschaftlich nicht gesehen werden.
Auf die Frage: "Ich bin zur Vergewaltigung geboren", soll Josef Fritzl gesagt haben. Frau Dr. Kastner, steckt Abnormität in den Genen oder was macht Menschen zu grausamen Verbrechern?“ antwortete sie u.a.:
„Ich denke, jeder Mensch ist im Wesentlichen das Produkt seiner genetischen Veranlagung, seiner Biografie und seines Umfeldes. (...) In welchem Ausmaß welcher Faktor zum Tragen kommt, kann man bei keinem mit Sicherheit feststellen. (…)“
An anderer Stelle sagt sie: „Ich habe nicht die Grundhaltung, dass der Mensch an sich ein nur gutes Wesen ist und dass etwas grob fehlgelaufen sein muss, wenn einer böse handelt. Ich denke vielmehr, dass jeder die Veranlagung zu allem hat. Und dieses „alles“ ist ein breites Spektrum.“
Auf die Kindheit des Täters geht sie in diesem Interview überhaupt nicht ein, sondern belässt es bei diesen wagen Andeutungen.
In einem anderen Interview wurde Kastner noch deutlicher:
Frage: "Der berühmte FBI-Profiler John Douglas erklärte, dass alle psychiatrisch relevanten Verbrechen auf einer kaputten Kindheit beruhen."
Kastner: "Das stimmt nicht. Alle Erklärungen, die so einfältig daherkommen, sind mir eigentlich ein Gräuel."
Auf die Frage "Wie schwierig war Fritzls Kindheit?" geht Kastner nur auf die Kindheit seiner Mutter ein.
Dies alles verwundert, da sich Frau Kastner vor Gericht anders und deutlicher geäußert hat.
Der Focus berichtet unter Bezug auf Kastner: „Nachdem Fritzls Mutter geschieden war, bekam sie mit einem neuen Mann ein Kind. Fritzl selbst hatte sich als Alibikind bezeichnet, die Gutachterin nannte es Beweiskind: Die Mutter wollte nach der Demütigung der ersten Ehe beweisen, dass sie nicht unfruchtbar war – mehr Interesse hatte sie nicht an einem Kind, sie verabscheute es sogar. Die Mutter blieb Josef Fritzl gegenüber völlig kalt, sie erkannte nicht, wenn es ihm schlecht ging oder er litt. „Die einzigen Emotionen, die der Angeklagte in seiner Kindheit kannte, waren Angst und Ungewissheit“, sagte Kastner. Als Junge von sieben oder acht Jahren ließ ihn die Mutter allein zu Hause, und er wusste nicht, ob sie zurückkehren würde.“
Im Belfast Telegraph (03.05.2008) finden sich weitere Informationen. Brutale Misshandlungen durch seine Mutter erlebte Josef Fritzl beinahe täglich. Die Informationen stammen von einem Interview mit Fritzls Schwester. Sie sagte, dass die Mutter einen explosiven Charakter hatte und ihre Kinder durch Gewalt zu kontrollieren versuchte. Josef wuchs ohne Vater auf, seine Mutter erzog ihn mit ihren Fäusten, so die Schwester, und misshandelte ihn so sehr, dass er grün und blau aussah.
Diese Informationen über seine Kindheit sind wichtig. Sie belegen mal wieder, dass extrem grausame Täter durch ihre Tat an sich bereits Zeugnis darüber ablegen, was ihnen selbst angetan wurde. Es ist nicht vorstellbar, dass jemand wie Fritzl liebevoll oder „nur“ gelegentlich mit Gewalt erzogen wurde. Fast 365 Tage im Jahr erlebte er Terror und schwere Misshandlungen durch seine Mutter. Damit gehört er zu einer Minderheit von unter 1 % der Bevölkerung. Von diesen 1 % werden natürlich nicht alle zu einem „Fitzl“ oder ähnlichem Täter. Aber Taten wie seine, können nur auf Grund dieses Fundaments geschehen. Dass die Gutachterin dazu keine deutlichen Worte findet, ist nachlässig, um es milde auszudrücken. Mehr noch, sie verdreht sogar die Analyse, indem sie sagt, dass nicht unbedingt etwas "grob fehlgelaufen sein muss", damit ein Mensch "böse" wird. Aber diese Nachlässigkeit ist sehr oft Standard, wenn es um Aussagen von Psychiatern geht, die bzgl. der Tätergenese befragt werden. Die Psychiater tragen durch diese Blindheit oder durch das Vermeiden deutlicher Worte zur Kindheit mit dazu bei, dass die tieferen Ursachen der Gewalt gesellschaftlich nicht gesehen werden.
