Nachdem ich mich in der Vergangenheit hier viel mit den (schrecklichen) Kindheiten von Diktatoren beschäftig habe, war es mir wirklich eine Freude, mich nun mit der Kindheit von Alice Schwarzer zu befassen. Ich habe schon vor geraumer Zeit darüber nachgedacht, dass man eigentlich das Thema Ursachen von Gewalt/Destruktivität zusätzlich von einer ganz anderen Seite angehen müsste. Die TäterInnen bekommen stets viel Aufmerksamkeit und werden erforscht, was auch gut ist. Als „Vergleichsgruppe“ müsste man aber eigentlich auch die biographischen Hintergründe von Menschen analysieren, die eben nicht destruktiv handeln, sondern die sich vielmehr authentisch fürs Gemeinwohl einsetzen und durch ihr echtes Mitgefühl auffallen. Wenn ich die Zeit hätte, ich würde mir die Biographien von so einigen interessanten Menschen schnappen und diese durcharbeiten. Die erste Grundannahme wäre dabei für mich, dass solche Menschen sehr wahrscheinlich mindestens einen liebevollen und fürsorglichen Elternteil oder eine Elternfigur in ihrem Leben hatten, der/die Vorbildfunktionen übernahm und die Empathiefähigkeit des Kindes förderte. Die zweite Grundannahme wäre, dass solche Menschen sehr wahrscheinlich kaum oder keine Gewalt durch Elternteile oder Elternfiguren erlebt haben.
Zur Sache: Alice Schwarzer wuchs – unehelich geboren – bei „einem sehr fürsorglichen Großvater und einer sehr politischen Großmutter" (http://www.aliceschwarzer.de/144.html) wie eine Tochter auf und wurde von deren Erfahrungen geprägt. Ihre Mutter war für sie eher wie eine ältere Schwester, während dem Großvater die Mutterrolle zukam.
Über Alice Schwarzers biologischen Vater erfährt man nicht viel. Er war ein Freund ihrer Mutter und erfuhr nichts von der Schwangerschaft. Alice Schwarzer hat nach eigenen Angaben ihren Vater nie kennengelernt. (vgl. Mika, 1998, S. 28+52)
Ihr Großvater wird von Dünnebier & v. Paczensky (1998) als sensibler, weicher und zärtlicher Mensch beschrieben, der für das Kind die Breie kochte, Kuchen backte und am Abend Gute-Nacht-Geschichten vorlas. Die Großmutter interessierte sich seit die kleine Alice reden konnte sehr für sie, nahm sie ernst und beriet sich auch mit ihr. Zu den Großeltern sagte Alice Mama und Papa und zu ihrer Mutter Mutti. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Großeltern einen antiautoritären Erziehungsstil gegenüber Alice anwandten. Alice hatte als Kind sehr viele Freiheiten und durfte i.d.R. machen, was sie wollte. Alice musste sich an keine vorgeschriebenen Rollen anpassen, sie durfte als Mädchen wild spielen, Baumhäuser bauen, über spiegelglatte Straßen mit dem Schlitten rasen, stark sein usw. Zwangsläufig übernahm sie dadurch auch früh Verantwortung für ihr Leben. Insbesondere wurde sie als Person schon als Kind ernst genommen. Gewalt und Patriarchentum gab es in der Familie Schwarzer nicht. Bis heute haben sich ihr die beiden einzigen Male tief eingegraben, wo sie vom Großvater eine Ohrfeige bekommen hat, weil das so ganz außerhalb der Regeln war. Auch gab es in der Familie Schwarzer Vorbilder für Zivilcourage. „Ich hatte das Glück, in einer Familie aufgewachsen zu sein, die die Nazis gehasst hatte und weiterhin politisch wach blieb.“ (Dünnebier & v. Paczensky, 1998, S. 23)
Als schmerzvolle frühe Erfahrungen können wohl die Verwirrungen der Kriegsjahre und der damit zusammenhängende kurze Aufenthalt in einem Kinderheim angesehen werden. Später werden auch die Erfahrungen von heftigen Streitereien zwischen ihren Großeltern nicht spurlos an Alice vorübergegangen sein. Die Großmutter wird als ambivalenter Charakter beschrieben, mit Eigenschaften wie großem Gerechtigkeitssinn, Charakterstärke, Intelligenz, hohem politischen Bewusstsein usw., aber sie wird auch mit Worten wie tyrannisch und boshaft (gegenüber dem Großvater, nicht gegenüber Alice) und vom Leben enttäuscht dargestellt, was es Alice – die natürlich auf der Seite des geliebten Großvaters stand – sicherlich nicht gerade leicht machte.
Alles in allem hatte es Alice Schwarzer als Kind wohl auch in Teilen schwer. Die Autorin Bascha Mika versucht in ihrer „kritischen Biographie“ insbesondere die spezielle Familienkonstellation, die Familienstreitereien und die Rolle eines unehelich geborenen Kindes im Nachkriegsdeutschland herauszustellen. Bei Dünnebier & Paczensky werden diese Probleme erwähnt, aber nicht zum zentralen Problem, da Alice als Kind ihre Familiensituation selbst nicht im Wesentlichen als problematisch erlebte, hatte sie doch „Vater“ und „Mutter“, eine „Mutti“ und viele Freiheiten. Eher noch wird diese spezielle Situation zum Antriebspunkt, Dinge und gesellschaftliche Normen anders zu betrachten.
Auch die kritische Bascha Mika beschreibt allerdings den fürsorglichen, liebevollen Großvater, der gegen den Zeitgeist sehr mütterlich war. (vgl. Mika, 1998, S. 37ff) Alice Schwarzer erlebte Geborgenheit und Liebe und – für damalige Verhältnisse recht ungewöhnlich – keine traumatische Gewalt in der Familie. Schaut man sich das Leben und die Arbeit von Alice Schwarzer an, dann finden sich viele Verbindungslinien zu ihren Kindheitserfahrungen und ihrer (ungewöhnlichen) Sozialisation. Ihr authentischer und starker Einsatz gegen eine Spaltung von Menschen in Männer und Frauen, für mehr Emanzipation und Gerechtigkeit, gegen Krieg, gegen Kindesmissbrauch, gegen Extremismus usw., ihre humorvolle, lebensfrohe Art, ihre häufige Betonung, dass ihr Handeln sehr von Mitgefühl geleitet würde, die journalistische Arbeit für die Darstellung positiver Identifikationsfiguren bzw. Vorbilder, das Ernstnehmen ihrer LeserInnen und nicht zuletzt ihre Fähigkeit, keine Feindbilder für die Aufrechterhaltung ihres Selbstwertes zu brauchen (diesen Punkt mag der ein oder andere kritisch sehen, wenn man aber genau hinschaut, will Frau Schwarzer die Emanzipation im Grunde mit den Männern zusammen und auch für diese gestalten, nicht gegen sie.) all das bringt mich zu der Frage, ob Alice Schwarzers Weg der selbe gewesen wäre, hätte sie als Kind Gewalt durch ihre Elternfiguren erlebt. Alice Schwarzer sagte mit Bezug zur Wirkung der erlebten gewaltfreien Erziehung über sich selbst: „Und da ich zwar Schmerz, aber keine Erniedrigung und Gewalt innerhalb meiner Familie erlitten hatte, war ich, glaube ich, eine recht stolze, unerschrockene Person.“ (Dünnebier & v. Paczensky, 1998, S. 26f) Eine Aussage, die für sich spricht.
Literatur:
Dünnebier, A. & v. Paczensky, G. 1998: Das bewegte Leben der Alice Schwarzer. Die Biographie. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln.
Mika, B. 1998: Alice Schwarzer. Eine kritische Biographie. Rowohlt Verlag Reinbek.
Samstag, 30. Mai 2009
Mittwoch, 13. Mai 2009
Kindheit von Napoleon Bonaparte
Im Grundlagentext habe ich für dieses Thema wichtige Passagen über die Kindheit von Napoleon Bonaparte durch die Quelle "Neumayr, A. 1995: Diktatoren im Spiegel der Medizin. J & V Verlag, Wien. " hinzugefügt:
Der eränzte Text sieht wie folgt aus:
Schon als Kind fiel Napoleon nach Neumayr (1995) durch seine aufbrausende Art, seinen Jähzorn, seine Grobheit und bisweilen auch durch Brutalität auf. Ein ehemaliger Mitschüler Napoleons berichtet über ihn: „Immer lag etwas Bitteres in seinen Worten, sein Wesen hatte nichts Liebevolles (...).“ (Neumayr, 1995, S. 17)
Schon seine Jugendjahre waren zudem geprägt von Lebensmüdigkeit und depressiven Verstimmungen „Was soll ich in der Welt? Da ich doch einmal sterben muss, könnte ich mich dann nicht jetzt schon umbringen?“ und „Das Leben ist mir zur Last, ich habe keinen Genuss, alles wird Schmerz.“ (ebd., S. 18+19) An dieser Stelle wird deutlich, wie viel Wahrheit in dem Satz „Glückliche Menschen fangen keine Kriege an.“ (deMause, 2005, S. 109) steckt, diesen Satz habe ich über dem Inhaltsverzeichnis dem Gesamttext einleitend vorangestellt.
Als Erwachsener prägte Napoleon schließlich entscheidend die Entwicklungen in Europa und ging vor allem auf Grund seiner Feldzüge und Kriege in die Geschichte ein. Mit dem Namen Napoleon verbindet man auch einen ausgeprägten Größenwahn, Narzissmus und Minderwertigkeitskomplex.
Der eränzte Text sieht wie folgt aus:
Schon als Kind fiel Napoleon nach Neumayr (1995) durch seine aufbrausende Art, seinen Jähzorn, seine Grobheit und bisweilen auch durch Brutalität auf. Ein ehemaliger Mitschüler Napoleons berichtet über ihn: „Immer lag etwas Bitteres in seinen Worten, sein Wesen hatte nichts Liebevolles (...).“ (Neumayr, 1995, S. 17)
Schon seine Jugendjahre waren zudem geprägt von Lebensmüdigkeit und depressiven Verstimmungen „Was soll ich in der Welt? Da ich doch einmal sterben muss, könnte ich mich dann nicht jetzt schon umbringen?“ und „Das Leben ist mir zur Last, ich habe keinen Genuss, alles wird Schmerz.“ (ebd., S. 18+19) An dieser Stelle wird deutlich, wie viel Wahrheit in dem Satz „Glückliche Menschen fangen keine Kriege an.“ (deMause, 2005, S. 109) steckt, diesen Satz habe ich über dem Inhaltsverzeichnis dem Gesamttext einleitend vorangestellt.
Als Erwachsener prägte Napoleon schließlich entscheidend die Entwicklungen in Europa und ging vor allem auf Grund seiner Feldzüge und Kriege in die Geschichte ein. Mit dem Namen Napoleon verbindet man auch einen ausgeprägten Größenwahn, Narzissmus und Minderwertigkeitskomplex.
Dienstag, 5. Mai 2009
Kindheit von Nicolae Ceauşescu
Im Grundlagentext habe ich für dieses Thema wichtige Passagen über die Kindheit von Nicolae Ceauşescu durch die Quelle "Miller, A. 1990: Abbruch der Schweigemauer. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg. " hinzugefügt:
Über den Vater des rumänischen Diktators Nicolae Ceauşescu wird berichtet, dass er sein weniges Geld im Wirtshaus vertrank, statt seine Kinder zu ernähren (insgesamt hatte er 10 Kinder, wovon eines früh starb) und dass er seine Kinder täglich „zu ihrem Besten“ schlug. Die Mutter achtete streng auf die schulischen Leistungen der Kinder, die sie ebenfalls ausgiebig prügelte. (vgl. Miller, 1990, S. 115) Alice Miller analysiert in ihrem Beitrag u.a. den Wahn des Diktators Ceauşescu, der sein Volk zu einem Überfluss an Kindern zwang, die nicht ernährt und gewärmt werden konnten. „Der Tyrann hat sich für sein persönliches Schicksal stellvertretend an Tausenden Müttern, Vätern und Geschwistern gerächt. Indem er sich weigerte, sich mit seinem Schicksal zu konfrontieren, seine Geschichte und seine Gefühle von damals total verdrängt hielt, brachte er ein ganzes Volk an den Rand des Untergangs. Ceauşescu hat nicht nur die rumänischen Kinder in die gleiche Not getrieben, die einst die seine war: Lieblosigkeit, Hunger, Kälte, ständige Kontrolle und die allgegenwärtige Heuchelei. (...) Er wollte Millionen Frauen dazu zwingen, Mütter zu werden, um ja niemals fühlen zu müssen, was er als Kind verdrängte: dass er seiner Mutter nur eine Last war und dass seine Existenz nachweisbar von ihr vergessen wurde.“ (ebd., S. 120)
Über den Vater des rumänischen Diktators Nicolae Ceauşescu wird berichtet, dass er sein weniges Geld im Wirtshaus vertrank, statt seine Kinder zu ernähren (insgesamt hatte er 10 Kinder, wovon eines früh starb) und dass er seine Kinder täglich „zu ihrem Besten“ schlug. Die Mutter achtete streng auf die schulischen Leistungen der Kinder, die sie ebenfalls ausgiebig prügelte. (vgl. Miller, 1990, S. 115) Alice Miller analysiert in ihrem Beitrag u.a. den Wahn des Diktators Ceauşescu, der sein Volk zu einem Überfluss an Kindern zwang, die nicht ernährt und gewärmt werden konnten. „Der Tyrann hat sich für sein persönliches Schicksal stellvertretend an Tausenden Müttern, Vätern und Geschwistern gerächt. Indem er sich weigerte, sich mit seinem Schicksal zu konfrontieren, seine Geschichte und seine Gefühle von damals total verdrängt hielt, brachte er ein ganzes Volk an den Rand des Untergangs. Ceauşescu hat nicht nur die rumänischen Kinder in die gleiche Not getrieben, die einst die seine war: Lieblosigkeit, Hunger, Kälte, ständige Kontrolle und die allgegenwärtige Heuchelei. (...) Er wollte Millionen Frauen dazu zwingen, Mütter zu werden, um ja niemals fühlen zu müssen, was er als Kind verdrängte: dass er seiner Mutter nur eine Last war und dass seine Existenz nachweisbar von ihr vergessen wurde.“ (ebd., S. 120)
Montag, 4. Mai 2009
Kindheit von Saddam Hussein
Im Grundlagentext habe ich die Schilderungen über die Kindheit von Saddam Hussein noch mal wesentlich durch die Quelle "Coughlin, C. 2002: Saddam Hussein. Porträt eines Diktators. List Verlag, München." ergänzt.
Bzgl. der traumatischen Kindheit von Saddam Hussein standen mir ursprünglich nur einige kurze Passagen durch die Quelle deMause (2005) zur Verfügung. Im Internet fand ich fast nichts dazu. Ich vermutete, dass es wohl kaum gesicherte und ausführliche Darstellungen über seine Kindheit in einem kleinen irakischen Dorf geben würde. Falsch gedacht! Coughlin (2002) beschreibt Saddams Kindheit ausführlich in einem eigenen Kapitel und geht insbesondere auch auf die vielen Gewalterfahrungen ein, was fast schon etwas ungewöhnlich für einen Biographen ist. Ich hatte mit einem hohen Ausmass von Gewalt gegen Saddam gerechnet. Was ich bei Coughlin las, übertraf meine Vermutungen.
Ich frage mich, wer im Angesicht dieser Gewaltexzesse gegen das Kind Saddam noch ernsthaft die Augen vor einem deutlichen Zusammenhang von Saddams Kindheit und seiner späteren mörderischen Politik verschließen möchte?
Der Text lautet jetzt wie folgt:
Auch der irakische Diktator Saddam Hussein hatte laut deMause (2005) „eine unglaublich traumatische Kindheit“. „Seine Mutter versuchte ihn abzutreiben, indem sie mit den Fäusten gegen ihren Unterleib schlug, sich mit einem Küchenmesser schnitt und dabei schrie: „In meinem Bauch trage ich einen Satan!“ „ (deMause, 2005, S. 29) Saddam verlor früh den Vater, wobei die Umstände dessen Verschwindens im Dunkeln bleiben. Zur Vaterfigur wurde ein Onkel mütterlicherseits – Khairallah Tulfah -, bei dem Saddam unterkam und den er bewunderte. Dieser Onkel wird von Coughlin (2002) als „streitsüchtiger und launischer Mensch“ und als „unbelehrbarer Bewunderer Adolf Hitlers und des Nationalsozialismus“ beschrieben. (vgl. Coughlin, 2002, S. 46) DeMause schreibt, dass Saddam regelmäßig von diesem Onkel geschlagen wurde, dieser ihn den „Sohn eines Köters“ nannte und er Saddam beibrachte, wie man eine Waffe gebraucht. (vgl. deMause, 2005, S. 29) Khairallah kam schließlich für seine Naziverehrung ins Gefängnis und der junge Saddam musste wieder bei seiner Mutter leben, die mittlerweile einen neuen Mann gefunden hatte. Willkommen geheißen wurde er nicht und er scheint in seinem zu Hause „sträflich vernachlässigt worden zu sein“. Der neue Stiefvater war zudem brutal. Er „(...) verpasste dem kleinen Jungen gern eine Tracht Prügel mit einem mit Asphalt überzogenen Stock.“ (Coughlin, 2002, S. 48) Saddam Hussein vertraute dem offiziellen Biographen Iskander an, dass er niemals jung und unbeschwert war, sondern stets ein eher trauriges Kind, das sich von den anderen fern hielt. Coughlin spekuliert auch über einen möglichen sexuellen Missbrauch Saddams durch den Stiefvater. (vgl. ebd.) Da Saddam vaterlos und ein Außenseiter war, wurde er zusätzlich gnadenlos von den anderen Kindern des Dorfes gehänselt und oft auch verprügelt. „Er wurde so schlimm drangsaliert, dass er sich angewöhnte, zur Verteidigung einen Eisenstab mitzunehmen, wenn er sich aus dem Haus wagte.“ (ebd., S. 49)
Saddam Hussein vergötterte seine Mutter (die nebenbei bemerkt auf keinem erhaltenden Foto lächelte, sondern eher finster dreinblickte) bis zu ihrem Tode, worüber sich der Biograph Coughlin „angesichts der Erniedrigungen“ sehr wundert. (Anmerkung: Wenn man sich die Fakten anschaut, erscheint Saddams Bezeichnung für den ersten Golfkrieg als "Mutter aller Schlachten" in einem ganz anderen Licht...)Ebenso verehrte er seinen (gewalttätigen) Onkel, den er später zum Bürgermeister von Bagdad machte. Hier findet sich erneut eine starke Identifikation mit den Aggressoren.
Saddam Hussein verübte nach deMause seinen ersten Mord im Alter von 11 Jahren... (vgl. deMause, 2005, S. 29)
Nachbemerkung:
Alice Miller sprach sich in einem SPIEGEL-Online Artikel für die Todesstrafe gegen Saddam Hussein aus. „Selbstverständlich bin ich gegen die Todesstrafe im Allgemeinen, doch mit Ausnahme der Diktatoren. Es geht mir hier nicht um die "gerechte Strafe", sondern vielmehr um Prävention, um die Vorbeugung von neuen mörderischen Taten. Diktatoren haben bewiesen, dass es ihnen immer wieder bis zu ihrem Tode gelungen ist, Menschen zu verführen und sie sich zu unterwerfen. Daran arbeiten sie, solange sie leben.“ (SPIEGEL-Online, 12.01.2004, Alice Miller über Saddam Hussein: „Mitleid mit dem Vater“)
Mich verwundert diese Einstellung, trotz ihrer „sachlichen Argumentation“. War es doch vor allem Alice Miller, die immer wieder darauf aufmerksam gemacht hat, dass die Menschen sich destruktiver, unbewusster Prozesse bewusst werden müssen, um Gewalt verhindern zu können. Einen Diktator zu töten, bringt gar nichts und würde außerdem den Vollstrecker selbst zum Mörder machen. Ich halte mehr davon, die destruktive Kindheit dieser Tyrannen öffentlich zu machen, den Menschen klar zu machen, warum diese so handeln und natürlich breiten Kinderschutz voranzutreiben.
Bzgl. der traumatischen Kindheit von Saddam Hussein standen mir ursprünglich nur einige kurze Passagen durch die Quelle deMause (2005) zur Verfügung. Im Internet fand ich fast nichts dazu. Ich vermutete, dass es wohl kaum gesicherte und ausführliche Darstellungen über seine Kindheit in einem kleinen irakischen Dorf geben würde. Falsch gedacht! Coughlin (2002) beschreibt Saddams Kindheit ausführlich in einem eigenen Kapitel und geht insbesondere auch auf die vielen Gewalterfahrungen ein, was fast schon etwas ungewöhnlich für einen Biographen ist. Ich hatte mit einem hohen Ausmass von Gewalt gegen Saddam gerechnet. Was ich bei Coughlin las, übertraf meine Vermutungen.
Ich frage mich, wer im Angesicht dieser Gewaltexzesse gegen das Kind Saddam noch ernsthaft die Augen vor einem deutlichen Zusammenhang von Saddams Kindheit und seiner späteren mörderischen Politik verschließen möchte?
Der Text lautet jetzt wie folgt:
Auch der irakische Diktator Saddam Hussein hatte laut deMause (2005) „eine unglaublich traumatische Kindheit“. „Seine Mutter versuchte ihn abzutreiben, indem sie mit den Fäusten gegen ihren Unterleib schlug, sich mit einem Küchenmesser schnitt und dabei schrie: „In meinem Bauch trage ich einen Satan!“ „ (deMause, 2005, S. 29) Saddam verlor früh den Vater, wobei die Umstände dessen Verschwindens im Dunkeln bleiben. Zur Vaterfigur wurde ein Onkel mütterlicherseits – Khairallah Tulfah -, bei dem Saddam unterkam und den er bewunderte. Dieser Onkel wird von Coughlin (2002) als „streitsüchtiger und launischer Mensch“ und als „unbelehrbarer Bewunderer Adolf Hitlers und des Nationalsozialismus“ beschrieben. (vgl. Coughlin, 2002, S. 46) DeMause schreibt, dass Saddam regelmäßig von diesem Onkel geschlagen wurde, dieser ihn den „Sohn eines Köters“ nannte und er Saddam beibrachte, wie man eine Waffe gebraucht. (vgl. deMause, 2005, S. 29) Khairallah kam schließlich für seine Naziverehrung ins Gefängnis und der junge Saddam musste wieder bei seiner Mutter leben, die mittlerweile einen neuen Mann gefunden hatte. Willkommen geheißen wurde er nicht und er scheint in seinem zu Hause „sträflich vernachlässigt worden zu sein“. Der neue Stiefvater war zudem brutal. Er „(...) verpasste dem kleinen Jungen gern eine Tracht Prügel mit einem mit Asphalt überzogenen Stock.“ (Coughlin, 2002, S. 48) Saddam Hussein vertraute dem offiziellen Biographen Iskander an, dass er niemals jung und unbeschwert war, sondern stets ein eher trauriges Kind, das sich von den anderen fern hielt. Coughlin spekuliert auch über einen möglichen sexuellen Missbrauch Saddams durch den Stiefvater. (vgl. ebd.) Da Saddam vaterlos und ein Außenseiter war, wurde er zusätzlich gnadenlos von den anderen Kindern des Dorfes gehänselt und oft auch verprügelt. „Er wurde so schlimm drangsaliert, dass er sich angewöhnte, zur Verteidigung einen Eisenstab mitzunehmen, wenn er sich aus dem Haus wagte.“ (ebd., S. 49)
Saddam Hussein vergötterte seine Mutter (die nebenbei bemerkt auf keinem erhaltenden Foto lächelte, sondern eher finster dreinblickte) bis zu ihrem Tode, worüber sich der Biograph Coughlin „angesichts der Erniedrigungen“ sehr wundert. (Anmerkung: Wenn man sich die Fakten anschaut, erscheint Saddams Bezeichnung für den ersten Golfkrieg als "Mutter aller Schlachten" in einem ganz anderen Licht...)Ebenso verehrte er seinen (gewalttätigen) Onkel, den er später zum Bürgermeister von Bagdad machte. Hier findet sich erneut eine starke Identifikation mit den Aggressoren.
Saddam Hussein verübte nach deMause seinen ersten Mord im Alter von 11 Jahren... (vgl. deMause, 2005, S. 29)
Nachbemerkung:
Alice Miller sprach sich in einem SPIEGEL-Online Artikel für die Todesstrafe gegen Saddam Hussein aus. „Selbstverständlich bin ich gegen die Todesstrafe im Allgemeinen, doch mit Ausnahme der Diktatoren. Es geht mir hier nicht um die "gerechte Strafe", sondern vielmehr um Prävention, um die Vorbeugung von neuen mörderischen Taten. Diktatoren haben bewiesen, dass es ihnen immer wieder bis zu ihrem Tode gelungen ist, Menschen zu verführen und sie sich zu unterwerfen. Daran arbeiten sie, solange sie leben.“ (SPIEGEL-Online, 12.01.2004, Alice Miller über Saddam Hussein: „Mitleid mit dem Vater“)
Mich verwundert diese Einstellung, trotz ihrer „sachlichen Argumentation“. War es doch vor allem Alice Miller, die immer wieder darauf aufmerksam gemacht hat, dass die Menschen sich destruktiver, unbewusster Prozesse bewusst werden müssen, um Gewalt verhindern zu können. Einen Diktator zu töten, bringt gar nichts und würde außerdem den Vollstrecker selbst zum Mörder machen. Ich halte mehr davon, die destruktive Kindheit dieser Tyrannen öffentlich zu machen, den Menschen klar zu machen, warum diese so handeln und natürlich breiten Kinderschutz voranzutreiben.
Freitag, 27. März 2009
Amoklauf von Winnenden und die Medien
Gestern Abend meldete sich erstmals ein Vater, dessen Tochter durch den Amokläufer von Winnenden erschossen wurde, im Fernsehen bei "Maybrit ILLNER" zu Wort. Neben vielen Dingen sagte er auch einen sehr wichtigen Satz: „Tim K. hatte kein Gewissen!“ Die anschließende Diskussionsrunde beschäftigte sich dann ausschließlich mit Forderungen nach schärferen Waffengesetzen und mehr Jugendschutz bei Computerspielen. Auch in dem Offenen Brief der Opfer-Familien aus Winnenden an die Politik ging es hauptsächlich um diese Forderungen. (Von den Eltern erwarte ich allerdings auch keine tiefere Analyse, sehr wohl aber von den Medien) Zu diesen Punkten möchte ich jetzt gar nicht weiter Position beziehen.
Mich wundert allerdings, warum der Satz „Tim K. hatte kein Gewissen!“ nicht aufgegriffen wurde? Mich wundert in der medialen Diskussion sowieso, warum dieser Satz nicht zur Frage „Wie kommt es, dass ein 17jähriger kein Gewissen mehr hat?“ umformuliert eine zentrale Rolle einnimmt?
Man scheint fast davon auszugehen, dass dies wohl in unserer Gesellschaft irgendwie normal ist, dass es „zum Menschsein gehört“, dass mal der ein oder andere Amok läuft. Keiner scheint nach dem Verlauf einer Sozialisation zu Fragen, die ganz offensichtlich einen gefühlskalten jungen Mann hervorbrachte, der kein Gewissen und keinerlei Mitgefühl mehr hatte. Zumindest fanden sich in einem Text von Alice Schwarzer einige Fragen in Richtung männliche Sozialisation und am Ende die Forderung nach „aufmerksamen, zugewandten Eltern und LehrerInnen, mehr Psychologen und Sozialarbeiter in Schulen und Jugendhäusern – sowie eine Erziehung nicht etwa zum Selbstmitleid und zur "Männlichkeit", sondern zur Mitleidensfähigkeit und Menschlichkeit.“
Alice Schwarzer stand ja ursprünglich auch auf der Gästeliste der gestrigen Sendung, kam dann aber doch nicht zu Wort, schade. Diese Forderungen gehen schon mehr in die Tiefe.
Darüber hinaus sollte noch der Punkt Kinderschutz- und -fürsorge ausführlich diskutiert werden. In den Medien wird ja gerne von dem behütenden Elternhaus des Täters gesprochen, wohl weil diese wohlhabend und sehr bürgerlich sind. Man muss hier fragen, ob ein wirklich behütetes und geliebtes Kind überhaupt eine derartige Gefühlskälte entwickeln kann?
weiteres zu dem Thema:
- Amokläufer Tim K. - neue Details
- Interview mit "Beinahe-Amokläufer"
Mich wundert allerdings, warum der Satz „Tim K. hatte kein Gewissen!“ nicht aufgegriffen wurde? Mich wundert in der medialen Diskussion sowieso, warum dieser Satz nicht zur Frage „Wie kommt es, dass ein 17jähriger kein Gewissen mehr hat?“ umformuliert eine zentrale Rolle einnimmt?
Man scheint fast davon auszugehen, dass dies wohl in unserer Gesellschaft irgendwie normal ist, dass es „zum Menschsein gehört“, dass mal der ein oder andere Amok läuft. Keiner scheint nach dem Verlauf einer Sozialisation zu Fragen, die ganz offensichtlich einen gefühlskalten jungen Mann hervorbrachte, der kein Gewissen und keinerlei Mitgefühl mehr hatte. Zumindest fanden sich in einem Text von Alice Schwarzer einige Fragen in Richtung männliche Sozialisation und am Ende die Forderung nach „aufmerksamen, zugewandten Eltern und LehrerInnen, mehr Psychologen und Sozialarbeiter in Schulen und Jugendhäusern – sowie eine Erziehung nicht etwa zum Selbstmitleid und zur "Männlichkeit", sondern zur Mitleidensfähigkeit und Menschlichkeit.“
Alice Schwarzer stand ja ursprünglich auch auf der Gästeliste der gestrigen Sendung, kam dann aber doch nicht zu Wort, schade. Diese Forderungen gehen schon mehr in die Tiefe.
Darüber hinaus sollte noch der Punkt Kinderschutz- und -fürsorge ausführlich diskutiert werden. In den Medien wird ja gerne von dem behütenden Elternhaus des Täters gesprochen, wohl weil diese wohlhabend und sehr bürgerlich sind. Man muss hier fragen, ob ein wirklich behütetes und geliebtes Kind überhaupt eine derartige Gefühlskälte entwickeln kann?
weiteres zu dem Thema:
- Amokläufer Tim K. - neue Details
- Interview mit "Beinahe-Amokläufer"
Freitag, 20. März 2009
Fuck the world!
In dem SPIEGEL-TV Bericht „Polizei gegen Jugendgewalt, Teil 3“ (vom 09.03.2009) wurde u.a. ein (ursprünglich aus Afghanistan stammender) junger Mann während einer Vernehmung im Jugendgefängnis vorgestellt. Zu diesem Bericht möchte ich einige Gedanken zusammenfassen.
Der Mann ist ein bulliger, unruhiger Kerl, vor dem man in der Tat Angst haben müsste, wären nicht zwei Polizisten im Raum. „Einsichtig“ berichtet er, dass er bzgl. einer seiner Straftaten heute anders gehandelt hätte. Damals gab es einen Konflikt mit einem anderen Jugendlichen. Er schnitt ihm darauf ein Ohr ab. Heute würden es auch Schläge tun, meint er...
Und dann sprudelt es während der Befragung aus ihm heraus. „Ich war nicht immer so, ich wurde zu dem gemacht, was ich heute bin.“ In Afghanistan herrschte überall Gewalt, berichtet er. Zu Hause in der Familie und auch draußen. Nirgends gab es Sicherheit. Er musste lernen, zu überleben. Dann zieht er sein T-Shirt aus und zeigt seine vielen Tätowierungen. Diese habe er sich nicht zum Vergnügen machen lassen. Sie seien alle Symbole. Hinten am Rücken prangt in großer Schrift „FUCK THE WORLD“. Diesen Schriftzug habe er machen lassen, nachdem sein Vater gestorben war. Die beiden Beamten im Raum verfolgen still und fast etwas betroffen (so kam es mir vor) diese Schilderungen.
Dieser Intensivtäter kommt einem in dem Bericht nah, zumindest ging es mir so. Und gleichzeitig möchte man ihn auf Distanz halten und ihm nicht alleine begegnen. Ich empfand Erschrecken und auch Mitleid für das, was dieser Mann früher erleiden musste. Vor allem das eintätowierte „Fuck the World“ brachte zum Vorschein, dass sich dieser Mann aufgegeben hat. Ich fragte mich, ob es überhaupt menschmöglich (z.B. in einer Therapie) sein könnte, an einen so tief verletzten Menschen heran zu kommen?
Gleichzeitig entschuldigt dies nichts und man muss die Gesellschaft vor ihm schützen. Da fühlte ich ganz klar eine Grenze. Und irgendwie wollte ich ihm auch zurufen: „Du bist verantwortlich für das, was Du getan hast!“
Im direkten Kontakt mit den Tätern ist dieses „Du bist verantwortlich für das, was Du getan hast!“ notwendig und das einzig richtige. Die Verantwortung für die eigenen Taten zu übernehmen, ist nebenbei bemerkt auch für die Heilung von Tätern sehr wichtig. Erst danach könnten sie sich selbst langsam ihre Taten verzeihen und Frieden finden. In der Realität geschieht dies leider selten. In der Analyse „von oben“ würde ich der Aussage „Ich war nicht immer so, ich wurde zu dem gemacht, was ich heute bin.“ zustimmen. Für mich geht das beides, ich weiß aber auch darum, dass genau dies ein Problem für viele darstellt.
Nun habe ich mich im Grundlagentext intensiv mit Diktatoren beschäftigt, von denen einige Millionen Menschen auf dem Gewissen haben. Ich vermute, dass es vielen Menschen aufstoßen wird, wenn ich die Kindheit dieser Schlächter beschreibe.
Was ich sagen will ist: Mir geht es hier um ein Grundverständnis dafür, wie Gewalt und Hass entsteht. Und dies aus präventiven Gründen. Das kann ich gar nicht oft genug wiederholen. Ich möchte die TäterInnen nicht entschuldigen! Wenn man dies begriffen hat, dann kann man sich wirklich auf das Thema einlassen. Der nächste Schritt wäre dann im Grunde der, dass man weltweiten Kinderschutz intensiv vorantreibt. Damit nicht noch mehr Menschen in ihre Seele und manch einer auch auf seinen Körper einbrennen „FUCK THE WORLD!“
Der Mann ist ein bulliger, unruhiger Kerl, vor dem man in der Tat Angst haben müsste, wären nicht zwei Polizisten im Raum. „Einsichtig“ berichtet er, dass er bzgl. einer seiner Straftaten heute anders gehandelt hätte. Damals gab es einen Konflikt mit einem anderen Jugendlichen. Er schnitt ihm darauf ein Ohr ab. Heute würden es auch Schläge tun, meint er...
Und dann sprudelt es während der Befragung aus ihm heraus. „Ich war nicht immer so, ich wurde zu dem gemacht, was ich heute bin.“ In Afghanistan herrschte überall Gewalt, berichtet er. Zu Hause in der Familie und auch draußen. Nirgends gab es Sicherheit. Er musste lernen, zu überleben. Dann zieht er sein T-Shirt aus und zeigt seine vielen Tätowierungen. Diese habe er sich nicht zum Vergnügen machen lassen. Sie seien alle Symbole. Hinten am Rücken prangt in großer Schrift „FUCK THE WORLD“. Diesen Schriftzug habe er machen lassen, nachdem sein Vater gestorben war. Die beiden Beamten im Raum verfolgen still und fast etwas betroffen (so kam es mir vor) diese Schilderungen.
Dieser Intensivtäter kommt einem in dem Bericht nah, zumindest ging es mir so. Und gleichzeitig möchte man ihn auf Distanz halten und ihm nicht alleine begegnen. Ich empfand Erschrecken und auch Mitleid für das, was dieser Mann früher erleiden musste. Vor allem das eintätowierte „Fuck the World“ brachte zum Vorschein, dass sich dieser Mann aufgegeben hat. Ich fragte mich, ob es überhaupt menschmöglich (z.B. in einer Therapie) sein könnte, an einen so tief verletzten Menschen heran zu kommen?
Gleichzeitig entschuldigt dies nichts und man muss die Gesellschaft vor ihm schützen. Da fühlte ich ganz klar eine Grenze. Und irgendwie wollte ich ihm auch zurufen: „Du bist verantwortlich für das, was Du getan hast!“
Im direkten Kontakt mit den Tätern ist dieses „Du bist verantwortlich für das, was Du getan hast!“ notwendig und das einzig richtige. Die Verantwortung für die eigenen Taten zu übernehmen, ist nebenbei bemerkt auch für die Heilung von Tätern sehr wichtig. Erst danach könnten sie sich selbst langsam ihre Taten verzeihen und Frieden finden. In der Realität geschieht dies leider selten. In der Analyse „von oben“ würde ich der Aussage „Ich war nicht immer so, ich wurde zu dem gemacht, was ich heute bin.“ zustimmen. Für mich geht das beides, ich weiß aber auch darum, dass genau dies ein Problem für viele darstellt.
Nun habe ich mich im Grundlagentext intensiv mit Diktatoren beschäftigt, von denen einige Millionen Menschen auf dem Gewissen haben. Ich vermute, dass es vielen Menschen aufstoßen wird, wenn ich die Kindheit dieser Schlächter beschreibe.
Was ich sagen will ist: Mir geht es hier um ein Grundverständnis dafür, wie Gewalt und Hass entsteht. Und dies aus präventiven Gründen. Das kann ich gar nicht oft genug wiederholen. Ich möchte die TäterInnen nicht entschuldigen! Wenn man dies begriffen hat, dann kann man sich wirklich auf das Thema einlassen. Der nächste Schritt wäre dann im Grunde der, dass man weltweiten Kinderschutz intensiv vorantreibt. Damit nicht noch mehr Menschen in ihre Seele und manch einer auch auf seinen Körper einbrennen „FUCK THE WORLD!“
Samstag, 7. März 2009
Vom Fühlen eines Schwerverbrechers
Bei SPIEGEL-Online findet sich ein Bericht ("Ich bin lebendiger, als du es je warst", 06.03.2009) über den „Ausbrecherkönig“ MICHEL VAUJOUR. 27 Jahre hat dieser im Gefängnis gesessen, 17 Jahre davon in Einzelhaft. Fünfmal ist er getürmt, ein Ausbruch war spektakulärer als der andere, wird berichtet.
Im Artikel erfährt man beiläufig, wie Vaujour als 17 Jähriger aus einem Gefühl der „Sinnlosigkeit“ heraus anfing zu klauen. Von den Eltern war er als Kind früh zu einer Tante abgeschoben worden. Er sei ein „wildes Kind“ gewesen. Im Gefängnis lernt er Gilles kennen. Später folgte eine Reihe von Überfällen und Diebstählen an Gilles Seite, dessen Frau und Schwester – die für Vaujour die "einzige echte Familie" waren, die er je kannte. Dies sind kleine aber wichtige Hinweise über die familiären Hintergründe dieses Schwerverbrechers.
Bezeichnend fand ich folgende Stelle im Text:
Bei einem Banküberfall geschah das, was Vaujour heute "meinen schönsten Ausbruch" nennt: Eine Kugel aus der Waffe eines Polizisten trifft ihn im Kopf. "Als ich da auf dem Trottoir lag, diese Kugel im Kopf, hörte ich noch den Polizisten zu seinem Kollegen sagen: 'Vergiss den, der ist schon tot!' Da dachte ich bei mir: 'Ich bin lebendiger, als du es jemals warst.'"
Nach dieser todesnahen Erfahrung änderte er sein Leben, sagt der SPIEGEL.
Hier finden sich erneut Parallelen zu Fallbeispielen, die ich im Beitrag „Krieg der Kindergangs“ dargestellt habe. Menschen wie Vaujour suchen die Bedrohung und den Tod, um sich dadurch „lebendig“ zu fühlen. Das ist eine erschreckende Erkenntnis.
Menschen, die als Kind Liebe und Achtung erfahren haben, werden keine Todesnähe brauchen, um sich zu fühlen. Ihr Leben wird durch alltägliches echtes Fühlen reich sein.
Im Artikel erfährt man beiläufig, wie Vaujour als 17 Jähriger aus einem Gefühl der „Sinnlosigkeit“ heraus anfing zu klauen. Von den Eltern war er als Kind früh zu einer Tante abgeschoben worden. Er sei ein „wildes Kind“ gewesen. Im Gefängnis lernt er Gilles kennen. Später folgte eine Reihe von Überfällen und Diebstählen an Gilles Seite, dessen Frau und Schwester – die für Vaujour die "einzige echte Familie" waren, die er je kannte. Dies sind kleine aber wichtige Hinweise über die familiären Hintergründe dieses Schwerverbrechers.
Bezeichnend fand ich folgende Stelle im Text:
Bei einem Banküberfall geschah das, was Vaujour heute "meinen schönsten Ausbruch" nennt: Eine Kugel aus der Waffe eines Polizisten trifft ihn im Kopf. "Als ich da auf dem Trottoir lag, diese Kugel im Kopf, hörte ich noch den Polizisten zu seinem Kollegen sagen: 'Vergiss den, der ist schon tot!' Da dachte ich bei mir: 'Ich bin lebendiger, als du es jemals warst.'"
Nach dieser todesnahen Erfahrung änderte er sein Leben, sagt der SPIEGEL.
Hier finden sich erneut Parallelen zu Fallbeispielen, die ich im Beitrag „Krieg der Kindergangs“ dargestellt habe. Menschen wie Vaujour suchen die Bedrohung und den Tod, um sich dadurch „lebendig“ zu fühlen. Das ist eine erschreckende Erkenntnis.
Menschen, die als Kind Liebe und Achtung erfahren haben, werden keine Todesnähe brauchen, um sich zu fühlen. Ihr Leben wird durch alltägliches echtes Fühlen reich sein.
Samstag, 14. Februar 2009
Antisemitismus steigt, die tieferen Ursachen werden nicht gesehen
Im Deutschland Radio wurde heute Morgen berichtet, dass sich in Großbritannien seit dem Gaza Krieg die Zahl antisemitischer Übergriffe im Vergleich zum Vorjahr verzehnfacht habe. Ein jüdischer Brite schilderte im Interview einen Übergriff, bei dem er durch zwei Männer ohne Vorwarnung verprügelt und getreten wurde. Begleitet wurden die Schläge durch den Kommentar: „Das ist dafür, was Ihr mit den Palästinensern gemacht habt!“
Das Thema Gaza-Krieg lässt mich noch nicht los, so scheint es. An Hand dieses o.g. Beispiels wird noch mal einiges deutlich, was mir durch den Kopf geht.
Es liegt zunächst ganz oberflächlich betrachtet auf der Hand, dass der Gaza-Krieg in einem Zusammenhang mit dem gestiegenen offenen Antisemitismus in Britannien steht. Ohne diesen Krieg wäre die Zahl der Übergriffe sehr wahrscheinlich nicht derart angestiegen. Das ist das eine.
Trotzdem hat beides in der Tiefe nicht wirklich etwas mit einander zu tun! Wie kommen Menschen (in diesem Fall wohl auch mehrheitlich Männer) dazu, ihre Nachbarn für etwas zu misshandeln, was sich tausend Meilen von ihnen weg zugetragen und direkt mit ihnen gar nichts zu tun hat? Die Antwort: Solche Menschen suchen nach einem Zündfunken (welchen auch immer), den sie für sich nutzen können, um einen Hass auf Andere auszuschütten, der aus ihrem eigenen, tiefsten Inneren (eigenem Selbsthass) kommt und im Grunde nichts mit der äußeren Situation zu tun hat. Kindheitserfahrungen spielen hier eine entscheidende Rolle. Gaza-Krieg hin oder her, die selben Akteure hätte früher oder später ein anderes Opfer aus einem anderen Grund gefunden. Wer einmal den Weg eingeschlagen hat, innere Konflikte an anderen abzulassen, der findet immer einen Grund.
Im Deutschland Radio wurde erwähnt, dass man mehr Aufklärungsarbeit leisten müsse, um solche Übergriffe zu verhindern. Ein Ansatz der nur auf der Oberfläche verharrt. Solange sich die Welt da draußen mehrheitlich nur mit Zündfunken beschäftigt und den Blick nicht auf das Dynamit richtet, solange sind solche Blogs wie dieser hier notwendig. Und vielleicht werde ich es noch erleben, dass in einer Radiosendung bzgl. solcher Übergriffe irgendwann ganz selbstverständlich auf psychohistorische Thesen und notwenige(n) Kinderschutz/-fürsorge hingewiesen wird.
Das Thema Gaza-Krieg lässt mich noch nicht los, so scheint es. An Hand dieses o.g. Beispiels wird noch mal einiges deutlich, was mir durch den Kopf geht.
Es liegt zunächst ganz oberflächlich betrachtet auf der Hand, dass der Gaza-Krieg in einem Zusammenhang mit dem gestiegenen offenen Antisemitismus in Britannien steht. Ohne diesen Krieg wäre die Zahl der Übergriffe sehr wahrscheinlich nicht derart angestiegen. Das ist das eine.
Trotzdem hat beides in der Tiefe nicht wirklich etwas mit einander zu tun! Wie kommen Menschen (in diesem Fall wohl auch mehrheitlich Männer) dazu, ihre Nachbarn für etwas zu misshandeln, was sich tausend Meilen von ihnen weg zugetragen und direkt mit ihnen gar nichts zu tun hat? Die Antwort: Solche Menschen suchen nach einem Zündfunken (welchen auch immer), den sie für sich nutzen können, um einen Hass auf Andere auszuschütten, der aus ihrem eigenen, tiefsten Inneren (eigenem Selbsthass) kommt und im Grunde nichts mit der äußeren Situation zu tun hat. Kindheitserfahrungen spielen hier eine entscheidende Rolle. Gaza-Krieg hin oder her, die selben Akteure hätte früher oder später ein anderes Opfer aus einem anderen Grund gefunden. Wer einmal den Weg eingeschlagen hat, innere Konflikte an anderen abzulassen, der findet immer einen Grund.
Im Deutschland Radio wurde erwähnt, dass man mehr Aufklärungsarbeit leisten müsse, um solche Übergriffe zu verhindern. Ein Ansatz der nur auf der Oberfläche verharrt. Solange sich die Welt da draußen mehrheitlich nur mit Zündfunken beschäftigt und den Blick nicht auf das Dynamit richtet, solange sind solche Blogs wie dieser hier notwendig. Und vielleicht werde ich es noch erleben, dass in einer Radiosendung bzgl. solcher Übergriffe irgendwann ganz selbstverständlich auf psychohistorische Thesen und notwenige(n) Kinderschutz/-fürsorge hingewiesen wird.
Sonntag, 8. Februar 2009
Knessetwahl in Israel als Kriegsgrund? Wohl kaum
Als „rationaler“ Grund für den israelischen Angriff auf Gaza wird u.a. die am 10. Februar 2009 anstehende Knessetwahl in Israel genannt. Mein erster Gedanke dazu ist: Selbst wenn dies ein wichtiger Hintergrund des Angriffes wäre und sich die Regierungsparteien dadurch einen höhern Wahlerfolg ausgerechnet hätte, wäre dieser Entscheidungsprozess ein kranker und nicht einer von psychisch gesunden Menschen. Denn dies würde bedeuten, dass das israelische Volk das Töten von ca. 1.400 Palästinensern mit ihrem Urnengang belohnen würde. Wenn dem dann am 10.02. so sein sollte, würden hier im israelischen Volk starke Bedürfnisse nach einer kollektiven Bestrafung ihres Nachbarn zu Tage treten (ein Zeichen für tiefere emotionale Gründe). Die Regierung wäre dann nur der ausführende Part dieser Bedürfnisse und würde dem Willen des Volkes entsprechen.
Dazu kommt: Unter dem Eindruck eines Krieges wählen die Menschen erfahrungsgemäß meist rechts (was sicherlich auch den PolitikerInnen bekannt sein dürfte). So wird derzeit auch in Israel ein Rechtsruck erwartet. Verlierer könnten hier entsprechend die Regierungsparteien sein. Insbesondere die Hardliner Benjamin Netanjahu (Likud Partei) und vielmehr noch Avigdor Lieberman (Partei Yisrael Beiteinu) könnten Stimmen dazu gewinnen. Wo ist hier also der rationale Grund für den Gaza-Krieg, wenn doch sogar ein Regierungsverlust zu erwarten war und ist?
Interessant finde ich an dieser Stelle eine gemeinsame israelisch-palästinensische Umfrage (durchgeführt vom 27. Mai bis zum 7. Juni 2008), veröffentlich von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. am 12. Juni 2008.
U.a. wird als Ergebnis genannt:
50 % der Israelis lehnen einen Waffenstillstand mit der Hamas ab, welcher die Einstellung von gewalttätigen Aktivitäten und Kassam-Angriffen auf Israel durch die Hamas sowie militärische Operationen der Israelis im Gazastreifen und die Aufhebung. der Blockademaßnahmen beinhalten würde. 47 % befürworten solch eine Vereinbarung. Die Ablehnung steigt auf 68 %, sollte eine Vereinbarung mit der Hamas nicht die Freilassung von Gilad Svhalit (Anmerkung: vor zweieinhalb Jahren entführten israelischer Soldat) beinhalten.
Auf palästinensischer Seite sprechen sich 78 % für einen Waffenstillstand mit Israel aus. Diese Unterstützung fällt jedoch rapide ab auf 23 %, sollte ein Waffenstillstandsabkommen lediglich auf den Gazastreifen begrenzt bleiben und nicht die Westbank mit einbeziehen. Darüber hinaus fällt die Unterstützung weiter auf 20 % für den Fall, dass eine Vereinbarung nicht die unmittelbare Öffnung der Grenzen, insbesondere des Ra-fah-Grenzüberganges zwischen Gazastreifen und Ägypten, zur Folge haben sollte.
Wenn man es mal von der positiven Seite betrachtet, waren also grundsätzlich fast die Hälfte der Israelis bereit, einen Waffenstillstand mit der Hamas zu vereinbaren. Rein rational betrachtet ist dies ein ganz erheblicher Teil der Wählerschaft. Israel hätte also auch aus einem inneren Interesse heraus den ab dem 19.Juni verhandelten Stopp des Raketenbeschusses weiter ausdehnen und festigen können. Gleichzeitig zeigt sich an Hand der Umfrage, dass 78 % der Palästinenser unter o.g. Bedingungen für einen Waffenstillstand waren. Diese Mehrheit hätte man entsprechend ansprechen können, durch politische Entscheidungen, nicht durch militärische.
Ein politischer Weg, der Frieden schafft, ist nicht nur ein menschlicher, sondern immer auch ein rationaler Weg. Also Leute: Kommt mit nicht mit rationalen Gründen für einen Krieg!