Freitag, 12. April 2013
"Babydiktator" Kim Jong-un, Kindheit in Korea und Kriegsrhetorik
(Mit freundlicher Erlaubnis von (c) Harm Bengen (www.harmbengen.de), Titel des Bildes "An den Tisch")
In den letzten Wochen waren die Medien täglich voll mit Bildern von dem nordkoreanischen Diktators Kim Jong-un. Wie es eine Diktatur will, werden nur Fotos in die Öffentlichkeit gebracht, die das Regime auch so befürwortet bzw. die man nach außen hin präsentieren will. Zu sehen war i.d.R. Kim Jong-un in schwarzem Mantel, umringt von uniformierten Getreuen, Generälen, Militärs und Beratern, die ihm meist irgendetwas militärisches zeigten. Man bekam das Bild eines politischen Führers, der sich (meist interessiert und gut gelaunt) informiert, zu dem seine Getreuen stehen und der sich Kompetenz aneignet oder auch bereits auszustrahlen versucht. Zudem bekam man das Bild eines Führers, der kriegsbereit ist. Dieses inszenierte Bild passt nicht zu dem, was der Diktator an sich verkörpert. Er ist jung, sehr jung, eher etwas dick, hat fast kindliche Züge, strahlt kaum Autorität aus. Seine Berater - auf den Fotos - dagegen sind oftmals über 60 Jahre alt und sehr erfahren in Politik und Militär. Die Badische Zeitung brachte die emotionale Wirkung unter dem Titel "Zwischen Witzfigur und Schreckgestalt: Kim Jong-un" auch in Worten auf den Punkt:
"Babyface: Wie alt Kim Jong-un ist, steht nicht genau fest. Sein Geburtsjahr wurde von Nordkorea erst mit 1983, später mit 1982 angegeben. Danach wäre er jetzt mindestens 30. Doch er hat – wie der berühmte Gangster "Babyface Nelson" – das Aussehen eines kleinen, dicken Kindes, mit kurzen Gliedmaßen und Pausbacken. Schon das macht es schwer, in ihm mehr als einen Jungen zu sehen, der mit Raketenattrappen spielt. Und doch scheint er – jetzt oder bald – Macht über einsatzfähige Nuklearsprengköpfe zu haben. Weiß er, was er in den Händen hält? Kann man mit so einem unheimlichen Kind reden?"
Dieses Bild wurde auch von vielen Cartoonisten und Karikaturisten aufgenommen und zwar in einer sehr abfälligen Art. Nach nur ca. 45 Minuten Recherche fand ich etliche Bilder, die den Diktator als Baby, Kleinkind oder impotenten Liebhaber darstellen – meist in der englisch sprachigen Presse oder auf englischen Internetseiten. Der Grundtenor der Bilder: Was für ein Waschlappen! Der will wohl Krieg spielen und hat von nichts Ahnung! (siehe weiter unten entsprechende Links) Dieser Druck wird sicher auch bei Kim Jong-un ankommen, natürlich nicht nur durch Cartoons, sondern vor allem durch allgemeine Berichterstattung im Ausland, aber ganz sicher auch auf die eine oder andere Art und Weise aus den eigenen Reihen in Nordkorea.
An dieser Stelle sollte man sich einen Satz des Gefängnispsychiaters James Gilligan vor Augen führen: „The most dangerous men on earth are those who are afraid that they are wimps.” Frei übersetzt: Die gefährlichsten Menschen der Welt sind die, die Angst davor haben, als “Warmduscher” angesehen zu werden. Gefährlich werden diese Menschen deshalb, weil sie als Kind massiv in ihrer Würde verletzt wurden, weil sie keine Liebe erfahren haben und später, als Erwachsene, auf äußere Ablehnung, Demütigungen oder als demütigend empfundene Äußerungen gewalttätig reagieren. Dazu kommen mögliche Gruppenprozesse. Denn den Nordkoreanern wird auferlegt, ihren Führer zu lieben und zu verehren. Wird er beleidigt und verlacht, so trifft dies auch die „Volksseele“ und dies wohl um so mehr, je mehr ebenfalls sehr verletzende und demütigende Erfahrungen in der Kindheit gemacht wurden.
Über die Kindheit von Kim Jong-un konnte ich bisher nicht viel finden. Aber jedem wird klar sein, dass sein Vater nicht gerade ein mitfühlender Mensch gewesen ist, sondern ein Mensch, der Andere knechtet und unterdrückt. Warum sollte er zu seinem Sohn anders oder besonders liebevoll gewesen sein? Über die Kindheiten in Nordkorea konnte ich ebenfalls nicht viel finden, allerdings gibt es einige Daten über Südkorea. Es ist wahrscheinlich, dass diese nicht nur auch für den Norden gelten, sondern dass Kindheit im Norden noch weit aus schlimmer sein wird, als im demokratischen Süden.