Dieser Beitrag ergänzt folgende Beiträge zum Thema:
- Ergänzung des Beitrags "Nahostkonflik"
- Nahostkonflikt: Krieg in Gaza - eine Ursachensuche
Dazu kommt: Unter dem Eindruck eines Krieges wählen die Menschen erfahrungsgemäß meist rechts (was sicherlich auch den PolitikerInnen bekannt sein dürfte). So wird derzeit auch in Israel ein Rechtsruck erwartet. Verlierer könnten hier entsprechend die Regierungsparteien sein. Insbesondere die Hardliner Benjamin Netanjahu (Likud Partei) und vielmehr noch Avigdor Lieberman (Partei Yisrael Beiteinu) könnten Stimmen dazu gewinnen. Wo ist hier also der rationale Grund für den Gaza-Krieg, wenn doch sogar ein Regierungsverlust zu erwarten war und ist?
Interessant finde ich an dieser Stelle eine gemeinsame israelisch-palästinensische Umfrage (durchgeführt vom 27. Mai bis zum 7. Juni 2008), veröffentlich von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. am 12. Juni 2008.
U.a. wird als Ergebnis genannt:
50 % der Israelis lehnen einen Waffenstillstand mit der Hamas ab, welcher die Einstellung von gewalttätigen Aktivitäten und Kassam-Angriffen auf Israel durch die Hamas sowie militärische Operationen der Israelis im Gazastreifen und die Aufhebung. der Blockademaßnahmen beinhalten würde. 47 % befürworten solch eine Vereinbarung. Die Ablehnung steigt auf 68 %, sollte eine Vereinbarung mit der Hamas nicht die Freilassung von Gilad Svhalit (Anmerkung: vor zweieinhalb Jahren entführten israelischer Soldat) beinhalten.
Auf palästinensischer Seite sprechen sich 78 % für einen Waffenstillstand mit Israel aus. Diese Unterstützung fällt jedoch rapide ab auf 23 %, sollte ein Waffenstillstandsabkommen lediglich auf den Gazastreifen begrenzt bleiben und nicht die Westbank mit einbeziehen. Darüber hinaus fällt die Unterstützung weiter auf 20 % für den Fall, dass eine Vereinbarung nicht die unmittelbare Öffnung der Grenzen, insbesondere des Ra-fah-Grenzüberganges zwischen Gazastreifen und Ägypten, zur Folge haben sollte.
Wenn man es mal von der positiven Seite betrachtet, waren also grundsätzlich fast die Hälfte der Israelis bereit, einen Waffenstillstand mit der Hamas zu vereinbaren. Rein rational betrachtet ist dies ein ganz erheblicher Teil der Wählerschaft. Israel hätte also auch aus einem inneren Interesse heraus den ab dem 19.Juni verhandelten Stopp des Raketenbeschusses weiter ausdehnen und festigen können. Gleichzeitig zeigt sich an Hand der Umfrage, dass 78 % der Palästinenser unter o.g. Bedingungen für einen Waffenstillstand waren. Diese Mehrheit hätte man entsprechend ansprechen können, durch politische Entscheidungen, nicht durch militärische.
Ein politischer Weg, der Frieden schafft, ist nicht nur ein menschlicher, sondern immer auch ein rationaler Weg. Also Leute: Kommt mit nicht mit rationalen Gründen für einen Krieg!
Dieser Beitrag ergänzt folgende Beiträge zum Thema:
- Ergänzung des Beitrags "Nahostkonflik"
- Nahostkonflikt: Krieg in Gaza - eine Ursachensuche
Donnerstag, 5. Februar 2009
Ergänzung des Beitrags "Nahostkonflikt"
Auf der Homepage der AG Friedensforschung, Uni Kassel fand ich einen interessanten Text, auf den ich hier hinweisen möchte: Kollektive Bestrafung. Israels Verbrechen an der Zivilbevölkerung in Gaza (Von Rolf Verleger, u.a. Direktoriumsmitglied im Zentralrat der Juden und ehemaliger Vorsitzender der Jüdischen Gemeinschaft Schlewig-Holstein)
Dieser ergänzt meine Gedanken zum Nahostkonflikt sehr gut, wie ich finde.
"Premierminister Olmert, Armeeminister Barak und Außenministerin Livni behaupteten, daß der Raketenbeschuss israelischer Städte aus dem Gazastreifen unerträglich geworden und nicht anders zu stoppen sei als mit massivem israelischen Eingreifen. Die Unwahrheit dieser Behauptungen war ebenso offensichtlich wie bei den Lügen des George W. Bush. Wieder gibt es genügend Politiker und Journalisten, diesmal gerade und besonders in Deutschland, die diese Märchen gerne nachplappern.", schreibt Verleger. Der Autor führt seine Gedanken im Text dazu weiter aus. Auf eine Stelle möchte ich hier besonders hinweisen:
Die Zahl der Raketeneinschläge auf israelischem Boden war vom 19. Juni bis 31. Oktober 2008 auf fast null zurückgegangen! (ausführliche Statistik der Raketenangriffe hier) Rolf Verleger fragt: „Wenn es eine nicht-kriegerische Methode gab, diesen Raketenbeschuss für mehr als vier Monate zum Verschwinden zu bringen, warum ging dann diese Methode nicht mehr ab November?“ Der Autor verweist als Antwort auf diese Frage auf den Artikel „An Unnecessary War“ (Washington Post vom 08.01.2009) des ehemaligen US-Präsident Jimmy Carter. Dort erfährt man, dass es Verhandlungen zwischen Israel - über den Vermittler Ägypten - und der Hamas gab. Alle Raketenabschüsse der Hamas sollten am 19.Juni für einen Zeitraum von sechs Monaten aufhören, wenn humanitäre Lieferungen auf das normale Niveau gebracht würden, das vor Israels Rückzug 2005 bestand (etwa 700 Lastwagen pro Tag). Der folgende Zuwachs an Lieferungen von Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten und Treibstoff erfolgte im Durchschnitt nur in 20 Prozent des normalen Niveaus. Diese fragile Waffenruhe wurde zu einem Teil am 4. November gebrochen, als Israel einen Angriff nach Gaza startete, um einen Verteidigungstunnel zu zerstören. Weitere Konflikte und Unstimmigkeiten um die unzureichenden Warenlieferungen blieben ungelöst und die Feindseeligkeiten brachen erneut aus. „Kann man dies eine »einseitige Aufkündigung des Waffenstillstands durch die Hamas« nennen?“ fragt Verleger.
Allen Interessierten empfehle ich das Lesen des o.g. Textes. Für mich wird hier erneut klar, dass an einem wirklichen Frieden kein Interesse besteht, obwohl es ganz offensichtlich auch Mittel und Wege gab und gibt, die Gewalt auf ein Minimum zu reduzieren.
Allem Anschein nach bereitete die israelische Führung den Gaza-Krieg auch lange Zeit (wohl auch noch vor dem verhandelten Waffenstillstand) systematisch vor. Man wollte nicht die gleichen Fehler wie im Libanon-Krieg machen, in dem zu kurzfristig geplant und agiert worden war. Und man wollte diesen Krieg in Gaza um jeden Preis.
Wohin mit all dem Schmerz und dem Hass, wenn kein Feind mehr da ist, um diesen als "Giftcontainer" zu nutzen? (diese Frage gilt beiden Seiten, Isarael und der Hamas)
Dieser ergänzt meine Gedanken zum Nahostkonflikt sehr gut, wie ich finde.
"Premierminister Olmert, Armeeminister Barak und Außenministerin Livni behaupteten, daß der Raketenbeschuss israelischer Städte aus dem Gazastreifen unerträglich geworden und nicht anders zu stoppen sei als mit massivem israelischen Eingreifen. Die Unwahrheit dieser Behauptungen war ebenso offensichtlich wie bei den Lügen des George W. Bush. Wieder gibt es genügend Politiker und Journalisten, diesmal gerade und besonders in Deutschland, die diese Märchen gerne nachplappern.", schreibt Verleger. Der Autor führt seine Gedanken im Text dazu weiter aus. Auf eine Stelle möchte ich hier besonders hinweisen:
Die Zahl der Raketeneinschläge auf israelischem Boden war vom 19. Juni bis 31. Oktober 2008 auf fast null zurückgegangen! (ausführliche Statistik der Raketenangriffe hier) Rolf Verleger fragt: „Wenn es eine nicht-kriegerische Methode gab, diesen Raketenbeschuss für mehr als vier Monate zum Verschwinden zu bringen, warum ging dann diese Methode nicht mehr ab November?“ Der Autor verweist als Antwort auf diese Frage auf den Artikel „An Unnecessary War“ (Washington Post vom 08.01.2009) des ehemaligen US-Präsident Jimmy Carter. Dort erfährt man, dass es Verhandlungen zwischen Israel - über den Vermittler Ägypten - und der Hamas gab. Alle Raketenabschüsse der Hamas sollten am 19.Juni für einen Zeitraum von sechs Monaten aufhören, wenn humanitäre Lieferungen auf das normale Niveau gebracht würden, das vor Israels Rückzug 2005 bestand (etwa 700 Lastwagen pro Tag). Der folgende Zuwachs an Lieferungen von Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten und Treibstoff erfolgte im Durchschnitt nur in 20 Prozent des normalen Niveaus. Diese fragile Waffenruhe wurde zu einem Teil am 4. November gebrochen, als Israel einen Angriff nach Gaza startete, um einen Verteidigungstunnel zu zerstören. Weitere Konflikte und Unstimmigkeiten um die unzureichenden Warenlieferungen blieben ungelöst und die Feindseeligkeiten brachen erneut aus. „Kann man dies eine »einseitige Aufkündigung des Waffenstillstands durch die Hamas« nennen?“ fragt Verleger.
Allen Interessierten empfehle ich das Lesen des o.g. Textes. Für mich wird hier erneut klar, dass an einem wirklichen Frieden kein Interesse besteht, obwohl es ganz offensichtlich auch Mittel und Wege gab und gibt, die Gewalt auf ein Minimum zu reduzieren.
Allem Anschein nach bereitete die israelische Führung den Gaza-Krieg auch lange Zeit (wohl auch noch vor dem verhandelten Waffenstillstand) systematisch vor. Man wollte nicht die gleichen Fehler wie im Libanon-Krieg machen, in dem zu kurzfristig geplant und agiert worden war. Und man wollte diesen Krieg in Gaza um jeden Preis.
Wohin mit all dem Schmerz und dem Hass, wenn kein Feind mehr da ist, um diesen als "Giftcontainer" zu nutzen? (diese Frage gilt beiden Seiten, Isarael und der Hamas)
Sonntag, 1. Februar 2009
Ergänzung "Grundsätzliche Hinweise"
Ich habe die "Grundsätzlichen Hinweise" um nachfolgenden Text ergänzt. Gerade zu Beginn des Jahres war es mir auch mal wichtig, meine grundlegend optimistische Sicht auf die gesellschaftlichen Entwicklungen kurz aufzuschreiben. Dies kommt leider oft zu kurz, wenn man sich mit dem Thema Krieg auseinandersetzt.
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Mir wurde schon einmal vorgeworfen, dass aus meinem Grundlagentext nur ein Entweder/Oder, ein hier „die guten nicht-misshandelten“ und dort die „bösen misshandelten Menschen“ hervorgehen würde. Ich sehe die Gefahr, dass eine solch schwarz-weiße Deutung je nach dem, wie der Text individuell verstanden und empfunden wird möglich ist. Allerdings möchte ich auch auf die „Grautöne“ im Text verweisen: Stichworte z.B. „Helfender Zeuge“, unterschiedliche Formen und Auswirkungen der Gewalterfahrungen, Einfluss gesellschaftlicher Prozesse wie sie z.B. der „Hamburger Ansatz“ beschreibt.
Wichtig ist mir hier zu sagen, dass meinem Empfinden nach unsere Welt auch kompliziert, ungerecht, herausfordernd und manches mal auch unglücklich machend bleiben würde, wenn die meisten Menschen als Kind Liebe und Achtung erfahren hätten. Ich behaupte nicht, dass das Leben einfach ist (was es ja auch so spannend macht :-) ) Außerdem sind wir nun mal Menschen, wir machen Fehler. Ich glaube aber in der Tat, dass so etwas enorm destruktives wie Krieg nicht mehr entstehen würde, wenn ein bedeutender Teil der Menschheit liebevoll und ohne Gewalt heranwachsen dürfte. Ich bin dabei im Grunde auch Optimist. Es wird noch so einige Generationen dauern, aber es zeichnet sich im historischen Rückblick ab, dass sich die Kindererziehung von Generation zu Generation verbessert und die Menschen dadurch immer emphatischer werden. Nie zuvor in der Geschichte wurden Kinder zu gut behandelt, hatten Kinder so viele Rechte und wurde Kindern und ihrer Entwicklung so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie heute (trotz aller immer noch erschreckender Zahlen, die vorliegen). Es ist somit nur eine Frage von Zeit. Haltet mich für verrückt: Ich bin mir sicher, dass spätere Generationen mit dem gleichen Erschrecken und Unverständnis in die Geschichte auf Kriege blicken werden, wie wir dies heute in Europa tun, wenn wir uns z.B. mit der mittelalterlichen Hexenverbrennung oder der mittelalterlichen Medizin beschäftigen. Kriege werden für spätere Generationen nicht mal mehr theoretisch vorstellbar sein.
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Mir wurde schon einmal vorgeworfen, dass aus meinem Grundlagentext nur ein Entweder/Oder, ein hier „die guten nicht-misshandelten“ und dort die „bösen misshandelten Menschen“ hervorgehen würde. Ich sehe die Gefahr, dass eine solch schwarz-weiße Deutung je nach dem, wie der Text individuell verstanden und empfunden wird möglich ist. Allerdings möchte ich auch auf die „Grautöne“ im Text verweisen: Stichworte z.B. „Helfender Zeuge“, unterschiedliche Formen und Auswirkungen der Gewalterfahrungen, Einfluss gesellschaftlicher Prozesse wie sie z.B. der „Hamburger Ansatz“ beschreibt.
Wichtig ist mir hier zu sagen, dass meinem Empfinden nach unsere Welt auch kompliziert, ungerecht, herausfordernd und manches mal auch unglücklich machend bleiben würde, wenn die meisten Menschen als Kind Liebe und Achtung erfahren hätten. Ich behaupte nicht, dass das Leben einfach ist (was es ja auch so spannend macht :-) ) Außerdem sind wir nun mal Menschen, wir machen Fehler. Ich glaube aber in der Tat, dass so etwas enorm destruktives wie Krieg nicht mehr entstehen würde, wenn ein bedeutender Teil der Menschheit liebevoll und ohne Gewalt heranwachsen dürfte. Ich bin dabei im Grunde auch Optimist. Es wird noch so einige Generationen dauern, aber es zeichnet sich im historischen Rückblick ab, dass sich die Kindererziehung von Generation zu Generation verbessert und die Menschen dadurch immer emphatischer werden. Nie zuvor in der Geschichte wurden Kinder zu gut behandelt, hatten Kinder so viele Rechte und wurde Kindern und ihrer Entwicklung so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie heute (trotz aller immer noch erschreckender Zahlen, die vorliegen). Es ist somit nur eine Frage von Zeit. Haltet mich für verrückt: Ich bin mir sicher, dass spätere Generationen mit dem gleichen Erschrecken und Unverständnis in die Geschichte auf Kriege blicken werden, wie wir dies heute in Europa tun, wenn wir uns z.B. mit der mittelalterlichen Hexenverbrennung oder der mittelalterlichen Medizin beschäftigen. Kriege werden für spätere Generationen nicht mal mehr theoretisch vorstellbar sein.
Mittwoch, 28. Januar 2009
Krieg der Kindergangs
Am Sonntag (25.01.2009) sah ich im Ersten den "Weltspiegel"-Bericht "Krieg der Kindergangs".
Es ging um den aufgegebenen Stadtteil Norris Green in Liverpool. Dort beherrschen Jugendgangs die Straße. „Sie handeln mit Crack und Heroin, sind zwischen 12 und 18 Jahre alt, die meisten von ihnen bewaffnet. Jugendliche, die Krieg statt Fußball spielen, und die hier oben im Norden Liverpools jetzt die Macht übernommen haben.“, heißt es in dem Bericht.
„Was geht euch durch den Kopf wenn ihr mit den Waffen schießt?“, fragte ein Reporter.
„Glücklich. Das ist ein glückliches Gefühl. Ein normales Leben würde keiner mehr haben wollen, von uns keiner mehr. Viel zu langweilig. Wenn Du einmal in der Gang bist, willst du nicht mehr aufhören. Willst immer so weitermachen. So einfach ist das.“
Wer sich glücklich fühlt, wenn er auf andere schießt, zeigt deutlich, wie innerlich leer und tot er selbst bereits ist. Gefühlsregungen sind nur noch unter dem "Kick" von kriegsähnlichen Bedingungen möglich.
Eine solche Aussage erinnert mich auch wieder an einen Bericht, den ich bereits im Nachwort des Grundlagentextes erwähnt habe:
Am 18.10.07 gab es auf dem Sender N-TV eine Dokumentation über den „Terror der RAF“, in der auch der Ex-Terrorist Peter-Jürgen Boock interviewt wurde. Er sagte dort aus, dass der Moment der Schleyer Entführung (damals kamen während der Entführung auch Begleiter von Schleyer ums Leben; Schleyer selbst wurde später umgebracht) und nachdem alles so „glatt gelaufen“ wäre, er sich so lebendig gefühlt habe, wie nie zuvor in seinem Leben. Wenn sich ein Mensch nur mit Hilfe von Terror „lebendig“ fühlen kann, dann sagt das viel über tiefere, emotionale Ursachen seiner Taten aus, die im Kern nichts mit politischen Zielen oder der Zeit usw. zu tun haben, wie ich meine.
Lloyd deMause zitierte in seinem Buch den Gefängnispsychiater James Gilligan, der sein Leben damit verbracht hat, Kriminelle zu analysieren: „Manche Leute glauben, bewaffnete Räuber begehen ihre kriminellen Handlungen, um zu Geld zu kommen. Aber wenn du dich hinsetzt und mit den Leuten redest, die wiederholt solche Verbrechen begehen, ist die Antwort, die du hörst: "Noch nie in meinem Leben wurde mir so viel Respekt erwiesen, als zu dem Zeitpunkt, als ich das erste Mal die Waffe auf jemanden richtete." (vgl. deMause, 2005, S. 110ff)
Die Gefühle, die oben beschrieben werden, müssen dabei im Grund unecht und von ihrem eigentlichen Sinn her entleert und abgetrennt sein.
„sich glücklich fühlen“ = Ich schieße auf Menschen
“sich lebendig fühlen“ = Ich entführe und töte Menschen
„sich respektiert fühlen“ = Menschen mit Waffen bedrohen
Das ist schon ziemlich pervers...
Ich las einmal als Schüler - ich glaube in Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ - von einem Hauptmann, der in etwa sagte: „Ich musste erst in den Krieg ziehen, um mein Leben zu lieben.“ Diese Stelle fällt mir hier wieder ein und sie beschreibt dasselbe Phänomen. Positive Gefühle werden mit Tod, Gewalt und Vernichtung vermischt. Dies erschreckt uns Menschen natürlich. Es wird aber verstehbar, wenn man sich bewusst macht, dass – so nehme ich stark an - einst auch die Eltern der Akteure positive Wörter und Gefühle mit Gewalt vermischten: „Ich schlage Dich und nenne dies Liebe“ usw. usf.
Ganz offensichtlich scheint es den Akteuren auch eine emotionale Befriedigung und Erleichterung zu verschaffen, Gewalt anzuwenden. DeMause hat hier entsprechend den sehr gut passenden Begriff von "Giftcontainern" gewählt. Eigene unerträgliche innere Gefühle von Terror, Angst, Wut usw. all das Destruktive, was auf Grund früher kindlicher Gewalterfahrungen in den Menschen brodelt, wird in diese "Giftcontainer" gepackt; dies verschafft den Akteuren ein (kurzfristiges) "gutes Gefühl".
Ich denke, dass diese Gedanken u.a. sehr gut die beiden vorangegangenen Beiträgen zur "Irrationalität des Krieges" und zum "Gaza Krieg" ergänzen. Kriege müssen im Grundsatz immer auch emotional analysiert werden. Sonst wird sich dem jeweiligen Betrachter kein komplexes Bild der Wirklichkeit offenbaren.
Sehr deutlich wird der Zusammenhang der o.g. Gedanken zur kollektiven Gewalt auch durch folgendes: Als Deutschland Frankreich 1914 den Krieg erklärte, frohlockte eine deutsche Zeitung: "Es ist eine Freude zu leben, Deutschland jubelt vor Glück." (vgl. deMause,L. 2000: Was ist Psychohistorie? Psychosozial-Verlag, Gießen, S. 133)
Nationen sind eben keine "technischen", "rationalen" Gebilde (so wie es die Sozialwissenschaft oft sieht), die für sich stehen. Sie bestehen aus Menschen, die alle eine Psyche und Emotionen haben. Wenn eine Mehrheit dieser Menschen, die eine Nation bilden, als Kind traumatische Erfahrungen machen musste, wird auch das "kollektive Glück" bei einem Kriegseintritt verständlich, so wie es auch für einzelne Mitglieder von Kindergangs und Kriminelle verständlich ist.
Es ging um den aufgegebenen Stadtteil Norris Green in Liverpool. Dort beherrschen Jugendgangs die Straße. „Sie handeln mit Crack und Heroin, sind zwischen 12 und 18 Jahre alt, die meisten von ihnen bewaffnet. Jugendliche, die Krieg statt Fußball spielen, und die hier oben im Norden Liverpools jetzt die Macht übernommen haben.“, heißt es in dem Bericht.
„Was geht euch durch den Kopf wenn ihr mit den Waffen schießt?“, fragte ein Reporter.
„Glücklich. Das ist ein glückliches Gefühl. Ein normales Leben würde keiner mehr haben wollen, von uns keiner mehr. Viel zu langweilig. Wenn Du einmal in der Gang bist, willst du nicht mehr aufhören. Willst immer so weitermachen. So einfach ist das.“
Wer sich glücklich fühlt, wenn er auf andere schießt, zeigt deutlich, wie innerlich leer und tot er selbst bereits ist. Gefühlsregungen sind nur noch unter dem "Kick" von kriegsähnlichen Bedingungen möglich.
Eine solche Aussage erinnert mich auch wieder an einen Bericht, den ich bereits im Nachwort des Grundlagentextes erwähnt habe:
Am 18.10.07 gab es auf dem Sender N-TV eine Dokumentation über den „Terror der RAF“, in der auch der Ex-Terrorist Peter-Jürgen Boock interviewt wurde. Er sagte dort aus, dass der Moment der Schleyer Entführung (damals kamen während der Entführung auch Begleiter von Schleyer ums Leben; Schleyer selbst wurde später umgebracht) und nachdem alles so „glatt gelaufen“ wäre, er sich so lebendig gefühlt habe, wie nie zuvor in seinem Leben. Wenn sich ein Mensch nur mit Hilfe von Terror „lebendig“ fühlen kann, dann sagt das viel über tiefere, emotionale Ursachen seiner Taten aus, die im Kern nichts mit politischen Zielen oder der Zeit usw. zu tun haben, wie ich meine.
Lloyd deMause zitierte in seinem Buch den Gefängnispsychiater James Gilligan, der sein Leben damit verbracht hat, Kriminelle zu analysieren: „Manche Leute glauben, bewaffnete Räuber begehen ihre kriminellen Handlungen, um zu Geld zu kommen. Aber wenn du dich hinsetzt und mit den Leuten redest, die wiederholt solche Verbrechen begehen, ist die Antwort, die du hörst: "Noch nie in meinem Leben wurde mir so viel Respekt erwiesen, als zu dem Zeitpunkt, als ich das erste Mal die Waffe auf jemanden richtete." (vgl. deMause, 2005, S. 110ff)
Die Gefühle, die oben beschrieben werden, müssen dabei im Grund unecht und von ihrem eigentlichen Sinn her entleert und abgetrennt sein.
„sich glücklich fühlen“ = Ich schieße auf Menschen
“sich lebendig fühlen“ = Ich entführe und töte Menschen
„sich respektiert fühlen“ = Menschen mit Waffen bedrohen
Das ist schon ziemlich pervers...
Ich las einmal als Schüler - ich glaube in Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ - von einem Hauptmann, der in etwa sagte: „Ich musste erst in den Krieg ziehen, um mein Leben zu lieben.“ Diese Stelle fällt mir hier wieder ein und sie beschreibt dasselbe Phänomen. Positive Gefühle werden mit Tod, Gewalt und Vernichtung vermischt. Dies erschreckt uns Menschen natürlich. Es wird aber verstehbar, wenn man sich bewusst macht, dass – so nehme ich stark an - einst auch die Eltern der Akteure positive Wörter und Gefühle mit Gewalt vermischten: „Ich schlage Dich und nenne dies Liebe“ usw. usf.
Ganz offensichtlich scheint es den Akteuren auch eine emotionale Befriedigung und Erleichterung zu verschaffen, Gewalt anzuwenden. DeMause hat hier entsprechend den sehr gut passenden Begriff von "Giftcontainern" gewählt. Eigene unerträgliche innere Gefühle von Terror, Angst, Wut usw. all das Destruktive, was auf Grund früher kindlicher Gewalterfahrungen in den Menschen brodelt, wird in diese "Giftcontainer" gepackt; dies verschafft den Akteuren ein (kurzfristiges) "gutes Gefühl".
Ich denke, dass diese Gedanken u.a. sehr gut die beiden vorangegangenen Beiträgen zur "Irrationalität des Krieges" und zum "Gaza Krieg" ergänzen. Kriege müssen im Grundsatz immer auch emotional analysiert werden. Sonst wird sich dem jeweiligen Betrachter kein komplexes Bild der Wirklichkeit offenbaren.