---------------------------------------------------------------------
Die Studie „Kim D-H (2000): Children’s Experience of Violence in China and Korea: A Transcultural Study. Child Abuse & Neglect, 18: 155–166” brachte folgende Ergebnisse: Familiäre Gewalt erlebten innerhalb eines Jahres vor der Befragung 68.9% der Kinder in Südkorea. 62 % wurden zudem von Lehrkräften geschlagen.
Die selbe Untersuchung ergab auch, dass in Südkorea 90 % der Eltern körperliche Bestrafungen ihrer Kinder für notwendig halten. (zitiert nach UNICEF, 2006b, S. 52ff)
Eine Studie, in der SchülerInnen direkt befragt wurden, ergab, dass 51,3 % der südkoreanischen Kinder schwere körperliche Gewalt durch ihre Eltern erlebt haben. (Kim DH et al. Children’s experience of violence in China and Korea: a transcultural study. Child Abuse & Neglect, 2000, 24:1163–1173; zitiert nach WHO, 2002, S. 63)
Eine Elternbefragung ergab, dass zwei Drittel aller südkoreanischen Eltern ihre Kinder schlagen; 45% gaben dabei schwerere Gewaltformen an (vgl. Hahm H, Guterman N. (2001):The emerging problem of physical child abuse in South Korea. Child Maltreatment, 6:169–179; zitiert nach WHO, 2002, S. 62).
Eine Befragung von 152 südkoreanischen Kindern ergab, dass 97,4 % körperliche Gewalt in ihrer Familie erleben. Und 93,6 % erlebten körperliche Bestrafungen in der Schule. (Beazley, H. et al (2006): What Children Say: Results of comparative research on the physical and emotional punishment of children in Southeast Asia and Pacific. Save the Children Sweden (Hrsg,). Stockholm. S. 136)
---------------------------------------------------------------------
Das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in Korea ist extrem hoch, zudem sind auch die schweren Gewaltformen nicht selten, sondern betreffen ca. jedes zweite Kind! Wie immer muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass dies relativ aktuelle Zahlen sind. Die Machtmenschen und ranghohen Militärs und Politiker in Korea, die heute über 50 Jahre alt sind, werden vermutlich noch weit aus mehr von Gewalt betroffen gewesen sein, als die späteren Generationen. Zudem sagen Zahlen zur körperlichen Gewalt immer auch etwas zum sonstigen Umgang mit Kindern aus. Wer Kinder misshandelt, der demütigt auch, der hört nicht auf die Bedürfnisse der Kinder, der kann nicht bedingungslos lieben, der ist als Elternteil emotional unreif.
Die emotionale Situation in Korea ist entsprechend brisant. Freund-Feindschemata werden in Krisenzeiten vor allem von den einst geschlagenen Kindern reaktiviert. Aber auch von westlicher Seite drohen destruktive Kindheiten den Eskalationsprozess zu beschleunigen. Kim Jong-un wird – das zeigen die politischen Cartoons – im englischsprachigen Westen zum Teil als launisches Baby/Kleinkind wahrgenommen, das sich „nicht benehmen“ kann. Der nächste Gedanke wäre dann (vor allem wenn als Kind selbst keine friedlichen Konfliktlösungen gelernt wurden), dass dieses "widerspenstige, ungehorsame Kind" eine Lektion und Strafe verdient hat. (Ein interessanter Cartoon aus dem Jahr 2011 zeigt, wie die UN als strafender Vater auftritt, bereit den kleinen Kim Jong-il - der verstorbene Vater von Kim Jong-un - mit einer UN-Rute zu züchtigen. Die Fantasie, dass Nordkorea ein trotziges Kleinkind ist, das körperliche Züchtigung verdient, scheint also schon länger im Raum zu sein.) Wenn sich diese beiden emotionale Prozesse verdichten – also ein sich beschämt, gedemütigt und bevormundet fühlendes Nordkorea, was alte Kindheitstraumata hervorzuholen droht und ein auf Strafe und Sanktionen pochender Westen (wobei Kindheit in den USA und natürlich auch in China ebenfalls sehr gewaltvoll ist), der den ungezogenen „Babydiktator“ endlich in seine Schranken weist – dann droht der Konflikt in der Tat kriegerisch zu werden. Die meisten Kommentatoren wundern sich auch über das Agieren des kleinen und vollkommen unterlegenen Nordkorea. Sie vergessen dabei, dass das politische Agieren in einem Land, in dem eine riesige Mehrheit als Kind von den Eltern verletzt wird, vor allem emotional gelenkt oder besser gesagt emotional gestört ist. Das kann auch bedeuten, dass man sich selbst ohne Weiteres zu opfern bereit ist, alleine aus dem Grund, dass man die Beschämungen von Außen und den drohenden inneren Zusammenbruch (weil misshandelte Menschen oftmals keine feste, sichere Identität aufbauen können) unerträglich findet. „Lieber tot, als beschämt und vor dem eigenen inneren Nichts stehend.“ Dies ist die aktuelle Gefahr in Korea! Die Prozesse sind also nicht nur durch Logik zu lösen, sondern man muss auch oder besser gesagt viel mehr die emotionale Lage der Beteiligten berücksichtigen. Das bedeutet, dass Politik Berater braucht, die sich mit emotionalen Prozessen bei Menschen auskennen. Das bedeutet u.a. auch, man muss Nordkorea ernster nehmen, emphatisch auf sie zugehen und das Land und seinen jungen Führer nicht beschämen. Akut Selbstmord gefährdete Menschen schreit man nicht aus der Ferne an und droht ihnen, was ihnen alles passieren wird, wenn sie nicht gehorchen.