Sehr deutlich wird der Zusammenhang der o.g. Gedanken zur kollektiven Gewalt auch durch folgendes: Als Deutschland Frankreich 1914 den Krieg erklärte, frohlockte eine deutsche Zeitung: "Es ist eine Freude zu leben, Deutschland jubelt vor Glück." (vgl. deMause,L. 2000: Was ist Psychohistorie? Psychosozial-Verlag, Gießen, S. 133)
Nationen sind eben keine "technischen", "rationalen" Gebilde (so wie es die Sozialwissenschaft oft sieht), die für sich stehen. Sie bestehen aus Menschen, die alle eine Psyche und Emotionen haben. Wenn eine Mehrheit dieser Menschen, die eine Nation bilden, als Kind traumatische Erfahrungen machen musste, wird auch das "kollektive Glück" bei einem Kriegseintritt verständlich, so wie es auch für einzelne Mitglieder von Kindergangs und Kriminelle verständlich ist.
Freitag, 9. Januar 2009
Nahostkonflikt: Krieg in Gaza - eine Ursachensuche
Am 16.12. schrieb ich einen Text zur Irrationalität des Krieges. Wenig später begann Israel seinen Krieg in Gaza. Natürlich bin ich ein Mensch, der das ganze Geschehen nur aus der Ferne beobachtet. Dass diese militärische Operation der Israelis wenig Sinn macht, scheint allerdings eine leicht festzustellende Wahrheit zu sein, auch wenn man nicht über umfassendes strategisch-politisches Hintergrundwissen verfügt. Gerade auch wenn man sich in der Art mit dem Thema Krieg beschäftigt, wie ich dies hier tue, wird deutlich, warum Kriege so unverständlich und unsinnig erscheinen, warum uns die Reden, Sprüche und Entscheidungen der Regierungsführung Kopfschütteln lassen.
Oft sucht dann die Öffentlichkeit nach rationalen Erklärungen. Laut Israels Führung hat die Operation "Gegossenes Blei" zum Ziel, die Hamas entscheidend zu schwächen, wird berichtet. Sicherheit im Süden, das ist das eine „rationale“ Ziel. Darüber hinaus geht es darum, das Image eines starken Landes, das sich gegen jede Anfeindung mit Erfolg wehren kann, wiederherzustellen. (Auch die anstehenden Wahlen werden als Grund genannt. Dazu habe ich mich hier geäußert: "Knessetwahl in Israel als Kriegsgrund?")
Im Ergebnis erreichen sie genau das Gegenteil: Die Extremisten werden mittel- bis langfristig Auftrieb bekommen und das Image von Israel in der Welt ist schwer angekratzt.
Ach ja, in der öffentlichen Debatte wird auch als eine „Logik“ dieser Militäraktion die Abstrafung der palästinensischen Bevölkerung genannt, mit dem Ziel, dass diese sich dann gegen die Hamas auflehnen soll. Nach dem Motto: “Seht her, mein Haus liegt in Trümmern meine Kinder sind verletzt oder tot und wenn Ihr Hamasleute keine Raketen auf Israel abgefeuert hättet, dann wäre dies nicht passiert, also jage ich Euch aus dem Land!“
Man fragt sich, wer ernsthaft eine solche Logik glaubt? Wenn ich wirklich eine Opposition gegen radikale Kräfte stützen will, dann unterstütze ich die zivilen Strukturen und die Bevölkerung. Dann helfe ich ihnen bei dem Aufbau einer lebenswerten Zukunft. Dann stelle ich mich selbst nicht als Feindbild zur Verfügung. Wie soll denn ein Palästinenser Kraft und Mut dazu sammeln, alternative Wege als die der Radikalen zu unterstützen, wenn sein ganzes Leben am Boden liegt und er kriegstraumatisiert in eine ungewisse Zukunft schaut?
Man fragt sich also, ob die Führung überhaupt an Frieden und Sicherheit interessiert ist? Oder ob sie den Konflikt auch für die nächste Generation am Laufen halten will, damit wieder aufeinander geschossen werden kann, damit wieder ein äußerer aktiver Feind bereit steht, damit weiterhin „Giftcontainer“ gefunden werden können?
Eine militärische Operation, die rein zur Verteidigung dient, nennt man wohl kaum „gegossenes Blei“ (übrigens laut Wikipedia - Stand 05.01.2009 - lehnt sich diese Bezeichnung an ein israelisches Kinderlied an, was ich schon mal sehr merkwürdig finde, gerade auch im Kontext dieses Blogs); man spricht nicht von einem „Kampf bis zum bitteren Ende“ (Verteidigungsminister Ehud Barak, vgl. ZEIT-Online, 31.12.2008, „Der Krieg nach dem Krieg“), wenn man „verhältnismäßig“ vorgehen möchte; da Militante wohl kaum damit aufhören werden, Israel regelmäßig mit Raketen zu beschießen, wird es wohl - wenn es nach der Außenministerin geht - kein Ende der Offensive geben; denn Zipi Livni hatte laut einem SPIEGEL-Online Artikel betont, Israel werde die Militäroffensive im Gaza-Streifen so lange weiterführen bis der Beschuss aufhöre (vgl. SPIEGEL-Online, 02.01.2009, Israel rüstet sich für "Tag des Zorns"); dass haufenweise Zivilisten in einem der am dichtesten bevölkertsten Landstriche der Welt getroffen werden, war sagen wir todsicher, die Botschaft des Staates Israel ließ dagegen am 28.12.2008 verlauten, dass es sich beim Großteil der Opfer der gegenwärtigen Militäroperation im Gaza-Streifen ohnehin um Terroristen der Hamas handele. Ein Hohn, wenn man sich im Rückblick vor Augen führt, dass schätzungsweise 1,5 Millionen Tonnen Sprengstoff auf Gaza abgeworfen wurden, das macht pro Kopf der Bewohner eine Tonne! (vgl. Bericht "Eine Tonne Sprengstoff pro Kopf")
An dieser Stelle möchte ich auf einen Text hinweisen, der erschreckende Ansichten und Verhaltensweisen von israelischen Soldaten während der 1. Intifada darstellt: „Wenn israelische Soldaten das Schweigen brechen“ von Dalia Karpe, 21.09.2007 (gekürzte Übersetzung einer akademischen Forschungsstudie von Nofer Ishai-Karen und dem Psychologieprofessor Joel Elzur der hebr. Universität, die im ALPAYIM-Magazin, Vol.31 veröffentlicht wurde). Vier kurze Auszüge:
Ilan Vilenda, ein israelischer Soldat: „Wir - israelische Soldaten - wurden dorthin gebracht, um Palästinenser zu bestrafen. (...) Unser Job war es, sie zu schlagen. Ich persönlich schlug zwei Jungen Ich benützte meine Hände oder den Gummiknüppel. Die erwachsenen Palästinenser schlugen wir stärker. Wir handelten wie Polizisten, aber wir handelten jenseits des Gesetzes.“
Soldat B.: “Es war meine erste Patrouille. Die andern schossen einfach wie verrückt. Ich begann, so wie sie zu schießen. Sie hetzten mich auf. Ich nahm meine Waffe und schoss. Keiner war da, der mir etwas anderes sagte.”
Soldat C: “Die Wahrheit ist, dass ich dieses Chaos liebe - ich habe Spaß daran. Es wirkt wie Drogen. Wenn ich nicht wenigstens einmal die Woche eine Rebellion niederschlagen kann, dann werde ich verrückt.”
Soldat D: “Was großartig ist, ist dass man hier keinen Gesetzen und Regeln folgen muss. Man hat das Gefühl, selbst Gesetz zu sein. Ich kann entscheiden. Wenn man in die besetzten Gebieten geht, ist man wie Gott.”
Hier zeigt sich exemplarisch insbesondere an Hand der Aussagen von C. und D., dass emotionale Gründe im Vordergrund stehen, wenn man sich mit den Akteuren in Ruhe unterhält. Vermutlich wird man in einigen Jahren ähnliche Aussagen von israelischen SoldatInnen bekommen, wenn man diese rückblickend zu ihrem Einsatz in Gaza befragt.
Man fragt sich was wohl die Führung bei ihrer Entscheidung zur aktuellen militärischen Aktion gefühlt hat? Meines Wissens nach werden Führungspolitiker von JournalistInnen selten oder nie nach ihren Gefühlen gefragt, was eine erhebliche Lücke darstellt. „Herr George W. Bush, was fühlten Sie, als sie den Befehl zum Angriff auf den Irak gaben?“ „Herr Ehud Olmert, was fühlten Sie, als Sie ihre Zustimmung zur Operation gegen die Hamas gaben?“ Nun sind Politiker Vollprofis und antworten vielleicht nicht so direkt, wie einfache Soldaten. Trotzdem wäre eine solche Fragestellung und die Reaktion interessant. Wenn dann z.B. als Antwort käme, „ich fühlte gar nichts“, dann wäre das auch eine sehr aussagekräftige Antwort.
Oft heißt es, bei einem Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Ich würde sagen, dass zuerst der rationale Verstand und das Mitgefühl stirbt und dann eine kollektiv psychotische Episode folgt.
Es gibt bei Kriegen eigentlich immer drei entscheidende Punkte, die das ganze schon vor der Offensive zur Niederlage machen.
1. Es werden insbesondere auch Kinder (die nächste Generation) traumatisiert.
2. Es sterben Zivilisten, was den Hass auf den Angreifer und den Extremismus nährt.
3. Eine Generation von jungen SoldatInnen wird durch die Kriegshandlungen traumatisiert und brutalisiert. Ihre Taten, Erlebnisse und Gefühle nehmen sie mit zurück in Ihre Heimat und in ihre Familien.
Hier noch einige kurze aussagekräftige Positionen zum Nachdenken:
Eyad al-Sarat (Leiter der einzigen Psychiatrie in Gaza) macht sich Sorgen - nicht nur wegen der aktuellen Situation, sondern auch wegen dem, was die gegenwärtigen Erfahrungen der Kinder im Gaza-Streifen in der Zukunft auslösen könnten. Denn die Kinder erlebten sehr bewusst mit, dass niemand ihre Sicherheit garantieren könne, nicht einmal die eigenen Väter. Das mache sie anfällig dafür, später radikaler Rhetorik anheimzufallen. "So schafft man neue Extremisten", sagt der Arzt. "Das ist Israels größter Fehler." (vgl. SPIEGEL-Online,
29.12.2008, „Jeder hat nur noch Angst“)
"Am letzten Abend war ich eingeladen bei einer Familie mit einer siebenjährigen Tochter. Die sagte zu mir: »Wirst du denn auch jüdische Menschen treffen, wenn du jetzt ausreist?« Und da habe ich gesagt: »Selbstverständlich.« Dann fragte sie, ob ich denn da keine Angst hätte. Ich habe geantwortet: »Nein, es sind ja nicht alle Menschen in Israel solche, die euch vernichten wollen oder euch angreifen.« Das hat sie mir nicht geglaubt." Dr. Ralf Syring nach einem Besuch im zerstörten Gaza-Streifen.
Auf den Hinweis eines SPIEGEL Redakteurs, dass Israel die Raketenüberfälle von islamistischen Freischärlern ein für allemal beenden wolle antwortete der ehemalige UNO-Generalsekretär Butros Ghali: „Was das Militär jetzt tut, richtet hundertfachen Schaden an, mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Region, natürlich auch für die Israelis.“ und an einer anderen Stelle sagte er: „Schon jetzt steht fest, dass der israelische Angriff auf Gaza eine Katastrophe ist. Diese Militäroperation verschafft den Fundamentalisten Auftrieb - nicht nur in Palästina, sondern auch in allen anderen arabischen Ländern. Ich wundere mich, dass Israel das nicht gemerkt hat.„ (SPIEGEL-Online, 03.01.2009, "Israel ignoriert die Tatsachen")
Die Rufe nach Frieden in der israelischen Bevölkerung sind laut aktuellen Berichten bisher sehr leise. Doch ausgerechnet 500 Bewohner des Städtchens Sderot haben eine Petition unterschrieben, in der die Armee aufgefordert wird, ihre Operationen im Gaza-Streifen einzustellen und den Waffenstillstand zu erneuern. Sderot ist nah am Gaza-Streifen gelegen und der Ort, der am häufigsten von den Raketen palästinensischer Militanter getroffen wird. Denn eine militärische Operation, so Arik Yalin (der die Bürgerbewegung ins Leben gerufen hat), werde nur den Hass auf beiden Seiten vertiefen. (SPEIEGL-Online, 30.12.2008, "Es wurde höchste Zeit, dass Israel zurückschlägt")
Diese o.g. Positionen sind für jeden nachvollziehbar und derart offensichtlich, dass man Israels Aktion – trotz des regelmäßigen Beschusses durch Raketen - als irrational bezeichnen muss! Das Unverständnis mit dem man als Mensch vor einem Krieg steht, ist wirklich berechtigt. Krieg ist in der Tiefe rational nicht zu erklären. Emotionale Gründe und Störungen scheinen hier zu dominieren und zwar sowohl bei den Palästinensern als auch bei den Israelis.
DeMause zeichnet ein eindrückliches Bild von der elterlichen Gewalt gegen Kinder in islamisch, fundamentalistischen Familien und Gesellschaften und betont die weite Verbreitung von sexuellem Missbrauch in Palästina. (vgl. deMause, 2005, S. 40)
Laut UNICEF erleben in Palästina nur 5 % der Kinder keine Gewalt (damit ist dieses Land "Spitzenreiter" im UNICEF Report), 70 % erleben psychische und körperliche Gewalt, 23 % erleben nur psychische Gewalt und 2 % nur körperliche Gewalt. Die Gewalt geht dabei häufig von nahen Bezugspersonen der Kinder aus. (diese Info wurde am 16.10.09 nachgetragen, vgl. UNICEF, September 2009: Progress for Children - A Report Card on Child Protection, S. 8)
Im Grundlagentext schrieb ich bereits unter Bezug auf eine Quelle aus dem Jahr 2003:
Die palästinensischen Kinder sind einer ständigen Angst ausgesetzt. Sie werden Zeugen der Bombardements und des panikartigen Verhaltens ihrer Eltern. Das Ergebnis dieser Situation ist, dass 40 % der Kinder glauben, ihre Eltern könnten sie nicht mehr schützen. Von 3.000 befragten Heranwachsenden bestätigten außerdem 55 %, dass sie hilflose Zeugen waren, wie ihr Vater von israelischen Soldaten geschlagen wurde. Fast 32 % der Kinder haben starke posttraumatische Störungen. Von 945 untersuchten Kindern litten alle an einem direkten oder indirekten Trauma sowie den Folgen posttraumatischer Störungen (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2003, S.51ff) „Besonders beunruhigend ist, dass 24 % der palästinensischen Kinder davon träumen als Märtyrer zu sterben, also Selbstmordattentäter zu werden. Das ist beängstigend, denn jeder Selbstmordattentäter von heute ist ein Kind der ersten Intifada. Und wenn die Kinder der ersten Intifada schon so traumatisiert sind, dass allein 24 % von ihnen Märtyrer werden wollen, dann kann man sich vorstellen, was für zukünftige Politiker, Lehrer und Richter wir in diesem Land haben werden.“ (ebd., S.55) (Interessant wäre es, die palästinensischen Kinder zusätzlich zu Gewalterfahrungen in ihren Familien zu befragen und evtl. Zusammenhänge zwischen kumulierten traumatischen Erfahrungen und eigenen Gewaltfantasien und –handlungen herauszufinden.)
Auch folgende Zahlen machen deutlich, wie sehr hier psychische Störungen auf beiden Seiten das Fundament des Konfliktes sind: Laut einer Untersuchung an der Universität Tel Aviv sind 70% der palästinensischen Jugendlichen und 30 % der Kinder israelischer Siedler wegen dem Nahost-Konflikt traumatisiert (645 jüdische Israelis und 552 arabisch-palästinensische Jugendliche wurden befragt). (vgl. National Zeitung und Baseler Nachrichten, 03.07.2002, „Die Gewalt im Nahen Osten zerfrisst die Seelen der Kinder“)
Gemäß einer Studie leiden beinahe die Hälfte der israelischen Eltern und ein Drittel der Kinder in Sderot an post-traumatischem Stress. (vgl. Artikel von Eli Ashkenazi und Auszüge aus einem Artikel von Amos Harel, Ha’aretz, 13.06.2006, „Kassam-Beschuss:
Kinder in Sderot leiden an post-traumatischem Stress“)
Für die israelische Seite fand ich aussagekräftige Zahlen zum sexuellen Missbrauch an Kindern. Im Jahr 2007 gab es in Israel über 41.000 Missbrauchsfälle (Hellfeld), die zur Anzeige gelangten - 1997 waren es noch 21.000. (vgl. Jüdische Zeitung, Oktober 2008, „Rose Pizems Nachlass. Die Zahl der Kindesmisshandlungen in Israel ist drastisch gestiegen“) Die israelische Bevölkerung umfasste 2007 insgesamt 6.426.679 Menschen. Dazu mal ein Vergleich: Im Jahr 2005 kamen in Deutschland 17.526 Fälle von sexuellem Missbrauch zur Anzeige. Die deutsche Bevölkerung umfasste im selben Jahr 82.431.390 Menschen. Israel hat im Verhältnis zu Deutschland 7,8 % Einwohner und dabei 134 % mehr Missbrauchsfälle. Eine erschreckend hohe Zahl (auch wenn man die Zahlen aus dem Jahr 1997 zu Grunde legt und ins Verhältnis setzt)! Man bedenke an dieser Stelle auch, dass hinter jedem „Hellfeldfall“ ein vielfaches an Dunkelfeld steht. Es verwundert also kaum, dass nach einer Dunkelfeldstudie von Schein et al. (2000) 31% der befragten israelischen Frauen über eine Form von sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit berichten. Von den in der Studie befragten Männern gaben 16 % an, sexuell missbraucht worden zu sein.(Insgesamt wurden 1.242 Personen befragt) (vgl. Pagovich, O. 2004: Israel. In: Malley-Morrison, K. (Hrsg.): International Perspectives on Family Violence and Abuse. A Cognitive Ecological Approach. Routledge, S. 192)
Außerdem wird auf Grundlage von angezeigten Fällen geschätzt, dass von den ca. 2 Millionen israelischen Kindern 300.000 (also 15 %) gefährdet sind, Kindesmisshandlung zu erleben. (ebd.) Einer Studie von Sternberg & Krispin (1993) nach erlebten 30 % (33 von 110) der befragten israelischen Kinder körperliche Misshandlungen durch ihre Eltern innerhalb von 6 Monaten vor der Befragung. (ebd.)
Es sind zusammengefasst also zwei wesentliche tiefere Ursachen des Konfliktes sehr wahrscheinlich: Das hohe Ausmaß an Gewalt gegen Kinder und die hohe Traumatisierungsrate der Menschen durch das Kriegsgeschehen auf beiden Seiten. Somit kann der Konflikt aus meiner Sicht langfristig nur gelöst werden, wenn die Gewalt gegen Kinder erheblich reduziert wird und wenn traumatisierten Menschen systematisch und umfassend psychologische Hilfe zu Teil wird. Ein nachhaltiger Frieden ist immer ein innerer Prozess, kein äußerlicher, keiner durch Macht und Gewalt „gesicherter“.
"Die Armee kommt in Israel gleich nach Gott.", sagt eine Aktivistin von "Machsom Watch". Bereits Kinder würden dazu erzogen, den Armeedienst hochzustilisieren. Der Armeedienst in Israel sei das wichtigste gesellschaftliche Übergangsritual und würde zu einer starken Militarisierung der jüdischen Gesellschaft führen. (in Israel verrichten Frauen 2 Jahre und Männer 3 Jahre den Militärdienst.) (vgl. Jüdische Zeitung, September 2008, „Wir sind in Israel die Ausgestoßenen.“; ergänzend Homepage von Machsom Watch)
Ich denke, dass die israelische Gesellschaft auch hier umdenken und mehr an einer zivilen Gesellschaft arbeiten sollte. An dieser Stelle sei auch an das Kapitel 5. im Grundlagentext erinnert.
Im Übrigen frage ich mich, ob man dem israelischen Volk nicht vermitteln kann, dass – wenn man es mal ganz kalt und rechnerisch betrachtete – seit 2000 bei den Raketenangriffen der Hamas auf israelische Städte 22 Menschen starben (vgl. SPIEGEL-Online, 09.01.2009, „Israel trotzt der Uno - Gaza-Krieg geht weiter“), ca. 3 pro Jahr und dass man bei allem Verständnis für das seelische Leid der Bevölkerung nicht bereit ist, kriegerisch zu reagieren (im Zeitraum 27.12.2008 bis 09.01.2009 wurden übrigens nach palästinensischen Angaben 780 Palästinenser durch israelische Angriffe getötet. vgl. ebd.)?
Ich komme erneut zu dem Schluss, dass die israelische Reaktion irrational begründet zu sein schein. Sie macht einfach keinen Sinn. Man muss hier also vielmehr nach den emotionalen (unbewussten) Motiven suchen.
Ich frage mich, was passieren würde, wenn beide Seiten keine klaren Feindbilder mehr hätte? Könnten Sie überhaupt ohne Feind existieren? Wie sagte noch Soldat C.: „Wenn ich nicht wenigstens einmal die Woche eine Rebellion niederschlagen kann, dann werde ich verrückt.“
Hinweis: Diesen Beitrag habe ich um einige wichtige Informationen ergänzt, denn ganz offensichtlich gab es auch alternative Wege, den Beschuss zu stoppen. Lesen kann man diese hier.
Oft sucht dann die Öffentlichkeit nach rationalen Erklärungen. Laut Israels Führung hat die Operation "Gegossenes Blei" zum Ziel, die Hamas entscheidend zu schwächen, wird berichtet. Sicherheit im Süden, das ist das eine „rationale“ Ziel. Darüber hinaus geht es darum, das Image eines starken Landes, das sich gegen jede Anfeindung mit Erfolg wehren kann, wiederherzustellen. (Auch die anstehenden Wahlen werden als Grund genannt. Dazu habe ich mich hier geäußert: "Knessetwahl in Israel als Kriegsgrund?")
Im Ergebnis erreichen sie genau das Gegenteil: Die Extremisten werden mittel- bis langfristig Auftrieb bekommen und das Image von Israel in der Welt ist schwer angekratzt.
Ach ja, in der öffentlichen Debatte wird auch als eine „Logik“ dieser Militäraktion die Abstrafung der palästinensischen Bevölkerung genannt, mit dem Ziel, dass diese sich dann gegen die Hamas auflehnen soll. Nach dem Motto: “Seht her, mein Haus liegt in Trümmern meine Kinder sind verletzt oder tot und wenn Ihr Hamasleute keine Raketen auf Israel abgefeuert hättet, dann wäre dies nicht passiert, also jage ich Euch aus dem Land!“
Man fragt sich, wer ernsthaft eine solche Logik glaubt? Wenn ich wirklich eine Opposition gegen radikale Kräfte stützen will, dann unterstütze ich die zivilen Strukturen und die Bevölkerung. Dann helfe ich ihnen bei dem Aufbau einer lebenswerten Zukunft. Dann stelle ich mich selbst nicht als Feindbild zur Verfügung. Wie soll denn ein Palästinenser Kraft und Mut dazu sammeln, alternative Wege als die der Radikalen zu unterstützen, wenn sein ganzes Leben am Boden liegt und er kriegstraumatisiert in eine ungewisse Zukunft schaut?
Man fragt sich also, ob die Führung überhaupt an Frieden und Sicherheit interessiert ist? Oder ob sie den Konflikt auch für die nächste Generation am Laufen halten will, damit wieder aufeinander geschossen werden kann, damit wieder ein äußerer aktiver Feind bereit steht, damit weiterhin „Giftcontainer“ gefunden werden können?
Eine militärische Operation, die rein zur Verteidigung dient, nennt man wohl kaum „gegossenes Blei“ (übrigens laut Wikipedia - Stand 05.01.2009 - lehnt sich diese Bezeichnung an ein israelisches Kinderlied an, was ich schon mal sehr merkwürdig finde, gerade auch im Kontext dieses Blogs); man spricht nicht von einem „Kampf bis zum bitteren Ende“ (Verteidigungsminister Ehud Barak, vgl. ZEIT-Online, 31.12.2008, „Der Krieg nach dem Krieg“), wenn man „verhältnismäßig“ vorgehen möchte; da Militante wohl kaum damit aufhören werden, Israel regelmäßig mit Raketen zu beschießen, wird es wohl - wenn es nach der Außenministerin geht - kein Ende der Offensive geben; denn Zipi Livni hatte laut einem SPIEGEL-Online Artikel betont, Israel werde die Militäroffensive im Gaza-Streifen so lange weiterführen bis der Beschuss aufhöre (vgl. SPIEGEL-Online, 02.01.2009, Israel rüstet sich für "Tag des Zorns"); dass haufenweise Zivilisten in einem der am dichtesten bevölkertsten Landstriche der Welt getroffen werden, war sagen wir todsicher, die Botschaft des Staates Israel ließ dagegen am 28.12.2008 verlauten, dass es sich beim Großteil der Opfer der gegenwärtigen Militäroperation im Gaza-Streifen ohnehin um Terroristen der Hamas handele. Ein Hohn, wenn man sich im Rückblick vor Augen führt, dass schätzungsweise 1,5 Millionen Tonnen Sprengstoff auf Gaza abgeworfen wurden, das macht pro Kopf der Bewohner eine Tonne! (vgl. Bericht "Eine Tonne Sprengstoff pro Kopf")
An dieser Stelle möchte ich auf einen Text hinweisen, der erschreckende Ansichten und Verhaltensweisen von israelischen Soldaten während der 1. Intifada darstellt: „Wenn israelische Soldaten das Schweigen brechen“ von Dalia Karpe, 21.09.2007 (gekürzte Übersetzung einer akademischen Forschungsstudie von Nofer Ishai-Karen und dem Psychologieprofessor Joel Elzur der hebr. Universität, die im ALPAYIM-Magazin, Vol.31 veröffentlicht wurde). Vier kurze Auszüge:
Ilan Vilenda, ein israelischer Soldat: „Wir - israelische Soldaten - wurden dorthin gebracht, um Palästinenser zu bestrafen. (...) Unser Job war es, sie zu schlagen. Ich persönlich schlug zwei Jungen Ich benützte meine Hände oder den Gummiknüppel. Die erwachsenen Palästinenser schlugen wir stärker. Wir handelten wie Polizisten, aber wir handelten jenseits des Gesetzes.“
Soldat B.: “Es war meine erste Patrouille. Die andern schossen einfach wie verrückt. Ich begann, so wie sie zu schießen. Sie hetzten mich auf. Ich nahm meine Waffe und schoss. Keiner war da, der mir etwas anderes sagte.”
Soldat C: “Die Wahrheit ist, dass ich dieses Chaos liebe - ich habe Spaß daran. Es wirkt wie Drogen. Wenn ich nicht wenigstens einmal die Woche eine Rebellion niederschlagen kann, dann werde ich verrückt.”
Soldat D: “Was großartig ist, ist dass man hier keinen Gesetzen und Regeln folgen muss. Man hat das Gefühl, selbst Gesetz zu sein. Ich kann entscheiden. Wenn man in die besetzten Gebieten geht, ist man wie Gott.”
Hier zeigt sich exemplarisch insbesondere an Hand der Aussagen von C. und D., dass emotionale Gründe im Vordergrund stehen, wenn man sich mit den Akteuren in Ruhe unterhält. Vermutlich wird man in einigen Jahren ähnliche Aussagen von israelischen SoldatInnen bekommen, wenn man diese rückblickend zu ihrem Einsatz in Gaza befragt.
Man fragt sich was wohl die Führung bei ihrer Entscheidung zur aktuellen militärischen Aktion gefühlt hat? Meines Wissens nach werden Führungspolitiker von JournalistInnen selten oder nie nach ihren Gefühlen gefragt, was eine erhebliche Lücke darstellt. „Herr George W. Bush, was fühlten Sie, als sie den Befehl zum Angriff auf den Irak gaben?“ „Herr Ehud Olmert, was fühlten Sie, als Sie ihre Zustimmung zur Operation gegen die Hamas gaben?“ Nun sind Politiker Vollprofis und antworten vielleicht nicht so direkt, wie einfache Soldaten. Trotzdem wäre eine solche Fragestellung und die Reaktion interessant. Wenn dann z.B. als Antwort käme, „ich fühlte gar nichts“, dann wäre das auch eine sehr aussagekräftige Antwort.
Oft heißt es, bei einem Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Ich würde sagen, dass zuerst der rationale Verstand und das Mitgefühl stirbt und dann eine kollektiv psychotische Episode folgt.
Es gibt bei Kriegen eigentlich immer drei entscheidende Punkte, die das ganze schon vor der Offensive zur Niederlage machen.
1. Es werden insbesondere auch Kinder (die nächste Generation) traumatisiert.
2. Es sterben Zivilisten, was den Hass auf den Angreifer und den Extremismus nährt.
3. Eine Generation von jungen SoldatInnen wird durch die Kriegshandlungen traumatisiert und brutalisiert. Ihre Taten, Erlebnisse und Gefühle nehmen sie mit zurück in Ihre Heimat und in ihre Familien.
Hier noch einige kurze aussagekräftige Positionen zum Nachdenken:
Eyad al-Sarat (Leiter der einzigen Psychiatrie in Gaza) macht sich Sorgen - nicht nur wegen der aktuellen Situation, sondern auch wegen dem, was die gegenwärtigen Erfahrungen der Kinder im Gaza-Streifen in der Zukunft auslösen könnten. Denn die Kinder erlebten sehr bewusst mit, dass niemand ihre Sicherheit garantieren könne, nicht einmal die eigenen Väter. Das mache sie anfällig dafür, später radikaler Rhetorik anheimzufallen. "So schafft man neue Extremisten", sagt der Arzt. "Das ist Israels größter Fehler." (vgl. SPIEGEL-Online,
29.12.2008, „Jeder hat nur noch Angst“)
"Am letzten Abend war ich eingeladen bei einer Familie mit einer siebenjährigen Tochter. Die sagte zu mir: »Wirst du denn auch jüdische Menschen treffen, wenn du jetzt ausreist?« Und da habe ich gesagt: »Selbstverständlich.« Dann fragte sie, ob ich denn da keine Angst hätte. Ich habe geantwortet: »Nein, es sind ja nicht alle Menschen in Israel solche, die euch vernichten wollen oder euch angreifen.« Das hat sie mir nicht geglaubt." Dr. Ralf Syring nach einem Besuch im zerstörten Gaza-Streifen.
Auf den Hinweis eines SPIEGEL Redakteurs, dass Israel die Raketenüberfälle von islamistischen Freischärlern ein für allemal beenden wolle antwortete der ehemalige UNO-Generalsekretär Butros Ghali: „Was das Militär jetzt tut, richtet hundertfachen Schaden an, mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Region, natürlich auch für die Israelis.“ und an einer anderen Stelle sagte er: „Schon jetzt steht fest, dass der israelische Angriff auf Gaza eine Katastrophe ist. Diese Militäroperation verschafft den Fundamentalisten Auftrieb - nicht nur in Palästina, sondern auch in allen anderen arabischen Ländern. Ich wundere mich, dass Israel das nicht gemerkt hat.„ (SPIEGEL-Online, 03.01.2009, "Israel ignoriert die Tatsachen")
Die Rufe nach Frieden in der israelischen Bevölkerung sind laut aktuellen Berichten bisher sehr leise. Doch ausgerechnet 500 Bewohner des Städtchens Sderot haben eine Petition unterschrieben, in der die Armee aufgefordert wird, ihre Operationen im Gaza-Streifen einzustellen und den Waffenstillstand zu erneuern. Sderot ist nah am Gaza-Streifen gelegen und der Ort, der am häufigsten von den Raketen palästinensischer Militanter getroffen wird. Denn eine militärische Operation, so Arik Yalin (der die Bürgerbewegung ins Leben gerufen hat), werde nur den Hass auf beiden Seiten vertiefen. (SPEIEGL-Online, 30.12.2008, "Es wurde höchste Zeit, dass Israel zurückschlägt")
Diese o.g. Positionen sind für jeden nachvollziehbar und derart offensichtlich, dass man Israels Aktion – trotz des regelmäßigen Beschusses durch Raketen - als irrational bezeichnen muss! Das Unverständnis mit dem man als Mensch vor einem Krieg steht, ist wirklich berechtigt. Krieg ist in der Tiefe rational nicht zu erklären. Emotionale Gründe und Störungen scheinen hier zu dominieren und zwar sowohl bei den Palästinensern als auch bei den Israelis.
DeMause zeichnet ein eindrückliches Bild von der elterlichen Gewalt gegen Kinder in islamisch, fundamentalistischen Familien und Gesellschaften und betont die weite Verbreitung von sexuellem Missbrauch in Palästina. (vgl. deMause, 2005, S. 40)
Laut UNICEF erleben in Palästina nur 5 % der Kinder keine Gewalt (damit ist dieses Land "Spitzenreiter" im UNICEF Report), 70 % erleben psychische und körperliche Gewalt, 23 % erleben nur psychische Gewalt und 2 % nur körperliche Gewalt. Die Gewalt geht dabei häufig von nahen Bezugspersonen der Kinder aus. (diese Info wurde am 16.10.09 nachgetragen, vgl. UNICEF, September 2009: Progress for Children - A Report Card on Child Protection, S. 8)
Im Grundlagentext schrieb ich bereits unter Bezug auf eine Quelle aus dem Jahr 2003:
Die palästinensischen Kinder sind einer ständigen Angst ausgesetzt. Sie werden Zeugen der Bombardements und des panikartigen Verhaltens ihrer Eltern. Das Ergebnis dieser Situation ist, dass 40 % der Kinder glauben, ihre Eltern könnten sie nicht mehr schützen. Von 3.000 befragten Heranwachsenden bestätigten außerdem 55 %, dass sie hilflose Zeugen waren, wie ihr Vater von israelischen Soldaten geschlagen wurde. Fast 32 % der Kinder haben starke posttraumatische Störungen. Von 945 untersuchten Kindern litten alle an einem direkten oder indirekten Trauma sowie den Folgen posttraumatischer Störungen (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2003, S.51ff) „Besonders beunruhigend ist, dass 24 % der palästinensischen Kinder davon träumen als Märtyrer zu sterben, also Selbstmordattentäter zu werden. Das ist beängstigend, denn jeder Selbstmordattentäter von heute ist ein Kind der ersten Intifada. Und wenn die Kinder der ersten Intifada schon so traumatisiert sind, dass allein 24 % von ihnen Märtyrer werden wollen, dann kann man sich vorstellen, was für zukünftige Politiker, Lehrer und Richter wir in diesem Land haben werden.“ (ebd., S.55) (Interessant wäre es, die palästinensischen Kinder zusätzlich zu Gewalterfahrungen in ihren Familien zu befragen und evtl. Zusammenhänge zwischen kumulierten traumatischen Erfahrungen und eigenen Gewaltfantasien und –handlungen herauszufinden.)
Auch folgende Zahlen machen deutlich, wie sehr hier psychische Störungen auf beiden Seiten das Fundament des Konfliktes sind: Laut einer Untersuchung an der Universität Tel Aviv sind 70% der palästinensischen Jugendlichen und 30 % der Kinder israelischer Siedler wegen dem Nahost-Konflikt traumatisiert (645 jüdische Israelis und 552 arabisch-palästinensische Jugendliche wurden befragt). (vgl. National Zeitung und Baseler Nachrichten, 03.07.2002, „Die Gewalt im Nahen Osten zerfrisst die Seelen der Kinder“)
Gemäß einer Studie leiden beinahe die Hälfte der israelischen Eltern und ein Drittel der Kinder in Sderot an post-traumatischem Stress. (vgl. Artikel von Eli Ashkenazi und Auszüge aus einem Artikel von Amos Harel, Ha’aretz, 13.06.2006, „Kassam-Beschuss:
Kinder in Sderot leiden an post-traumatischem Stress“)
Für die israelische Seite fand ich aussagekräftige Zahlen zum sexuellen Missbrauch an Kindern. Im Jahr 2007 gab es in Israel über 41.000 Missbrauchsfälle (Hellfeld), die zur Anzeige gelangten - 1997 waren es noch 21.000. (vgl. Jüdische Zeitung, Oktober 2008, „Rose Pizems Nachlass. Die Zahl der Kindesmisshandlungen in Israel ist drastisch gestiegen“) Die israelische Bevölkerung umfasste 2007 insgesamt 6.426.679 Menschen. Dazu mal ein Vergleich: Im Jahr 2005 kamen in Deutschland 17.526 Fälle von sexuellem Missbrauch zur Anzeige. Die deutsche Bevölkerung umfasste im selben Jahr 82.431.390 Menschen. Israel hat im Verhältnis zu Deutschland 7,8 % Einwohner und dabei 134 % mehr Missbrauchsfälle. Eine erschreckend hohe Zahl (auch wenn man die Zahlen aus dem Jahr 1997 zu Grunde legt und ins Verhältnis setzt)! Man bedenke an dieser Stelle auch, dass hinter jedem „Hellfeldfall“ ein vielfaches an Dunkelfeld steht. Es verwundert also kaum, dass nach einer Dunkelfeldstudie von Schein et al. (2000) 31% der befragten israelischen Frauen über eine Form von sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit berichten. Von den in der Studie befragten Männern gaben 16 % an, sexuell missbraucht worden zu sein.(Insgesamt wurden 1.242 Personen befragt) (vgl. Pagovich, O. 2004: Israel. In: Malley-Morrison, K. (Hrsg.): International Perspectives on Family Violence and Abuse. A Cognitive Ecological Approach. Routledge, S. 192)
Außerdem wird auf Grundlage von angezeigten Fällen geschätzt, dass von den ca. 2 Millionen israelischen Kindern 300.000 (also 15 %) gefährdet sind, Kindesmisshandlung zu erleben. (ebd.) Einer Studie von Sternberg & Krispin (1993) nach erlebten 30 % (33 von 110) der befragten israelischen Kinder körperliche Misshandlungen durch ihre Eltern innerhalb von 6 Monaten vor der Befragung. (ebd.)
Es sind zusammengefasst also zwei wesentliche tiefere Ursachen des Konfliktes sehr wahrscheinlich: Das hohe Ausmaß an Gewalt gegen Kinder und die hohe Traumatisierungsrate der Menschen durch das Kriegsgeschehen auf beiden Seiten. Somit kann der Konflikt aus meiner Sicht langfristig nur gelöst werden, wenn die Gewalt gegen Kinder erheblich reduziert wird und wenn traumatisierten Menschen systematisch und umfassend psychologische Hilfe zu Teil wird. Ein nachhaltiger Frieden ist immer ein innerer Prozess, kein äußerlicher, keiner durch Macht und Gewalt „gesicherter“.
"Die Armee kommt in Israel gleich nach Gott.", sagt eine Aktivistin von "Machsom Watch". Bereits Kinder würden dazu erzogen, den Armeedienst hochzustilisieren. Der Armeedienst in Israel sei das wichtigste gesellschaftliche Übergangsritual und würde zu einer starken Militarisierung der jüdischen Gesellschaft führen. (in Israel verrichten Frauen 2 Jahre und Männer 3 Jahre den Militärdienst.) (vgl. Jüdische Zeitung, September 2008, „Wir sind in Israel die Ausgestoßenen.“; ergänzend Homepage von Machsom Watch)
Ich denke, dass die israelische Gesellschaft auch hier umdenken und mehr an einer zivilen Gesellschaft arbeiten sollte. An dieser Stelle sei auch an das Kapitel 5. im Grundlagentext erinnert.
Im Übrigen frage ich mich, ob man dem israelischen Volk nicht vermitteln kann, dass – wenn man es mal ganz kalt und rechnerisch betrachtete – seit 2000 bei den Raketenangriffen der Hamas auf israelische Städte 22 Menschen starben (vgl. SPIEGEL-Online, 09.01.2009, „Israel trotzt der Uno - Gaza-Krieg geht weiter“), ca. 3 pro Jahr und dass man bei allem Verständnis für das seelische Leid der Bevölkerung nicht bereit ist, kriegerisch zu reagieren (im Zeitraum 27.12.2008 bis 09.01.2009 wurden übrigens nach palästinensischen Angaben 780 Palästinenser durch israelische Angriffe getötet. vgl. ebd.)?
Ich komme erneut zu dem Schluss, dass die israelische Reaktion irrational begründet zu sein schein. Sie macht einfach keinen Sinn. Man muss hier also vielmehr nach den emotionalen (unbewussten) Motiven suchen.
Ich frage mich, was passieren würde, wenn beide Seiten keine klaren Feindbilder mehr hätte? Könnten Sie überhaupt ohne Feind existieren? Wie sagte noch Soldat C.: „Wenn ich nicht wenigstens einmal die Woche eine Rebellion niederschlagen kann, dann werde ich verrückt.“
Hinweis: Diesen Beitrag habe ich um einige wichtige Informationen ergänzt, denn ganz offensichtlich gab es auch alternative Wege, den Beschuss zu stoppen. Lesen kann man diese hier.
Dienstag, 16. Dezember 2008
Die Irrationalität des Krieges
Kriege haben weitgehend emotionale Gründe (die mit traumatischen Kindheitserfahrungen in direkter Verbindung stehen), so die psychohistorische Grundthese. Damit steht diese These weitgehend entgegen üblichen Darstellungen und Theorien, die Kriege mit rationalem Handeln und gesellschaftlich-politischen insbesondere auch ökonomischen Prozessen in Verbindung bringen.
Die Irrationalität des Krieges lässt sich aktuell sehr gut am Beispiel des Irakfeldzuges festmachen. Dazu vorweg einige Informationen:
Ein Untersuchungsbericht vom November 2006 erstellt von einer Gruppe von Fachleuten genannt „Mental Health Advisory Team" schildert folgendes: „Geradezu erschreckende Resultate förderten die Militärpsychologen im Hinblick auf die ethisch-moralischen Einstellungsmuster der US-Soldaten am Golf zutage. Weit weniger als die Hälfte der Befragten stimmten der Aussage zu, dass die Zivilbevölkerung mit Würde und Respekt zu behandeln sei. Dagegen meinten mehr als vierzig Prozent, dass Folter erlaubt sein sollte, wenn das Leben von Kameraden auf dem Spiel stehe oder wenn es schlicht darum gehe, Informationen zu gewinnen. (...) Immerhin zehn Prozent gaben zu, eigenhändig irakische Zivilisten auf die ein oder andere Weise misshandelt zu haben. Diese Ergebnisse bestätigen Aussagen von englischen Offizieren, die bereits vor geraumer Zeit moniert hatten, das US-Militär würde die Iraker als "Untermenschen" behandeln. Wohlgemerkt: die Briten gebrauchten tatsächlich den deutschen Originalbegriff. (...)“ (NDR Info, „Streitkräfte und Strategien“ (Sendereihe), 25.08.2007: „Überfordert in asymmetrischen Konflikten? US-Soldaten im zermürbenden Kampf gegen Aufständische „Gastbeitrag von Dipl. Päd. Jürgen Rose (Oberstleutnant der Bundeswehr) http://www.bits.de/public/gast/07rose-02.htm)
In einem Einzelbericht des ehemaligen Obergefreiten Joshua Key (Buch "Ich bin ein Deserteur") heißt es: „In den Augen unserer Armee waren die Iraker keine Menschen, sondern Terroristen, Selbstmordattentäter, Sandnigger und Lumpenköpfe. Wir mussten sie geringer achten als Menschen, um überhaupt zu unseren Taten fähig zu sein. In der Militärausbildung brachte man uns bei, die Iraker als minderwertig zu betrachten, und diese Haltung überquerte mit uns die Meere, als wir in den Kampfeinsatz flogen“ (ebd.)Er macht dafür vor allem Defizite in der Ausbildung verantwortlich. Den Rekruten werde jede Regung von Mitmenschlichkeit ausgetrieben. Sie würden zu bedingungslos funktionierenden Kampfrobotern gedrillt.
Die vorsichtige Prognose des Ökonomen und Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz lautet: Angenommen die US-Truppen ziehen sich bis 2012 schrittweise zurück, dann kostet zum Beispiel der weitere Militäreinsatz inklusive Milliardensummen für versehrte Veteranen und Zinsen für Kriegskredite: Insgesamt drei Billionen US-Dollar (vgl. ARD-Magazin „Monitor“, 13.03.2008) Man führe sich diese Summe vor Augen: 3.000.000.000.000 Dollar! (Mit dieser Summe könnte man z.B. auf einen Schlag die gesamte Staatsverschuldung Deutschlands tilgen und hätte immer noch ca. 1,5 Billionen über)
"Wenn man uns vorwirft, dass wir nur die Kosten addieren und nicht den Nutzen einberechnen, dann stimmt das", sagt Stiglitz, "aber es fällt mir schwer, überhaupt Nutzen zu erkennen." Auch die Vorhaltung, man ziehe ja schließlich nicht mit einer fertigen Kostenrechnung in den Krieg, will der Nobelpreisträger nicht gelten lassen: "Es war keine Antwort auf einen Überraschungsangriff wie Pearl Harbor, sondern ein selbst gewählter Krieg, ein präventiver Krieg. Da gehört es zu den demokratischen Spielregeln, offen zu sagen, mit welchen Kosten man rechnen muss." (ZEIT-Online, 26.02.2008, "Der Drei-Billionen-Krieg", http://www.zeit.de/online/2008/09/stiglitz-irakkrieg-kosten?page=2)
Ein Tagesschaubericht vom 31.10.2006 stellt die Kosten so dar: Der Irak-Krieg kostet zwei Milliarden Dollar pro Woche (http://www.tagesschau.de/ausland/meldung91602.html) Berechnet wurden hier offensichtlich nur direkte Kosten.
Diese enormen Ausgaben sind für die USA nie wieder durch Ausbeutung des Irak "reinzuholen". Es ging also nie um ökonomische Gründe!
Ein Team um Gilbert Burnham von der Johns Hopkins School of Medicine im amerikanischen Baltimore hat errechnet, dass zwischen März 2003 und Sommer 2006 im Irak 654965 Menschen an Kriegsfolgen ums Leben kamen. Das wären etwa 600 Todesopfer an jedem Tag. Diese aus Umfragen und Hochrechnungen ermittelte Zahl würde bedeuten, dass 2,5 Prozent der irakischen Bevölkerung seit Kriegsbeginn gestorben sind. Die Forscher hatten in den 16 Regierungsbezirken des Irak 50 Regionen zufällig ausgewählt und dort die Zahl der gewaltsamen Todesfälle erhoben. Dazu wurden fast 13.000 Menschen befragt, ob Familienmitglieder umgekommen seien, und Totenscheine eingesehen. (sueddeutsche.de, 11.01.2007, "600 Tote pro Tag", http://www.sueddeutsche.de/politik/205/362027/text/)
Die Befreiung und der Schutz des irakischen Volkes sind hier offensichtlich auch nicht die Gründe für den Feldzug. Was logisch ist, da ein Feldzug an sich nie die Bevölkerung schützen kann, sondern diese erfahrungsgemäß weit mehr schädigt, als die militärischen Akteure.
Ich fand es - nebenbei bemerkt - auch immer sehr erschreckend, wie Bunker, Paläste usw. im Irak eifrig aus der Luft bombardiert wurden, mit dem Ziel, mögliche Waffenlager auch von Massenvernichtungswaffen zu zerstören. Öffentlich war sich die US-Regierung ja sicher, dass der Irak solche Waffen hatte, auch wenn dies nicht der Wahrheit entsprach, wie wir heute wissen. Wenn aber auch nur eine gewisse Chance bestand, dass dort wirklich entsprechende Waffen hätten lagern können, entschuldigung: Dann widerspricht es jeder Logik, diese Stellungen anzugreifen! Denn die Folgen vor Ort für die dortige Bevölkerung wären verheerend gewesen, wenn dort z.B. nukleare Stoffe und andere extreme Gifte in die Umwelt gelangt wären. Auf solche Weise schafft man sich keinen Rückhalt bei dem irakischen Volk, sondern signalisiert nur, wie egal einem Menschenleben sind.
Solche Berichte enthüllen also exemplarisch wesentliche Aspekte, die mir bzgl. des Irakkrieges durch den Kopf gehen:
Soldaten, die logischerweise (durch extreme, systematische Belastungen in der Rekrutenzeit wie es die USA praktiziert) zum Töten ausgebildet werden, können keinen Frieden stiften und Aufbauhilfe leisten. Letzteres ist in ihrer Ausbildung gar nicht vorgesehen. Das ist eine eigentlich ganz banale Feststellung. Wenn die USA behaupten, sie hätten das irakische Volk befreien wollen (US-Präsident Bush erklärt am 20.03.2003 in einer Fernsehansprache, die militärische Operation zur "Entwaffnung Iraks und zur Befreiung seines Volkes" habe begonnen - siehe Artikel: "Chronik eines angekündigten Krieges"), kann man nicht mal mehr lachen.
Die psychohistorische Forschung weist darauf hin, dass Kriege im Grundsatz nicht aus rationalen Gründen („Wir brauchen Öl, also überfallen wir den Irak“) entstehen, sondern hier emotionale (vor allem unbewusste) Gründe überwiegen. Die obigen Berichte zeigen, dass es eigentlich um das Opfern von Menschen – in diesem Fall insbesondere von dem irakischen Volk, aber auch von den eigenen jungen US-Soldaten – geht. Es geht um das Finden von „Giftcontainern“ für eigene unerträglich (Kindheits-)Traumatisierungen, um sich zu erleichtern (siehe dazu ausführlich deMause, 2005). Lloyd deMause schreibt: „Die gesamte Lehrmeinung der rationalen Entscheidungen der Kriegstheoretiker, alle, die behaupten, Nutzen sei das ultimative Motiv für Krieg, scheitern an den extensiven empirischen Forschungsarbeiten der letzten Jahre über Hunderte von Kriegen, die übereinstimmend zeigen, dass Kriege destruktiv und nicht etwa nützlich sind; dass diejenigen, die einen Krieg beginnen, diesen normalerweise verlieren; und dass Führer, die Kriege ausrufen, sich nie darüber Gedanken machen, ob die Gewinne die Kosten übersteigen. (...) In Vietnam kostete Amerika die Tötung jedes feindlichen Soldaten mehrere hunderttausend Dollar; auch die heutige Welt gibt für Kriegszwecke und zur Erhaltung der militärischen Kräfte jedes Jahr Milliarden von Dollar aus, weit mehr, als durch einen Krieg eingenommen werden könnte. (...) Meine jahrzehntelange Untersuchung von Führeransprachen, die Nationen mitteilten, sie würden in den Krieg ziehen, weist nicht eine auf, wo durch diese Aktion materielle Vorteile versprochen worden wären. Führer versprechen „Opfer“, und nicht Gewinn.“ (deMause, 2005, S. 111)
Ich meine, dass die klassischen Kriegstheoretiker zukünftig über den Tellerrand schauen müssen und das Gebot der Stunde ist, sich mal mit den psychohistorischen Thesen zu beschäftigen!