Einige Cartoons über Kim Jong-un:
Kim Jong-un als...
impotenter Liebhaber (Daily News)
als impotenter Liebhaber
als Mann, der eine Unterhose mit Raketen bedruckt trägt und sich dadurch potent fühlt
als impotenter Liebhaber mit kleinem Penis
(auf dem SPIEGEL Titelbild der Ausgabe 15/2013 sitzt der Diktator auf einer Atomrakete, so dass die Rakete wie ein Phallussymbol wirkt. Auch hier die Andeutung, dass seine Kriegsdrohungen etwas mit der Angst zu tun haben, nicht potent und kompetent zu wirken.)
als Kind, das mit seiner Playstation Krieg spielt
als Comic-Kind, der eine Rakete in der Hand hält und ausruft: „Respect my Autoritah!“
als Jugendlicher, der mit echten Raketen wie mit Feuerwerkskörpern hantiert
als Kleinkind, das beim Anblick von Raketen ausruft: "Toys!" (Spielzeug!):
als Kleinkind mit Teddy, der eine Rakete zu Weihnachten bekommt
als Baby, das mit Totenköpfen in einem Zimmer sitzt
als Baby, das mit Atomraketen spielt
als Baby, dass eine Atomrakete als Saugflasche benutzt
als Baby, das den roten Knopf drückt
als Baby mit Windel
als Baby mit Raketenrassel
als Kleinkind, das an seinem Schreibtisch vor zwei roten Knöpfen sitzt. Ein Mann im Anzug sagt: "Sei vorsichtig. Mit dem einen Knopf rufst Du Deine Mutti an. Mit dem anderen löst Du einen nuklearen Feuersturm aus."
als großes Baby. Überschrift: Das größte Baby der Welt. Es ruft. "Waaaaah! Beachtet mich oder ich werde Los Angeles auslöschen!" In der Hand hält er eine Rakate. (veröffentlich in der Los Angeles Times).
als Baby, das mit einem Hammer auf eine Atomrakete hauen möchte. (veröffentlicht in der Denver Post)
Als Baby mit Rakete als Rassel (veröffentlicht bei topnewstoday)
als Baby mit Rakate
als Baby mit Rakete
als trotziges Kleinkind, das an den Tisch zitiert wird (siehe auch Bild eingangs des Blogbeitrages)
als Kleinkind-Cowboy mit großem Kopf, das aus seinem Kinder-Buggy ("Made in China") aussteigt und eine Rakete als Pistole hat.
als Schüler, der zur Strafe in der Ecke sitzen muss. Auf dem Rücken ein Schild: "Spielt nicht gut mit Anderen zusammen."
Nachtrag:
Der Kabarettist Andreas Rebers in der ca. 33. Minute von „Neues aus der Anstalt“ im ZDF, Sendung vom 28.05.2013: „Warum sind alle gegen Gewalt? Ich meine Nordkorea, dass da mal einer hinfährt, und dieses dicke kommunistische Kind einfach mal nach allen Regeln der Kunst verprügelt mit einer Dachlatte den Arsch durchwalgt (längere Pause weil das Publiukum lacht und applaudiert) bis er heult und sagt „bitte, bitte hört auf, ich will es auch nie wieder tun" und dann kommen diese Tugendbolde und sagen „Gewalt ist keine Lösung“, na gut, gibt es eben Krieg.„
Abonnieren
Posts (Atom)