Die Irrationalität des Krieges lässt sich aktuell sehr gut am Beispiel des Irakfeldzuges festmachen. Dazu vorweg einige Informationen:
Ein Untersuchungsbericht vom November 2006 erstellt von einer Gruppe von Fachleuten genannt „Mental Health Advisory Team" schildert folgendes: „Geradezu erschreckende Resultate förderten die Militärpsychologen im Hinblick auf die ethisch-moralischen Einstellungsmuster der US-Soldaten am Golf zutage. Weit weniger als die Hälfte der Befragten stimmten der Aussage zu, dass die Zivilbevölkerung mit Würde und Respekt zu behandeln sei. Dagegen meinten mehr als vierzig Prozent, dass Folter erlaubt sein sollte, wenn das Leben von Kameraden auf dem Spiel stehe oder wenn es schlicht darum gehe, Informationen zu gewinnen. (...) Immerhin zehn Prozent gaben zu, eigenhändig irakische Zivilisten auf die ein oder andere Weise misshandelt zu haben. Diese Ergebnisse bestätigen Aussagen von englischen Offizieren, die bereits vor geraumer Zeit moniert hatten, das US-Militär würde die Iraker als "Untermenschen" behandeln. Wohlgemerkt: die Briten gebrauchten tatsächlich den deutschen Originalbegriff. (...)“ (NDR Info, „Streitkräfte und Strategien“ (Sendereihe), 25.08.2007: „Überfordert in asymmetrischen Konflikten? US-Soldaten im zermürbenden Kampf gegen Aufständische „Gastbeitrag von Dipl. Päd. Jürgen Rose (Oberstleutnant der Bundeswehr) http://www.bits.de/public/gast/07rose-02.htm)
In einem Einzelbericht des ehemaligen Obergefreiten Joshua Key (Buch "Ich bin ein Deserteur") heißt es: „In den Augen unserer Armee waren die Iraker keine Menschen, sondern Terroristen, Selbstmordattentäter, Sandnigger und Lumpenköpfe. Wir mussten sie geringer achten als Menschen, um überhaupt zu unseren Taten fähig zu sein. In der Militärausbildung brachte man uns bei, die Iraker als minderwertig zu betrachten, und diese Haltung überquerte mit uns die Meere, als wir in den Kampfeinsatz flogen“ (ebd.)Er macht dafür vor allem Defizite in der Ausbildung verantwortlich. Den Rekruten werde jede Regung von Mitmenschlichkeit ausgetrieben. Sie würden zu bedingungslos funktionierenden Kampfrobotern gedrillt.
Die vorsichtige Prognose des Ökonomen und Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz lautet: Angenommen die US-Truppen ziehen sich bis 2012 schrittweise zurück, dann kostet zum Beispiel der weitere Militäreinsatz inklusive Milliardensummen für versehrte Veteranen und Zinsen für Kriegskredite: Insgesamt drei Billionen US-Dollar (vgl. ARD-Magazin „Monitor“, 13.03.2008) Man führe sich diese Summe vor Augen: 3.000.000.000.000 Dollar! (Mit dieser Summe könnte man z.B. auf einen Schlag die gesamte Staatsverschuldung Deutschlands tilgen und hätte immer noch ca. 1,5 Billionen über)
"Wenn man uns vorwirft, dass wir nur die Kosten addieren und nicht den Nutzen einberechnen, dann stimmt das", sagt Stiglitz, "aber es fällt mir schwer, überhaupt Nutzen zu erkennen." Auch die Vorhaltung, man ziehe ja schließlich nicht mit einer fertigen Kostenrechnung in den Krieg, will der Nobelpreisträger nicht gelten lassen: "Es war keine Antwort auf einen Überraschungsangriff wie Pearl Harbor, sondern ein selbst gewählter Krieg, ein präventiver Krieg. Da gehört es zu den demokratischen Spielregeln, offen zu sagen, mit welchen Kosten man rechnen muss." (ZEIT-Online, 26.02.2008, "Der Drei-Billionen-Krieg", http://www.zeit.de/online/2008/09/stiglitz-irakkrieg-kosten?page=2)
Ein Tagesschaubericht vom 31.10.2006 stellt die Kosten so dar: Der Irak-Krieg kostet zwei Milliarden Dollar pro Woche (http://www.tagesschau.de/ausland/meldung91602.html) Berechnet wurden hier offensichtlich nur direkte Kosten.
Diese enormen Ausgaben sind für die USA nie wieder durch Ausbeutung des Irak "reinzuholen". Es ging also nie um ökonomische Gründe!
Ein Team um Gilbert Burnham von der Johns Hopkins School of Medicine im amerikanischen Baltimore hat errechnet, dass zwischen März 2003 und Sommer 2006 im Irak 654965 Menschen an Kriegsfolgen ums Leben kamen. Das wären etwa 600 Todesopfer an jedem Tag. Diese aus Umfragen und Hochrechnungen ermittelte Zahl würde bedeuten, dass 2,5 Prozent der irakischen Bevölkerung seit Kriegsbeginn gestorben sind. Die Forscher hatten in den 16 Regierungsbezirken des Irak 50 Regionen zufällig ausgewählt und dort die Zahl der gewaltsamen Todesfälle erhoben. Dazu wurden fast 13.000 Menschen befragt, ob Familienmitglieder umgekommen seien, und Totenscheine eingesehen. (sueddeutsche.de, 11.01.2007, "600 Tote pro Tag", http://www.sueddeutsche.de/politik/205/362027/text/)
Die Befreiung und der Schutz des irakischen Volkes sind hier offensichtlich auch nicht die Gründe für den Feldzug. Was logisch ist, da ein Feldzug an sich nie die Bevölkerung schützen kann, sondern diese erfahrungsgemäß weit mehr schädigt, als die militärischen Akteure.
Ich fand es - nebenbei bemerkt - auch immer sehr erschreckend, wie Bunker, Paläste usw. im Irak eifrig aus der Luft bombardiert wurden, mit dem Ziel, mögliche Waffenlager auch von Massenvernichtungswaffen zu zerstören. Öffentlich war sich die US-Regierung ja sicher, dass der Irak solche Waffen hatte, auch wenn dies nicht der Wahrheit entsprach, wie wir heute wissen. Wenn aber auch nur eine gewisse Chance bestand, dass dort wirklich entsprechende Waffen hätten lagern können, entschuldigung: Dann widerspricht es jeder Logik, diese Stellungen anzugreifen! Denn die Folgen vor Ort für die dortige Bevölkerung wären verheerend gewesen, wenn dort z.B. nukleare Stoffe und andere extreme Gifte in die Umwelt gelangt wären. Auf solche Weise schafft man sich keinen Rückhalt bei dem irakischen Volk, sondern signalisiert nur, wie egal einem Menschenleben sind.
Solche Berichte enthüllen also exemplarisch wesentliche Aspekte, die mir bzgl. des Irakkrieges durch den Kopf gehen:
Soldaten, die logischerweise (durch extreme, systematische Belastungen in der Rekrutenzeit wie es die USA praktiziert) zum Töten ausgebildet werden, können keinen Frieden stiften und Aufbauhilfe leisten. Letzteres ist in ihrer Ausbildung gar nicht vorgesehen. Das ist eine eigentlich ganz banale Feststellung. Wenn die USA behaupten, sie hätten das irakische Volk befreien wollen (US-Präsident Bush erklärt am 20.03.2003 in einer Fernsehansprache, die militärische Operation zur "Entwaffnung Iraks und zur Befreiung seines Volkes" habe begonnen - siehe Artikel: "Chronik eines angekündigten Krieges"), kann man nicht mal mehr lachen.
Die psychohistorische Forschung weist darauf hin, dass Kriege im Grundsatz nicht aus rationalen Gründen („Wir brauchen Öl, also überfallen wir den Irak“) entstehen, sondern hier emotionale (vor allem unbewusste) Gründe überwiegen. Die obigen Berichte zeigen, dass es eigentlich um das Opfern von Menschen – in diesem Fall insbesondere von dem irakischen Volk, aber auch von den eigenen jungen US-Soldaten – geht. Es geht um das Finden von „Giftcontainern“ für eigene unerträglich (Kindheits-)Traumatisierungen, um sich zu erleichtern (siehe dazu ausführlich deMause, 2005). Lloyd deMause schreibt: „Die gesamte Lehrmeinung der rationalen Entscheidungen der Kriegstheoretiker, alle, die behaupten, Nutzen sei das ultimative Motiv für Krieg, scheitern an den extensiven empirischen Forschungsarbeiten der letzten Jahre über Hunderte von Kriegen, die übereinstimmend zeigen, dass Kriege destruktiv und nicht etwa nützlich sind; dass diejenigen, die einen Krieg beginnen, diesen normalerweise verlieren; und dass Führer, die Kriege ausrufen, sich nie darüber Gedanken machen, ob die Gewinne die Kosten übersteigen. (...) In Vietnam kostete Amerika die Tötung jedes feindlichen Soldaten mehrere hunderttausend Dollar; auch die heutige Welt gibt für Kriegszwecke und zur Erhaltung der militärischen Kräfte jedes Jahr Milliarden von Dollar aus, weit mehr, als durch einen Krieg eingenommen werden könnte. (...) Meine jahrzehntelange Untersuchung von Führeransprachen, die Nationen mitteilten, sie würden in den Krieg ziehen, weist nicht eine auf, wo durch diese Aktion materielle Vorteile versprochen worden wären. Führer versprechen „Opfer“, und nicht Gewinn.“ (deMause, 2005, S. 111)
Ich meine, dass die klassischen Kriegstheoretiker zukünftig über den Tellerrand schauen müssen und das Gebot der Stunde ist, sich mal mit den psychohistorischen Thesen zu beschäftigen!
Freitag, 12. Dezember 2008
Historische Kindererziehungspraktiken und Persönlichkeiten
(Idealtypische) Historische Kindererziehungspraktiken und Persönlichkeiten nach Lloyd deMause, 2005, S. 278ff + S. 183ff
gekürzte Beschreibung:
1a. Früher Infantizidmodus (Schizoide Psychoklasse); Zeit: Tribalismus, Banden und Stämme:
Primitive Elternschaft; sehr wenig Empathie für das Kind; Vater ist grundsätzlich in den ersten Jahren emotional abwesend; offener Inzest; Kindesvergewaltigungen; sehr häufig Kindestötungen; Körperverstümmelungen; Folterungen; emotionale Verstoßung; die Folgen sind zersplitterte Persönlichkeiten, vollkommen unfähig, sich selbst zu lieben; Schizoide können keine engen Beziehungen aushalten und sind folglich nicht in der Lage, höhere Stufen sozialer Organisation, die auf Vertrauen basieren, zu bilden.
1b. Später Infantizidmodus (Narzisstische Psychoklasse); Zeit: Altertum/Antike; von Königtümern bis zu frühen Staaten:
Kindestötungen immer noch häufig, ebenso sind Kindervergewaltigungen weiter Routine; allerdings wird das junge Kind nicht mehr so offen von der Mutter zurückgewiesen und der Vater fängt an, sich mehr mit Anleitungen des älteren Kindes zu beschäftigen; einengende Methoden wie das straffe Einwickeln vom Kleinkind finden Verbreitung, ebenso die Institutionalisierung von Fürsorge in Form von z.B. Ammen, In-Pflege-Geben, Verwendung von Kindern anderer als Sklaven und Diener usw.; das Verprügeln von Kindern ist weniger impulsiv und wird mehr als Disziplinierung verwendet.
2. Verstoßender Modus (Masochistische Psychoklasse); Zeit: Christentum, ab dem 1.Jahrhundert
Ausgehend vom Christentum bringen mehr Eltern ihre Kinder nicht um, sondern verstoßen sie, sowohl emotional als auch durch Weggeben zu Ammen, in Klöster usw.; vom Kind dachte man, es sei voll von Bösen auf die Welt gekommen und so wurde früher und härter geschlagen; vorherrschend war weiterhin eine missbrauchende Kinderfürsorge; jedoch konnten die frühen Christen zum ersten mal in der Geschichte hoffen, von ihren Müttern ein Stück weit geliebt zu werden, wenn sie diesen ihre (masochistischen) Leiden zeigten und deren Mitgefühl erregten.
3. Ambivalenter Modus (Borderline Psychoklasse); Zeit: Mittelalter, ab 12. Jh.:
Die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung von Ambivalenz - Liebe und Hass - gegenüber Kindern ist ein großer Fortschritt in diesem Modus (die ersten Schritte in Richtung Unabhängigkeitsrechte für Kinder); weniger Kinder wurden verstoßen, Gesetze gegen Kindervergewaltigung in Erwägung gezogen, die ersten Kinderschutzgesetze erlassen und die Schulbildung und Kindermedizin erweitert; die meisten Mütter weisen ihre Kinder aber immer noch zurück; das Kind wurde als weniger von Geburt an sündig und böse gesehen; die Verbesserung der Kindererziehung in diesem Modus erlaubte die Entdeckung des Individuums, nach deMause kam der technische und gesellschaftliche Forschschritt dieser Zeit wesentlich durch diese Verbesserungen in Gang.
4. Aufdringlicher Modus (Depressive Psychoklasse); Zeit: Renaissance, ab 16. Jh.: Das straffe Wickeln von Kleinkindern ging zurück, ebenso das Verprügeln und Vergewaltigen; die Wohlhabenden fingen an, ihre Kinder selbst aufzuziehen und erlaubten sich emotionale Bindungen an das Kind; speziell in England (zugleich am fortschrittlichsten entwickelte sich auch die Kindererziehung in Frankreich) wurde versucht, das Wachstum von Kindern nicht mehr zu unterbinden, sondern dieses zu kontrollieren und das Kind gehorsam zu machen; es gab eine aufdringliche Überkontrolle; die Eltern kamen ihren Kindern aber näher und schenkten ihnen mehr Aufmerksamkeit; es gab getrennte Kinderbetten und Lebensweisen; Empathie setzte mit diesem Modus ein, das daraus folgende "Heilen von Dissoziation" und die Zunahme von Individuation brachte nach deMause die religiösen, wissenschaftlichen, politischen und ökonomischen Revolutionen der Zeit hervor; da die Mehrheit der Bevölkerung in Europa allerdings weiterhin aus früheren Psychoklassen bestand, antworteten diese mit Gewalt auf den großen gesellschaftlichen Fortschritt. "Historiker waren lange verwundert darüber, dass in den fortschrittlichsten Jahrhunderten eine Epidemie der Hexerei ausbrach, wenn man aber die Manie als Reaktion auf Wachstumspanik betrachtet, wird dies nachvollziehbar." (deMause, 2005, S. 299)
5. Sozialisierender Modus (Neurotische Psychoklasse); Zeit: Moderne, ab 18.Jh.:
Die Kinderzahl sank bei den meisten Eltern auf auf drei oder vier, weil die Eltern mehr in der Lage sein wollten, ihren Kindern mehr Pflege zuteil werden zu lassen; die elterliche Absicht war weiterhin, den Kindern ihre eigenen Ziele aufzudrücken, insbesondere geschah dies durch psychologische Manipulation und weiterhin auch durch körperliche Gewalt gegen kleine Kinder; das sozialisierte Kind besaß wesentlich mehr Freiheit und Respekt als das in jedem vorausgegangenen Modus; Mütter fingen an, die Fürsorge für die Kinder zu genießen und selbst die Väter begannen, mit den Kindern zu spielen und brachten ihnen Dinge bei; "Der sozialisierende Modus hat die moderne industrialisierte Welt geschaffen und ihre neuen Werte des Nationalismus und der Demokratie repräsentieren die sozialen Modelle der meisten Menschen heute, weil das Ende des Kinderprügelns der sozialisierten Persönlichkeit erlaubt, ihrem Bedarf, sich an einen autoritären Führer zu klammern, zu reduzieren." (deMause, 2005, S. 187)
6. Helfender Modus (Individualisierte Psychoklasse); Zeit: Postmoderne, ab 20. Jh.: Die hauptsächliche Rolle der Eltern besteht in der Hilfestellung für das Kind in jeder Altersstufe, was viel Aufwand, Zeit und Energie bedeutet; das erste mal sind Kinder für die Eltern keine schwierige Aufgabe mehr, sondern eine Freude; sowohl Mutter als auch Vater sind vom Säuglingsalter an gleichwertig mit dem Kind befasst und helfen diesem, eine autonome, selbstbestimmte Person zu werden; die Kinder werden bedingungslos geliebt und werden nicht geschlagen; wenn Eltern unter Stress Fehler begehen und ihre Kinder z.B. anbrüllen, entschuldigen sie sich danach bei ihnen; diese so behandelten Kinder sind wesentlich empathischer gegenüber anderen Menschen in der Gesellschaft als frühere Generationen; "Es ist keine Frage, dass, würde die Welt Kinder nach dem helfenden Modus großziehen, Kriege und alle anderen selbstdestruktiven sozialen Bedingungen, unter denen wir im 21.Jahrhundert immer noch leiden, getilgt sein würden, weil die Welt einfach mit individualisierten Persönlichkeiten gefüllt sein würde, die empathisch gegenüber anderen und nicht selbstdestruktiv wären." (ebd., S. 305)
Diese vorgestellten Kindererziehungsmodi sind laut deMause durch fünf historische Studien und über 100 wissenschaftliche Artikel im Journal of Psychohistory bestätigt worden. (Wie ich in einem Text hier herausgestellt habe, könnte zur Unterstützung dieser Thesen auch die bedeutende Studie von Philippe Aries herangezogen werden, die leider oftmals als gegensätzlich zu deMause dargestellt wird) Heute existieren auch in modernen Nationen Eltern aus allen sechs Kindererziehungsmodi nebeneinander, was gewaltige Konflikte ergeben kann. Die meisten destruktiven Konflikte auf der Welt sind demnach im Grunde "Psychoklassenkonflikte".
Eine Tabelle unter wikipedia.org zeigt die Verteilung der "Psychoklassen" (Tabelle entnommen aus http://en.wikipedia.org/wiki/Psychohistory, ursprüngliche Quelle: DeMause, L. 1982: Foundations of Psychohistory. Creative Roots Publishing. S. 61 + 132–146. (Persönlicher Hinweis: Da diese Tabelle Anfang der 80er Jahre von deMause erstellt wurde, dürfte sich die Verteilung im letzten Abschnitt mittlerweile etwas verändert haben. Schließlich hat sich innerhalb der letzten 30 Jahre enorm viel zu Gunsten von Kindern entwickelt.)
Die Evolution von Psyche und Gesellschaft - folgend dem o.g. idealtypischen Muster - ging laut der psychogenen Theorie in der Geschichte hauptsächlich von sich veränderten Kindererziehungspraktiken aus. Die Vaterrolle ist dabei historisch betrachtet eine sehr späte Erfindung (der Moderne). Frauen (Großmütter, Tanten, Ammen, Dienerinnen usw.) bzw. Mütter waren hauptsächlich für die Kindererziehung verantwortlich. Demnach postuliert nur diese Theorie, dass für den größten Teil der Geschichte Frauen die wesentliche Ursache historischer Veränderungen und von sozialem Forschritt sind. (ebd. S. 177, S. 218) "Was wie ein Wunder scheint, (...) ist, dass Mütter über die gesamte Geschichte hindurch langsam und erfolgreich, ohne große Hilfe von anderen, gegen ihre Angst und ihren Hass ankämpften und es ihnen gelungen ist, die liebende und empathische Kindererziehung zu entwickeln, welche wir heute bei vielen Familien rund um die Welt finden können." (ebd., S. 218)
deMause, L.2005: Das emotionale Leben der Nationen. Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec.
gekürzte Beschreibung:
1a. Früher Infantizidmodus (Schizoide Psychoklasse); Zeit: Tribalismus, Banden und Stämme:
Primitive Elternschaft; sehr wenig Empathie für das Kind; Vater ist grundsätzlich in den ersten Jahren emotional abwesend; offener Inzest; Kindesvergewaltigungen; sehr häufig Kindestötungen; Körperverstümmelungen; Folterungen; emotionale Verstoßung; die Folgen sind zersplitterte Persönlichkeiten, vollkommen unfähig, sich selbst zu lieben; Schizoide können keine engen Beziehungen aushalten und sind folglich nicht in der Lage, höhere Stufen sozialer Organisation, die auf Vertrauen basieren, zu bilden.
1b. Später Infantizidmodus (Narzisstische Psychoklasse); Zeit: Altertum/Antike; von Königtümern bis zu frühen Staaten:
Kindestötungen immer noch häufig, ebenso sind Kindervergewaltigungen weiter Routine; allerdings wird das junge Kind nicht mehr so offen von der Mutter zurückgewiesen und der Vater fängt an, sich mehr mit Anleitungen des älteren Kindes zu beschäftigen; einengende Methoden wie das straffe Einwickeln vom Kleinkind finden Verbreitung, ebenso die Institutionalisierung von Fürsorge in Form von z.B. Ammen, In-Pflege-Geben, Verwendung von Kindern anderer als Sklaven und Diener usw.; das Verprügeln von Kindern ist weniger impulsiv und wird mehr als Disziplinierung verwendet.
2. Verstoßender Modus (Masochistische Psychoklasse); Zeit: Christentum, ab dem 1.Jahrhundert
Ausgehend vom Christentum bringen mehr Eltern ihre Kinder nicht um, sondern verstoßen sie, sowohl emotional als auch durch Weggeben zu Ammen, in Klöster usw.; vom Kind dachte man, es sei voll von Bösen auf die Welt gekommen und so wurde früher und härter geschlagen; vorherrschend war weiterhin eine missbrauchende Kinderfürsorge; jedoch konnten die frühen Christen zum ersten mal in der Geschichte hoffen, von ihren Müttern ein Stück weit geliebt zu werden, wenn sie diesen ihre (masochistischen) Leiden zeigten und deren Mitgefühl erregten.
3. Ambivalenter Modus (Borderline Psychoklasse); Zeit: Mittelalter, ab 12. Jh.:
Die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung von Ambivalenz - Liebe und Hass - gegenüber Kindern ist ein großer Fortschritt in diesem Modus (die ersten Schritte in Richtung Unabhängigkeitsrechte für Kinder); weniger Kinder wurden verstoßen, Gesetze gegen Kindervergewaltigung in Erwägung gezogen, die ersten Kinderschutzgesetze erlassen und die Schulbildung und Kindermedizin erweitert; die meisten Mütter weisen ihre Kinder aber immer noch zurück; das Kind wurde als weniger von Geburt an sündig und böse gesehen; die Verbesserung der Kindererziehung in diesem Modus erlaubte die Entdeckung des Individuums, nach deMause kam der technische und gesellschaftliche Forschschritt dieser Zeit wesentlich durch diese Verbesserungen in Gang.
4. Aufdringlicher Modus (Depressive Psychoklasse); Zeit: Renaissance, ab 16. Jh.: Das straffe Wickeln von Kleinkindern ging zurück, ebenso das Verprügeln und Vergewaltigen; die Wohlhabenden fingen an, ihre Kinder selbst aufzuziehen und erlaubten sich emotionale Bindungen an das Kind; speziell in England (zugleich am fortschrittlichsten entwickelte sich auch die Kindererziehung in Frankreich) wurde versucht, das Wachstum von Kindern nicht mehr zu unterbinden, sondern dieses zu kontrollieren und das Kind gehorsam zu machen; es gab eine aufdringliche Überkontrolle; die Eltern kamen ihren Kindern aber näher und schenkten ihnen mehr Aufmerksamkeit; es gab getrennte Kinderbetten und Lebensweisen; Empathie setzte mit diesem Modus ein, das daraus folgende "Heilen von Dissoziation" und die Zunahme von Individuation brachte nach deMause die religiösen, wissenschaftlichen, politischen und ökonomischen Revolutionen der Zeit hervor; da die Mehrheit der Bevölkerung in Europa allerdings weiterhin aus früheren Psychoklassen bestand, antworteten diese mit Gewalt auf den großen gesellschaftlichen Fortschritt. "Historiker waren lange verwundert darüber, dass in den fortschrittlichsten Jahrhunderten eine Epidemie der Hexerei ausbrach, wenn man aber die Manie als Reaktion auf Wachstumspanik betrachtet, wird dies nachvollziehbar." (deMause, 2005, S. 299)
5. Sozialisierender Modus (Neurotische Psychoklasse); Zeit: Moderne, ab 18.Jh.:
Die Kinderzahl sank bei den meisten Eltern auf auf drei oder vier, weil die Eltern mehr in der Lage sein wollten, ihren Kindern mehr Pflege zuteil werden zu lassen; die elterliche Absicht war weiterhin, den Kindern ihre eigenen Ziele aufzudrücken, insbesondere geschah dies durch psychologische Manipulation und weiterhin auch durch körperliche Gewalt gegen kleine Kinder; das sozialisierte Kind besaß wesentlich mehr Freiheit und Respekt als das in jedem vorausgegangenen Modus; Mütter fingen an, die Fürsorge für die Kinder zu genießen und selbst die Väter begannen, mit den Kindern zu spielen und brachten ihnen Dinge bei; "Der sozialisierende Modus hat die moderne industrialisierte Welt geschaffen und ihre neuen Werte des Nationalismus und der Demokratie repräsentieren die sozialen Modelle der meisten Menschen heute, weil das Ende des Kinderprügelns der sozialisierten Persönlichkeit erlaubt, ihrem Bedarf, sich an einen autoritären Führer zu klammern, zu reduzieren." (deMause, 2005, S. 187)
6. Helfender Modus (Individualisierte Psychoklasse); Zeit: Postmoderne, ab 20. Jh.: Die hauptsächliche Rolle der Eltern besteht in der Hilfestellung für das Kind in jeder Altersstufe, was viel Aufwand, Zeit und Energie bedeutet; das erste mal sind Kinder für die Eltern keine schwierige Aufgabe mehr, sondern eine Freude; sowohl Mutter als auch Vater sind vom Säuglingsalter an gleichwertig mit dem Kind befasst und helfen diesem, eine autonome, selbstbestimmte Person zu werden; die Kinder werden bedingungslos geliebt und werden nicht geschlagen; wenn Eltern unter Stress Fehler begehen und ihre Kinder z.B. anbrüllen, entschuldigen sie sich danach bei ihnen; diese so behandelten Kinder sind wesentlich empathischer gegenüber anderen Menschen in der Gesellschaft als frühere Generationen; "Es ist keine Frage, dass, würde die Welt Kinder nach dem helfenden Modus großziehen, Kriege und alle anderen selbstdestruktiven sozialen Bedingungen, unter denen wir im 21.Jahrhundert immer noch leiden, getilgt sein würden, weil die Welt einfach mit individualisierten Persönlichkeiten gefüllt sein würde, die empathisch gegenüber anderen und nicht selbstdestruktiv wären." (ebd., S. 305)
Diese vorgestellten Kindererziehungsmodi sind laut deMause durch fünf historische Studien und über 100 wissenschaftliche Artikel im Journal of Psychohistory bestätigt worden. (Wie ich in einem Text hier herausgestellt habe, könnte zur Unterstützung dieser Thesen auch die bedeutende Studie von Philippe Aries herangezogen werden, die leider oftmals als gegensätzlich zu deMause dargestellt wird) Heute existieren auch in modernen Nationen Eltern aus allen sechs Kindererziehungsmodi nebeneinander, was gewaltige Konflikte ergeben kann. Die meisten destruktiven Konflikte auf der Welt sind demnach im Grunde "Psychoklassenkonflikte".
Eine Tabelle unter wikipedia.org zeigt die Verteilung der "Psychoklassen" (Tabelle entnommen aus http://en.wikipedia.org/wiki/Psychohistory, ursprüngliche Quelle: DeMause, L. 1982: Foundations of Psychohistory. Creative Roots Publishing. S. 61 + 132–146. (Persönlicher Hinweis: Da diese Tabelle Anfang der 80er Jahre von deMause erstellt wurde, dürfte sich die Verteilung im letzten Abschnitt mittlerweile etwas verändert haben. Schließlich hat sich innerhalb der letzten 30 Jahre enorm viel zu Gunsten von Kindern entwickelt.)
Die Evolution von Psyche und Gesellschaft - folgend dem o.g. idealtypischen Muster - ging laut der psychogenen Theorie in der Geschichte hauptsächlich von sich veränderten Kindererziehungspraktiken aus. Die Vaterrolle ist dabei historisch betrachtet eine sehr späte Erfindung (der Moderne). Frauen (Großmütter, Tanten, Ammen, Dienerinnen usw.) bzw. Mütter waren hauptsächlich für die Kindererziehung verantwortlich. Demnach postuliert nur diese Theorie, dass für den größten Teil der Geschichte Frauen die wesentliche Ursache historischer Veränderungen und von sozialem Forschritt sind. (ebd. S. 177, S. 218) "Was wie ein Wunder scheint, (...) ist, dass Mütter über die gesamte Geschichte hindurch langsam und erfolgreich, ohne große Hilfe von anderen, gegen ihre Angst und ihren Hass ankämpften und es ihnen gelungen ist, die liebende und empathische Kindererziehung zu entwickeln, welche wir heute bei vielen Familien rund um die Welt finden können." (ebd., S. 218)
deMause, L.2005: Das emotionale Leben der Nationen. Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec.
Dienstag, 9. Dezember 2008
Astrid Lindgrens Position: "Niemals Gewalt"
Per Zufall fand ich einen Artikel in der Berliner Zeitung, in dem Astrid Lindgrens Position zu dem hier im Blog behandelten Thema kurz beschrieben wird.
"Im Jahre 1978 erhielt Astrid Lindgren den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Ihre Rede sorgte schon vor der Verleihung für einen Eklat, weil die Verantwortlichen nach der Lektüre des Manuskripts sagten, sie solle den Preis "kurz und gut" ohne Rede entgegennehmen. Astrid Lindgren ließ sich darauf nicht ein, drohte mit Verzicht und durfte doch noch in Frankfurt am Main sprechen. In einer Zeit, da die Diskussion um neue Waffensysteme die Öffentlichkeit beherrschte und das Wettrüsten nicht zu stoppen schien, stellte sie ihre Rede unter die Überschrift "Niemals Gewalt" "
Auszug aus dem Artikel "Kinder an die Macht" erschienen in der Berliner Zeitung vom 29.02.2002
Die komplette Rede fand ich bei der ZEIT veröffentlicht am 13.11.2007 hier . Die für mich wichtigsten Auszüge habe ich nachfolgend zusammengestellt:
"(...) Ich glaube, wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den Kindern. Sie, meine Freunde, haben Ihren Friedenspreis einer Kinderbuchautorin verliehen, und da werden Sie kaum weite politische Ausblicke oder Vorschläge zur Lösung internationaler Probleme erwarten. Ich möchte zu Ihnen über die Kinder sprechen. Über meine Sorge um sie und meine Hoffnungen für sie. Die jetzt Kinder sind, werden ja einst die Geschäfte unserer Welt übernehmen, sofern dann noch etwas von ihr übrig ist. Sie sind es, die über Krieg und Frieden bestimmen werden und darüber, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen. In einer, wo die Gewalt nur ständig weiterwächst, oder in einer, wo die Menschen in Frieden und Eintracht miteinander leben wollen. Gibt es auch nur die geringste Hoffnung darauf, dass die heutigen Kinder dereinst eine friedlichere Welt aufbauen werden, als wir es vermocht haben? Und warum ist uns dies trotz allen guten Willens so schlecht gelungen? (...)
In keinem neugeborenen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun. "Überall lernt man nur von dem, den man liebt", hat Goethe einmal gesagt, und dann muss es wohl wahr sein. Ein Kind, das von seinen Eltern liebevoll behandelt wird und das seine Eltern liebt, gewinnt dadurch ein liebevolles Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt diese Grundeinstellung sein Leben lang. Und das ist auch dann gut, wenn das Kind später nicht zu denen gehört, die das Schicksal der Welt lenken.
Sollte das Kind aber wider Erwarten eines Tages doch zu diesen Mächtigen gehören, dann ist es für uns alle ein Glück, wenn seine Grundhaltung durch Liebe geprägt worden ist und nicht durch Gewalt. Auch künftige Staatsmänner und Politiker werden zu Charakteren geformt, noch bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben - das ist erschreckend, aber es ist wahr. Blicken wir nun einmal zurück auf die Methoden der Kindererziehung früherer Zeiten. Ging es dabei nicht allzu häufig darum, den Willen des Kindes mit Gewalt, sei sie physischer oder psychischer Art, zu brechen? Wie viele Kinder haben ihren ersten Unterricht in Gewalt "von denen, die man liebt", nämlich von den eigenen Eltern erhalten und dieses Wissen dann der nächsten Generation weitergegeben!
Und so ging es fort. "Wer die Rute schont, verdirbt den Knaben", heißt es schon im Alten Testament, und daran haben durch die Jahrhunderte viele Väter und Mütter geglaubt. Sie haben fleißig die Rute geschwungen und das Liebe genannt. Wie aber war denn nun die Kindheit aller dieser wirklich "verdorbenen Knaben", von denen es zurzeit so viele auf der Welt gibt, dieser Diktatoren, Tyrannen und Unterdrücker, dieser Menschenschinder? Dem sollte man einmal nachgehen. Ich bin überzeugt davon, dass wir bei den meisten von ihnen auf einen tyrannischen Erzieher stoßen würden, der mit einer Rute hinter ihnen stand, ob sie nun aus Holz war oder im Demütigen, Kränken, Bloßstellen, Angstmachen bestand. In den vielen von Hass geprägten Kindheitsschilderungen der Literatur wimmelt es von solchen häuslichen Tyrannen, die ihre Kinder durch Furcht und Schrecken zu Gehorsam und Unterwerfung gezwungen und dadurch für das Leben mehr oder weniger verdorben haben. (...)"
Das ein Mensch wie Astrid Lindgren so deutlich fühlt, wo die tieferen Ursachen für die Destruktivität in der Welt zu suchen sind, verwundert eigentlich kaum. Mich persönlich hat das Lesen dieser Rede aus dem Jahr 1978 nochmal sehr motiviert bzw. mir helfen solche Aussagen von Menschen, die bei klarem Versatnd und vor allem bei gesundem Gefühl sind in meiner eigenen Wahrnehmung. Manches mal komme ich mir doch wie ein Spinner vor, der nur übertreibt. Zu oft stößt man an die Grenzen dessen, was die Welt bereit ist wahrzunehmen.
"Im Jahre 1978 erhielt Astrid Lindgren den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Ihre Rede sorgte schon vor der Verleihung für einen Eklat, weil die Verantwortlichen nach der Lektüre des Manuskripts sagten, sie solle den Preis "kurz und gut" ohne Rede entgegennehmen. Astrid Lindgren ließ sich darauf nicht ein, drohte mit Verzicht und durfte doch noch in Frankfurt am Main sprechen. In einer Zeit, da die Diskussion um neue Waffensysteme die Öffentlichkeit beherrschte und das Wettrüsten nicht zu stoppen schien, stellte sie ihre Rede unter die Überschrift "Niemals Gewalt" "
Auszug aus dem Artikel "Kinder an die Macht" erschienen in der Berliner Zeitung vom 29.02.2002
Die komplette Rede fand ich bei der ZEIT veröffentlicht am 13.11.2007 hier . Die für mich wichtigsten Auszüge habe ich nachfolgend zusammengestellt:
"(...) Ich glaube, wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den Kindern. Sie, meine Freunde, haben Ihren Friedenspreis einer Kinderbuchautorin verliehen, und da werden Sie kaum weite politische Ausblicke oder Vorschläge zur Lösung internationaler Probleme erwarten. Ich möchte zu Ihnen über die Kinder sprechen. Über meine Sorge um sie und meine Hoffnungen für sie. Die jetzt Kinder sind, werden ja einst die Geschäfte unserer Welt übernehmen, sofern dann noch etwas von ihr übrig ist. Sie sind es, die über Krieg und Frieden bestimmen werden und darüber, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen. In einer, wo die Gewalt nur ständig weiterwächst, oder in einer, wo die Menschen in Frieden und Eintracht miteinander leben wollen. Gibt es auch nur die geringste Hoffnung darauf, dass die heutigen Kinder dereinst eine friedlichere Welt aufbauen werden, als wir es vermocht haben? Und warum ist uns dies trotz allen guten Willens so schlecht gelungen? (...)
In keinem neugeborenen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun. "Überall lernt man nur von dem, den man liebt", hat Goethe einmal gesagt, und dann muss es wohl wahr sein. Ein Kind, das von seinen Eltern liebevoll behandelt wird und das seine Eltern liebt, gewinnt dadurch ein liebevolles Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt diese Grundeinstellung sein Leben lang. Und das ist auch dann gut, wenn das Kind später nicht zu denen gehört, die das Schicksal der Welt lenken.
Sollte das Kind aber wider Erwarten eines Tages doch zu diesen Mächtigen gehören, dann ist es für uns alle ein Glück, wenn seine Grundhaltung durch Liebe geprägt worden ist und nicht durch Gewalt. Auch künftige Staatsmänner und Politiker werden zu Charakteren geformt, noch bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben - das ist erschreckend, aber es ist wahr. Blicken wir nun einmal zurück auf die Methoden der Kindererziehung früherer Zeiten. Ging es dabei nicht allzu häufig darum, den Willen des Kindes mit Gewalt, sei sie physischer oder psychischer Art, zu brechen? Wie viele Kinder haben ihren ersten Unterricht in Gewalt "von denen, die man liebt", nämlich von den eigenen Eltern erhalten und dieses Wissen dann der nächsten Generation weitergegeben!
Und so ging es fort. "Wer die Rute schont, verdirbt den Knaben", heißt es schon im Alten Testament, und daran haben durch die Jahrhunderte viele Väter und Mütter geglaubt. Sie haben fleißig die Rute geschwungen und das Liebe genannt. Wie aber war denn nun die Kindheit aller dieser wirklich "verdorbenen Knaben", von denen es zurzeit so viele auf der Welt gibt, dieser Diktatoren, Tyrannen und Unterdrücker, dieser Menschenschinder? Dem sollte man einmal nachgehen. Ich bin überzeugt davon, dass wir bei den meisten von ihnen auf einen tyrannischen Erzieher stoßen würden, der mit einer Rute hinter ihnen stand, ob sie nun aus Holz war oder im Demütigen, Kränken, Bloßstellen, Angstmachen bestand. In den vielen von Hass geprägten Kindheitsschilderungen der Literatur wimmelt es von solchen häuslichen Tyrannen, die ihre Kinder durch Furcht und Schrecken zu Gehorsam und Unterwerfung gezwungen und dadurch für das Leben mehr oder weniger verdorben haben. (...)"
Das ein Mensch wie Astrid Lindgren so deutlich fühlt, wo die tieferen Ursachen für die Destruktivität in der Welt zu suchen sind, verwundert eigentlich kaum. Mich persönlich hat das Lesen dieser Rede aus dem Jahr 1978 nochmal sehr motiviert bzw. mir helfen solche Aussagen von Menschen, die bei klarem Versatnd und vor allem bei gesundem Gefühl sind in meiner eigenen Wahrnehmung. Manches mal komme ich mir doch wie ein Spinner vor, der nur übertreibt. Zu oft stößt man an die Grenzen dessen, was die Welt bereit ist wahrzunehmen.
Samstag, 6. Dezember 2008
Geschichte der Kindheit
Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Philippe Aries und Lloyd deMause
Psychohistorie und klassische Geschichtsforschung sind auf den ersten Blick oftmals gegensätzlich. Hornstein & Thole (2005) schreiben beispielsweise:
„Kinder sind in die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse einbezogen und insofern in einem dezidierten Sinn des Wortes Kinder ihrer jeweiligen Zeit. Darauf hat die neuerdings sehr stark sich entwickelnde sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung mit aufmerksam gemacht. Insbesondere historische Forschungen aus den letzten 30 Jahren (Aries 1978; de Mause 1977; Shorter 1977; Elias 1977; Honig 2002) haben gezeigt, wie sich die Lebenssituation der Kinder mit dem Beginn der Neuzeit drastisch veränderte. In den sozialgeschichtlichen Rekonstruktionen und in den theoretischen Diskussionen zur Entstehung der Kindheit offenbaren sich jedoch auch die Ambivalenzen dieser geschichtlichen Entwicklung, insbesondere in den beiden zentralen Untersuchungen zur Geschichte der Kindheit (Aries 1978; De Mause 1977).“ (Hornstein & Thole, 2005, S. 530)
Die Untersuchungen von Aries zur „Geschichte der Kindheit“ und deMause mit seinem Buch „Hört ihr die Kinder weinen? Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit“ sind erstens die bedeutsamsten, wenn es um die Geschichte der Kindheit geht und zweitens werden beide häufig als gegensätzlich dargestellt. DeMause stellt historisch eine stetige Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung fest, was aus seiner Sicht (positive) gesellschaftliche Entwicklungsprozesse erst ermöglichte. Aries betrachtet die Entwicklung kritischer und hat ein sehr verträumtes Bild von der mittelalterlichen Gesellschaft (mit ihrem Gemeinschaftssinn), in der jeder mit jedem kommunizierte, jeder seinen Platz hatte, die Kinder eingebunden waren in die Erwachsenenwelt und nicht – wie seit Beginn der Neuzeit - aus dieser „herausgerissen“, in „ihrer Freiheit beschränkt“ und (durch Schule und Elternhaus) „streng diszipliniert“ wurden. Dem physische und psychische Wohlbefinden des Kindes im Mittelalter schenkt er - entgegen deMause - dabei kaum Beachtung und tendiert eher dazu, die aus seiner Sicht positiven Seiten dieser Zeit zu beleuchten. Diese unterschiedliche Betrachtungsweise nehme ich zum Anlass, da mal genauer hinzuschauen und Kernthesen aus beiden Arbeiten vorzustellen.
Hornstein & Thole meinen, dass Prozesse der Modernisierung, die Entstehung einer bürgerlichen, auf Kapitalakkumulation angelegten Gesellschaftsformation, im Hintergrund entscheidend Prozesse der sich veränderten Kinderwelt beeinflussten. „Erst hierüber konnte sich eine eigene Kinderwelt herausbilden, die sich in allem und grundlegend von derjenigen der Erwachsenen unterscheidet.“ (Hornstein & Thole, 2005, S. 531) Dass Veränderungen innerhalb von Familie und Erziehung so zusagen „von Oben kommen“, also durch gesellschaftliche Prozesse (insbesondere auch ökonomische) wesentlich beeinflusst werden, ist die übliche Darstellung. Natürlich ist diese Aussage im Kern nicht falsch, natürlich beeinflusst eine Gesellschaft und ihre Weltbilder ihre Mitglieder bis in den privatesten Bereich. Natürlich trägt auch „das Oben“ zu der Entwicklung von Kindern etwas bei, man denke z.B. an entsprechende Kinderschutz- und Förderungsgesetze bis hin zur gesetzlichen Möglichkeit, Kinder aus sehr problematischen Familien herauszunehmen, um sie besser und beschützt unterzubringen.
DeMause macht in seinen Arbeiten allerdings deutlich, wie eine erhebliche Veränderung von Kindererziehung stets erhebliche Veränderungen für die Gesellschaft (inkl. Ökonomie, Politik und symbolischer Ordnung) mit sich brachte und bringt. (siehe oben genannte Untersuchung und auch deMause, 2005) Die veränderte Gesellschaft wirkt dann natürlich wiederum rück auf die Kinder, aber am Anfang war die Erziehung (die Entstehung neuer „Psychoklassen“, um im Wortlaut von deMause zu schreiben) der Stein, der alles zum Rollen brachte, so seine Kernthese. Das spannende ist dabei, dass Aries, wenn man genau hinschaut, gar nicht soweit entfernt von deMause ist und man ersteren gut dafür nutzen kann, die Thesen von deMause zu stützen. Dazu weiter unten mehr.
Schauen wir uns also zunächst die Untersuchung von Aries an: Nach Aries waren die Kinder im Mittelalter und am Anfang der Neuzeit – in den ärmeren Schichten auch noch länger bis ins 19.Jahhundert – mit den Erwachsenen vermischt, sobald man ihnen zutraute, dass sie ohne Hilfe der Mutter oder der Amme auskommen konnte, d.h. in der Regel im Alter von etwa 5-7 Jahren. In diesem Augenblick traten die Kinder übergangslos in die Welt der Erwachsenen ein und sie wurden routinemäßig zu Fremden in die Lehre geschickt. Die mittelalterliche Zivilisation hatte laut Aries keine Vorstellung von so etwas wie „Erziehung“ (außer der Lehre), weil es aus ihrer Sicht überhaupt gar kein Problem oder einen Anlass dazu gab. Ebenso gab es kein bewusstes Verhältnis zu so etwas wie „Familie“ und „Kindheit“. (Diese Sicht wird von deMause kritisch beurteilt. Er verweist auf künstlerische Darstellungen von wirklichkeitsgetreuen Kindern im Mittelalter und auf die Antike, die ein Bild von "Kindheit" und "Erziehung" hatte. (deMause, 2000, S. 23ff) )
„Immerhin konnte das Kind in den allerersten Jahren, wenn es noch ein kleines drolliges Ding war, auf eine oberflächliche Gefühlszuwendung rechnen, die ich „Gehätschel“ genannt habe. Man vergnügte sich mit ihm wie mit einem Tier, einem ungesitteten Äffchen. Wenn es dann starb, wie es häufig vorkam, mochte dies den ein oder anderen berühren, doch in der Regel machte man davon nicht allzu viel Aufhebens: ein anderes Kind würde sehr bald seine Stelle einnehmen. Aus einer gewissen Anonymität gelangte es nie heraus.“ (Aries,1981, S. 46) Die mittelalterliche Familie hatte keine affektive Funktion, so Aries weiter. Gefühle zwischen Ehegatten und zwischen Eltern und Kindern waren keine unabdingbare Voraussetzung für die Existenz und für das Gleichgewicht der Lebensgemeinschaft. Für gefühlsmäßige Bindungen und soziale Kontakte war außerhalb der Familie gesorgt.
„Das große Ereignis zu Beginn der modernen Zeit war (...) die Renaissance des erzieherischen Interesses. Dies Interesse beseelte eine bestimmte Zahl von Männern der Kirche, des Gesetzes und der Wissenschaft, die im 15.Jahrhundert noch sehr vereinzelt, im 16. und 17. Jahrhundert (..) dann jedoch immer zahlreicher und einflussreicher wurden.“ (Aries, S. 560) Diese Rückkehr der Kinder in den Schoß der (Kern-)Familie verleiht der Familie des 17. Jahrhunderts im wesentlichen den Charakter, der es von der mittelalterlichen Familie unterschied. Das Kind wird zu einem unabdingbaren Bestandteil des Alltagslebens, man beschäftigt sich bevorzugt mit seiner Erziehung, seiner Unterbringung, seiner Zukunft. (vgl. ebd., S.554) Im 18. Jahrhundert kam dann noch das Bemühen um Hygiene und körperlicher Gesundheit dazu. (ebd., S . 217)
Die Familie begann, sich um das Kind herum zu organisieren, so dass es aus seiner einstigen Anonymität herausgerissen wurde. „Man konnte es nicht mehr ohne großen Schmerz verlieren oder ersetzen, den Vorgang der Kinderaufzucht nicht mehr allzu oft wiederholen, und es empfiehlt sich, die Anzahl der Kinder zu beschränken, damit man sich ihnen besser widmen kann.“ (ebd., S. 48) Diese Revolution auf dem Gebiet der schulischen Erziehung und gefühlsmäßigen Einstellung brachte auf lange Sicht eine freiwillige Geburtenbeschränkung mit sich.
Man stellte damals auch fest, dass das Kind für das Leben nicht reif sei, dass man es „einer speziellen Einflussnahme“ unterwerfen müsse, eh man es in die Welt der Erwachsenen entlässt. „Dieses neue Interesse an der Erziehung wird die Gesellschaft allmählich prägen, sie von Grund auf verwandeln. Die Familie hört auf, lediglich eine privatrechtliche Institution zum Zweck der Weitergabe von Eigentum und Namen zu sein, sie bekommt eine moralische und geistige Funktion, formt den Körper und die Seele. Zwischen der physischen Erzeugung und der rechtlichen Institution bestand eine Kluft, die fortan die Erziehung ausfüllen wird. Die Fürsorge für das Kind weckt neue Empfindungen, schafft eine neue Affektivität, die die Ikonographie des 17. Jahrhunderts mit ebensoviel Nachdruck wie Geschick zum Ausdruck gebracht hat: den modernen Familiensinn. Die Eltern begnügen sich nicht mehr damit, Kinder in die Welt zu setzen, einigen von ihnen eine Aussteuer zu geben und den anderen keine Beachtung zu schenken. Die Moral der Zeit verlangt von ihnen, dass sie sämtlichen Kindern, am Ende des 17. Jahrhundert sogar den Mädchen, und nicht nur den Ältesten das Rüstzeug fürs Leben verschaffen. Man ist sich darüber einig, dass dies nur durch die Schulbildung geschehen kann. Die Schule nimmt nun die Stelle der traditionellen Lehre ein, und zwar eine zum Instrument einer strengen Disziplin umgeformten Schule (....). Der außerordentliche Aufschwung der Schule im 17.Jahrhundert ist eine Konsequenz dieses neuen Interesses der Eltern an der Kindererziehung. (...)“ (ebd., S. 561)
Die Ablösung des Lehrverhältnisses durch die Schule drückt in gleichem Maße eine Annäherung zwischen Familie und den Kindern, zwischen Familiensinn und Sinn für die Kindheit aus, die einst getrennt waren. Aries spricht dabei von einer tiefgreifenden und langsam vonstatten gehender (gesellschaftlichen) Umwälzung. (vgl. ebd., S, 509)
Und weiter schreibt er: „Die Familie und die Schule haben das Kind mit vereinten Kräften aus der Gesellschaft der Erwachsenen herausgerissen. Die moderne Familie hat dem Gemeinschaftsleben nicht nur die Kinder, sondern auch einen großen Teil der Zeit und des Interesses der Erwachsenen entzogen. Sie entspricht dem Bedürfnis nach Intimität und nach Identität: die Familienmitglieder sind gefühlsmäßig wie durch Gewöhnung und Lebensweise miteinander verbunden. Das ständige Zusammensein mit Freunden, das die alte Sozialität verlangt hatte, widerstrebt ihnen.“ (ebd., S. 562)
Die (insbesondere bürgerliche) Familie mit ihrem Bedürfnis nach Intimität und einer eigenen Wohnung brachte auch eine Teilung der Gesellschaft in homogene Milieus mit sich, die als Gegenmodell zur alten „polymorphen Gesellschaft“ (den Sippen- und Stammesverbänden) standen. Vorher gab es keine Trennung von Wohnung, Lehre/Arbeitsplatz, „Freizeitbereich“ und auch politischem Leben. Und vorher – im kollektiven Leben - gab es auch eine gewisse Annäherung der unterschiedlichen Stände, die nun immer mehr wegfiel.
„Der Drang zur Intimität und die neuen Bedürfnisse nach Komfort, die dadurch geweckt wurden (denn zwischen Komfort und Intimität besteht eine enge Beziehung) verschärften zusätzlich den Gegensatz zwischen materiellen Lebensbedingungen des Volkes und des Bürgertums. (ebd., S. 564) (Anmerkung: Und schaffte somit neue Klassenunterschiede) Die Pflege traditioneller gesellschaftlicher Beziehungen, der unablässige Kontakt mit der Gesellschaft verloren immer mehr an Bedeutung. „Ein tiefgreifender Wandel sprengt nun die alten Beziehungen zwischen Herr und Diener, Groß und Klein, Freunden und Kunden. (...) Die Geschichte unserer Sitten reduziert sich teilweise auf diese langanhaltende Anstrengung sich von den anderen zu trennen, sich von einer Gesellschaft abzusondern, deren Druck man nicht mehr ertragen will. (...) Beruf und Familienleben haben jene andere Aktivität erstickt, die einst das gesamte Leben durchdrungen hatte, die Pflege gesellschaftlicher Beziehungen. Man ist versucht, den Schluss zu ziehen, dass Familiensinn und Sozialität nicht vereinbar waren und eines sich jeweils nur auf Kosten des anderen entwickeln konnte.“ (ebd., S. 558)
Die neue Moral oder auch der Sittenwandel gegenüber dem Kind brachte – zumindest in höhern Gesellschaftsschichten – ab dem 17. Jahrhundert auch mit sich, dass die „sexuellen Freiheiten“ (also den sexuellen Missbrauch, diesen Begriffe nutzt Aries nicht ein einziges mal), die man sich gegenüber Kindern erlaubt hatte, Stück für Stück nicht länger geduldet wurden. Die Trennung der Kinder von der Erwachsenenwelt bedeutete auch einen Schutz. (vgl. ebd., S. 187 + 196)
Ab dem 18. und vor allem 19. Jahrhundert hatte sich das neue Familieleben auf nahezu die ganze Gesellschaft ausgedehnt, so dass man schließlich seinen aristokratischen und bürgerlichen Ursprung vergessen hatte.(ebd., S. 555)
Diese von mir oben ausgewählten Zitate und Informationen könnten theoretisch (mit einer etwas anderen Wortwahl und Deutung) auch von einem Psychohistoriker wie Lloyd deMause stammen. Hier sind wesentliche Punkte benannt und angerissen, die psychohistorische Thesen unterstützen: Die stetige Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung und der Anstoß dieses Prozesses zunächst durch einige wenige Männer der Kirche, des Gesetzes und der Wissenschaft, die neue Erziehungsideale verbreiteten (deMause würde in etwa schreiben: Durch neue Variationen in der Kindererziehung, seien vereinzelt neue Psychoklassen entstanden, die den gesellschaftlichen Fortschritt vorantrieben.). Aries spricht bzgl. der gesellschaftlichen Wirkung dieses Prozesses von einem „große Ereignis“, einer „Revolution“ und einem „bemerkenswerten Wandel“, führt dies aber nicht in weitere Richtungen aus (außer im Rahmen der oben genannten Stichworte)
In einem Vorwort zur deutschen Ausgabe von der „Geschichte der Kindheit“ schreibt Hartmut von Hentig, dass sich zwischen Mittelalter und 19. Jahrhundert vor allem der Geltungsbereich von „Familie“ geändert habe: „(...) sie hat Funktionen an Armenhäuser, Spitäler für Alte und Kranke, Schulen, Banken, Versicherungen abgegeben und wurde schon dadurch kleiner, Aries versäumt es, Familie und Schule in einen weiteren sozialen und ökonomischen Kontext zu stellen.“ (ebd., S. 30) Die logische Folge von Aries Buch ist also, die sozialen, ökonomischen und auch politischen Veränderungen der Zeit in Zusammenhang mit dem „großen Ereignis“ der Entdeckung der Kindheit zu bringen. Von Hentigs Bemerkung macht beispielhaft klar, wohin die gedankliche Reise gehen könnte: Das ganze System änderte sich offensichtlich dadurch, dass – ausgehend von dem neuen Familiensinn - Individuen entstanden, dass „neue Bedürfnisse nach Komfort“ geweckt wurden (siehe oben kurz erwähnt), dass Wohnraum und auch Arbeit anders organisiert werden musste (denn beides musste nun getrennt werden), dass kollektive Aufgaben der Gemeinschaftsfamilien und Verbände nun auch außerhalb dieser erfüllt werden konnten, was folglich berufliche Spezialisierungen mit sich bringt usw.
Mir kommt auch in den Sinn, dass die langsame Auflösung einer kollektiven Gesellschaft, in der jeder seinen „natürlichen Platz“ hatte, erstens ein hohes Konflikt- und Krisenpotential inne hatte (und damit immer auch Kriegsgefahr bestand) und zweitens diese Individualisierung (ausgehend von der Kindererziehung) überhaupt erst die gedankliche Möglichkeit von einer neuen Gesellschaftsordnung zuließ: Wenn ich ein stückweit ein eigener Mensch sein darf, wenn Papa dort arbeitet, hier wohnt, und da seine Freizeit verbringt, wenn Lebenssphären getrennt werden, dann ist womöglich auch die kollektive Ordnung keine natürliche, Herr und Knecht, Oben und Unten usw., all dies wird anzweifelbar und veränderlich. Es wäre sicher interessant, wenn man z.B. die Französische Revolution (1789 bis 1799) – gerade Aries Buch bezieht sich viel auf Frankreich - in ihrer Entstehung und Entwicklung (mit dem zentralen Fokus auf die Entstehung der "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" im Jahr 1789) zusammen mit der Entwicklung des neuen Familiensinns und neuer Kindererziehungspraktiken untersuchen würde (dabei müssten vor allem gezielt die familiären Hintergründe – sprich Gemeinschaftsfamilie oder modernere Familie – der entscheidungstragenden und dominierenden Akteure untersucht werden). Natürlich wäre es auch sehr interessant, gesellschaftliche Entwicklungen insbesondere im 19. Jahrhundert im Sinne dieser Zusammenhänge zu untersuchen, da sich in diesem Jahrhundert der „Familiensinn“ auf nahezu die gesamte Gesellschaft ausdehnte.
Im letzten Absatz seines Buches schreibt Aries bzgl. der Wirkung des genannten Wandels: „Der Familiensinn, das Klassenbewusstsein, anderswo vielleicht auch das Rassenbewusstsein, scheinen verschiedene Äußerungsformen derselben Intoleranz gegenüber der Vielfalt und desselben Strebens nach Uniformität zu sein.“ (ebd., S. 564) Ich teile diese kritische Einschätzung nicht, denn die Welt ist durch die Individualisierungsprozesse komplexer und vielfältiger geworden, wie ich meine. Sein Schlusswort zeigt trotzdem eine interessante Richtung auf, die das Buch anregt. In wie weit wurde so etwas wie ein (neues) Klassenbewusstsein erst durch den neuen Familiensinn geschaffen? Vorher gab es das Kollektiv mit seinen Standesunterschieden. Trotzdem gehörte man „natürlich“ zusammen. Jetzt entwickelten sich neue Milieus usw. mit neuen Gegensätzen. Ja, die Bearbeitung des Themas „Geschichte des Kindes“ ist letztendlich immer noch in den Kinderschuhen, insbesondere bzgl. der gesellschaftlichen Wirkungsweise. .
Warum wird Aries nun trotz dieser offensichtlichen möglichen Folgerungen und möglicher Unterstützung psychohistorischer Thesen trotzdem häufig als gegensätzlich zu deMause betrachtet? Ganz einfach: Aries deutet gleiche historische Beobachtungen anders!
Die Ausweitung des privaten Bereiches bzw. die Individualisierung kam wesentlich durch das neue Interesse am Kind und einem neuen Familiensinn in Bewegung, wie oben beschrieben. Diesen Individualisierungsprozessen steht Aries grundsätzlich kritisch gegenüber. Diese sind für ihn kein Fortschritt und kein Weg zu mehr sozialem Gemeinsinn. Beispielsweise spricht er von „einer Art Quarantäne“, „einem Prozess der Einsperrung der Kinder (wie der Irren, der Armen und der Prostituierten), der bis in unsere Tage nicht zum Stilstand kommen sollte und den man als „Verschulung“ bezeichnen könnte.“ (ebd., S. 48) Die mittelalterliche Familie hätte in einem „dichteren und wärmeren sozialen Raum“ (ebd., S. 49), einem „Maximum von Lebensformen in einem Minimum von Raum“ gelebt. (ebd., S. 564). Bei ihm schwingt immer ein Stück weit Sehnsucht nach dem altem Gemeinschaftssinn mit, der – aus seiner Sicht - in moderneren Tagen verloren gegangen zu sein scheint.
Aries beschäftigt sich viel mit der damaligen Kleidung, den Kinderspielen, der Schule, der Einstellung zur Kindheit. Insbesondere letzteres ist sein großer Verdienst. Außen vor bleiben bei ihm weitgehend die Schattenseiten des Mittelalters, die routinemäßige Misshandlung und Vernachlässigung, der Missbrauch, die Kindestötung usw., die nur hier und da kurz und ohne großen Kommentar Erwähnung finden, während diese gerade bei den Psychohistorikern eine zentrale Rolle spielen und bzgl. gesellschaftlicher Entwicklungen weiterverarbeitet und gedeutet werden .
An einer speziellen Stelle des Buches fiel mir auch auf, wie wenig sich Aries in das Gefühlsleben von missbrauchten Kindern einfühlen konnte bzw. diese Erfahrungen einfach ganz anders deutete. Die ersten Lebensjahre von Ludwig XIII. waren von einer Fülle sexueller Übergriffe und Grenzüberschreitungen (Aries benutzt hier andere Wörter, im Sinne der damaligen Zeit) begleitet, die Aries ausführlich schildert. (vgl. ebd., S.175ff) Dann schreibt er: “(...) es fällt einem nicht schwer, sich vorzustellen, was der moderne Psychoanalytiker dazu sagen würde! Doch hätte dieser Psychoanalytiker unrecht. Die Einstellung zur Sexualität und zweifellos auch die Sexualität selbst ist von Milieu zu Milieu und insbesondere auch von Epoche zu Epoche und von Mentalität zu Mentalität verschieden. Heute scheinen uns Berührungen, wie Heroard sie beschrieben hat, hart an sexuelle Anomalie zu grenzen, und niemand würde sie öffentlich wagen. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts sah das noch anders aus. (...)“ (ebd., S.179) Dass auch damals sexueller Missbrauch für Kinder schwerwiegende Folgen hatte und sexuelle Gewalt nichts mit Sexualität zu tun hat, blendet er hier vollkommen aus. Es offenbart sich hier auch ein Grundproblem bei Aries: Er schreibt stets im Sinne und aus Sicht der historischen Zeit. Auch dadurch wurde sein Buch sicher zum Gegenpol zu deMause erklärt.
An einer anderen Stelle schreibt Aries: Die Familie und die Schule hat dem Kind „(...) die Zuchtrute, das Gefängnis, all die Strafen beschert, die den Verurteilten der niedrigsten Stände vorbehalten waren. Doch verrät diese Härte, dass wir es nicht mehr mit der ehemaligen Gleichgültigkeit zu tun haben: wir können vielmehr auf eine besitzergreifende Liebe schließen, die die Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert beherrschen sollte.“ (ebd., S. 562) Wenn Kindesmisshandlung mit Liebe in Verbindung gebracht wird, schlagen bei mir immer die Alarmglocken. Wenn ein Aries solche Verbindungen (wenn auch beiläufig) herstellt, wird auch deutlich, dass er für das Leid der (mittelalterlichen) Kinder nicht wirklich offen sein konnte. Er schildert die harte (neue) Disziplin gegen die Kinder zwar an manchen Stellen, ja ist diese gerade die Grundlage dafür, dass er von einer Verschlechterung der Situation für Kinder ausgeht (Nebenbei: Mir stellt sich hier die ernstgemeinte Frage, wie wohl die eigene Schulzeit von Aries aussah? Erlebte er Gewalt und harte Disziplin? Könnte dies die Quelle seiner Ablehnung gegenüber der neuen Schulform sein?), doch ausführliche Berichte über die Gewalt gegen Kinder fehlen oder werden wie im Einzelbeispiel von Ludwig in ganz andere Richtungen kommentiert.
In seinem Buch gibt es zum Schulleben auch ein Abschlusskapitel, dass er „Die Härte des Schullebens“ (ebd., S. 440ff) genannt hat. Erwartungsvoll las ich das Kapitel und dachte, dass er jetzt die harte Disziplin von Lehrern gegen Kinder schildern und anprangern würde. Fehlgedacht. Zu meinem Erstaunen behandelte er in dem Kapitel ausführlich diverse Schülerunruhen und –aufstände, Schülerstreiks, die Bewaffnung von Schülern, Trinkgelage von Schülern usw., um dann abschließend auf das Ziel der Schule einzugehen: Wohlerzogene Kinder zu formen. Diese Sicht vom wilden Schüler, der gezähmt werden muss, mag damalige Realität gewesen sein. Hier fehlte mir ein moderner Kommentar durch Aries und natürlich die Schilderung der Gewalt von Lehrern gegen Schüler.
In der aktualisierten Einleitung zu seinem Buch schreibt Aries 1973 allerdings auch selbstkritisch, wenn er das Buch neu konzipieren müsste, würde er es in erster Linie um das Phänomen der geduldeten Kindestötung ergänzen. (ebd., S. 54) Aries war eben auch ein Kind seiner Zeit, das Buch entstand in den 50er Jahren und wurde im Jahr 1960 zuerst veröffentlicht. Für vieles war er offensichtlich noch nicht offen und es gab noch zu wenig Informationen gerade zum Thema Kindesmisshandlung.
Warum habe ich mir die Mühe gemacht, dies hier alles so ausführlich auszuführen? Erstens ist dies hier eine gute Gelegenheit für mich, einige historisch bedeutsame Entwicklungen in der Kindererziehung vorzustellen, die für diesen Blog wichtig sind. Zweitens. Trotz all dieser o.g. Kritikpunkte und Differenzen: Ich meine, dass man Aries in vielen Teilen für die Bestätigung psychohistorischer Thesen heranziehen kann (solange man seine persönlichen Deutungen außen vorlässt und sich auf die Fakten des Buches konzentriert). Philippe Aries gilt als renommierter Historiker und trotz verschiedenster Kritik von wissenschaftlicher Seite gilt sein Buch als Meilenstein in der Geschichtsforschung über Familie und Kindheit, es begründete eine eigenständigen Geschichtsforschung zur Kindheit in Europa und Nord-Amerika Seine Arbeit wird ernst genommen. Um so wichtiger wäre es, wenn man mehr auf die Parallelen zwischen Aries und Lloyd deMause aufmerksam machen würde, als nur die Gegensätze zu erwähnen. Die wichtige Erkenntnis von deMause, dass eine verbesserte Kindererziehung auch eine Verbesserung von gesellschaftlichen Verhältnissen mit sich bringt, weiter zu stützen, dies war hier mein Hauptanliegen.
Literatur:
Aries, P. 1981: Geschichte der Kindheit. Deutscher Taschenbuch Verlag, München. (4. Aufl.; erste deutsche Aufl. 1975)
deMause, L. 1992: Evolution der Kindheit. In: deMause, L. (Hrsg.): Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M, (7. Auflage; erste deutsche Aufl. 1977)
deMause,L. 2000: Was ist Psychohistorie? Psychosozial-Verlag, Gießen.
deMause, L.2005: Das emotionale Leben der Nationen. Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec.
Hornstein, W- | Thole, W. 2005: Kindheit. In: Kreft, D./ Mielenz, I. (Hrsg.): Wörterbuch Soziale Arbeit. Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Juventa Verlag. Weinheim/München.(5. Aufl.)
Psychohistorie und klassische Geschichtsforschung sind auf den ersten Blick oftmals gegensätzlich. Hornstein & Thole (2005) schreiben beispielsweise:
„Kinder sind in die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse einbezogen und insofern in einem dezidierten Sinn des Wortes Kinder ihrer jeweiligen Zeit. Darauf hat die neuerdings sehr stark sich entwickelnde sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung mit aufmerksam gemacht. Insbesondere historische Forschungen aus den letzten 30 Jahren (Aries 1978; de Mause 1977; Shorter 1977; Elias 1977; Honig 2002) haben gezeigt, wie sich die Lebenssituation der Kinder mit dem Beginn der Neuzeit drastisch veränderte. In den sozialgeschichtlichen Rekonstruktionen und in den theoretischen Diskussionen zur Entstehung der Kindheit offenbaren sich jedoch auch die Ambivalenzen dieser geschichtlichen Entwicklung, insbesondere in den beiden zentralen Untersuchungen zur Geschichte der Kindheit (Aries 1978; De Mause 1977).“ (Hornstein & Thole, 2005, S. 530)
Die Untersuchungen von Aries zur „Geschichte der Kindheit“ und deMause mit seinem Buch „Hört ihr die Kinder weinen? Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit“ sind erstens die bedeutsamsten, wenn es um die Geschichte der Kindheit geht und zweitens werden beide häufig als gegensätzlich dargestellt. DeMause stellt historisch eine stetige Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung fest, was aus seiner Sicht (positive) gesellschaftliche Entwicklungsprozesse erst ermöglichte. Aries betrachtet die Entwicklung kritischer und hat ein sehr verträumtes Bild von der mittelalterlichen Gesellschaft (mit ihrem Gemeinschaftssinn), in der jeder mit jedem kommunizierte, jeder seinen Platz hatte, die Kinder eingebunden waren in die Erwachsenenwelt und nicht – wie seit Beginn der Neuzeit - aus dieser „herausgerissen“, in „ihrer Freiheit beschränkt“ und (durch Schule und Elternhaus) „streng diszipliniert“ wurden. Dem physische und psychische Wohlbefinden des Kindes im Mittelalter schenkt er - entgegen deMause - dabei kaum Beachtung und tendiert eher dazu, die aus seiner Sicht positiven Seiten dieser Zeit zu beleuchten. Diese unterschiedliche Betrachtungsweise nehme ich zum Anlass, da mal genauer hinzuschauen und Kernthesen aus beiden Arbeiten vorzustellen.
Hornstein & Thole meinen, dass Prozesse der Modernisierung, die Entstehung einer bürgerlichen, auf Kapitalakkumulation angelegten Gesellschaftsformation, im Hintergrund entscheidend Prozesse der sich veränderten Kinderwelt beeinflussten. „Erst hierüber konnte sich eine eigene Kinderwelt herausbilden, die sich in allem und grundlegend von derjenigen der Erwachsenen unterscheidet.“ (Hornstein & Thole, 2005, S. 531) Dass Veränderungen innerhalb von Familie und Erziehung so zusagen „von Oben kommen“, also durch gesellschaftliche Prozesse (insbesondere auch ökonomische) wesentlich beeinflusst werden, ist die übliche Darstellung. Natürlich ist diese Aussage im Kern nicht falsch, natürlich beeinflusst eine Gesellschaft und ihre Weltbilder ihre Mitglieder bis in den privatesten Bereich. Natürlich trägt auch „das Oben“ zu der Entwicklung von Kindern etwas bei, man denke z.B. an entsprechende Kinderschutz- und Förderungsgesetze bis hin zur gesetzlichen Möglichkeit, Kinder aus sehr problematischen Familien herauszunehmen, um sie besser und beschützt unterzubringen.
DeMause macht in seinen Arbeiten allerdings deutlich, wie eine erhebliche Veränderung von Kindererziehung stets erhebliche Veränderungen für die Gesellschaft (inkl. Ökonomie, Politik und symbolischer Ordnung) mit sich brachte und bringt. (siehe oben genannte Untersuchung und auch deMause, 2005) Die veränderte Gesellschaft wirkt dann natürlich wiederum rück auf die Kinder, aber am Anfang war die Erziehung (die Entstehung neuer „Psychoklassen“, um im Wortlaut von deMause zu schreiben) der Stein, der alles zum Rollen brachte, so seine Kernthese. Das spannende ist dabei, dass Aries, wenn man genau hinschaut, gar nicht soweit entfernt von deMause ist und man ersteren gut dafür nutzen kann, die Thesen von deMause zu stützen. Dazu weiter unten mehr.
Schauen wir uns also zunächst die Untersuchung von Aries an: Nach Aries waren die Kinder im Mittelalter und am Anfang der Neuzeit – in den ärmeren Schichten auch noch länger bis ins 19.Jahhundert – mit den Erwachsenen vermischt, sobald man ihnen zutraute, dass sie ohne Hilfe der Mutter oder der Amme auskommen konnte, d.h. in der Regel im Alter von etwa 5-7 Jahren. In diesem Augenblick traten die Kinder übergangslos in die Welt der Erwachsenen ein und sie wurden routinemäßig zu Fremden in die Lehre geschickt. Die mittelalterliche Zivilisation hatte laut Aries keine Vorstellung von so etwas wie „Erziehung“ (außer der Lehre), weil es aus ihrer Sicht überhaupt gar kein Problem oder einen Anlass dazu gab. Ebenso gab es kein bewusstes Verhältnis zu so etwas wie „Familie“ und „Kindheit“. (Diese Sicht wird von deMause kritisch beurteilt. Er verweist auf künstlerische Darstellungen von wirklichkeitsgetreuen Kindern im Mittelalter und auf die Antike, die ein Bild von "Kindheit" und "Erziehung" hatte. (deMause, 2000, S. 23ff) )
„Immerhin konnte das Kind in den allerersten Jahren, wenn es noch ein kleines drolliges Ding war, auf eine oberflächliche Gefühlszuwendung rechnen, die ich „Gehätschel“ genannt habe. Man vergnügte sich mit ihm wie mit einem Tier, einem ungesitteten Äffchen. Wenn es dann starb, wie es häufig vorkam, mochte dies den ein oder anderen berühren, doch in der Regel machte man davon nicht allzu viel Aufhebens: ein anderes Kind würde sehr bald seine Stelle einnehmen. Aus einer gewissen Anonymität gelangte es nie heraus.“ (Aries,1981, S. 46) Die mittelalterliche Familie hatte keine affektive Funktion, so Aries weiter. Gefühle zwischen Ehegatten und zwischen Eltern und Kindern waren keine unabdingbare Voraussetzung für die Existenz und für das Gleichgewicht der Lebensgemeinschaft. Für gefühlsmäßige Bindungen und soziale Kontakte war außerhalb der Familie gesorgt.
„Das große Ereignis zu Beginn der modernen Zeit war (...) die Renaissance des erzieherischen Interesses. Dies Interesse beseelte eine bestimmte Zahl von Männern der Kirche, des Gesetzes und der Wissenschaft, die im 15.Jahrhundert noch sehr vereinzelt, im 16. und 17. Jahrhundert (..) dann jedoch immer zahlreicher und einflussreicher wurden.“ (Aries, S. 560) Diese Rückkehr der Kinder in den Schoß der (Kern-)Familie verleiht der Familie des 17. Jahrhunderts im wesentlichen den Charakter, der es von der mittelalterlichen Familie unterschied. Das Kind wird zu einem unabdingbaren Bestandteil des Alltagslebens, man beschäftigt sich bevorzugt mit seiner Erziehung, seiner Unterbringung, seiner Zukunft. (vgl. ebd., S.554) Im 18. Jahrhundert kam dann noch das Bemühen um Hygiene und körperlicher Gesundheit dazu. (ebd., S . 217)
Die Familie begann, sich um das Kind herum zu organisieren, so dass es aus seiner einstigen Anonymität herausgerissen wurde. „Man konnte es nicht mehr ohne großen Schmerz verlieren oder ersetzen, den Vorgang der Kinderaufzucht nicht mehr allzu oft wiederholen, und es empfiehlt sich, die Anzahl der Kinder zu beschränken, damit man sich ihnen besser widmen kann.“ (ebd., S. 48) Diese Revolution auf dem Gebiet der schulischen Erziehung und gefühlsmäßigen Einstellung brachte auf lange Sicht eine freiwillige Geburtenbeschränkung mit sich.
Man stellte damals auch fest, dass das Kind für das Leben nicht reif sei, dass man es „einer speziellen Einflussnahme“ unterwerfen müsse, eh man es in die Welt der Erwachsenen entlässt. „Dieses neue Interesse an der Erziehung wird die Gesellschaft allmählich prägen, sie von Grund auf verwandeln. Die Familie hört auf, lediglich eine privatrechtliche Institution zum Zweck der Weitergabe von Eigentum und Namen zu sein, sie bekommt eine moralische und geistige Funktion, formt den Körper und die Seele. Zwischen der physischen Erzeugung und der rechtlichen Institution bestand eine Kluft, die fortan die Erziehung ausfüllen wird. Die Fürsorge für das Kind weckt neue Empfindungen, schafft eine neue Affektivität, die die Ikonographie des 17. Jahrhunderts mit ebensoviel Nachdruck wie Geschick zum Ausdruck gebracht hat: den modernen Familiensinn. Die Eltern begnügen sich nicht mehr damit, Kinder in die Welt zu setzen, einigen von ihnen eine Aussteuer zu geben und den anderen keine Beachtung zu schenken. Die Moral der Zeit verlangt von ihnen, dass sie sämtlichen Kindern, am Ende des 17. Jahrhundert sogar den Mädchen, und nicht nur den Ältesten das Rüstzeug fürs Leben verschaffen. Man ist sich darüber einig, dass dies nur durch die Schulbildung geschehen kann. Die Schule nimmt nun die Stelle der traditionellen Lehre ein, und zwar eine zum Instrument einer strengen Disziplin umgeformten Schule (....). Der außerordentliche Aufschwung der Schule im 17.Jahrhundert ist eine Konsequenz dieses neuen Interesses der Eltern an der Kindererziehung. (...)“ (ebd., S. 561)
Die Ablösung des Lehrverhältnisses durch die Schule drückt in gleichem Maße eine Annäherung zwischen Familie und den Kindern, zwischen Familiensinn und Sinn für die Kindheit aus, die einst getrennt waren. Aries spricht dabei von einer tiefgreifenden und langsam vonstatten gehender (gesellschaftlichen) Umwälzung. (vgl. ebd., S, 509)
Und weiter schreibt er: „Die Familie und die Schule haben das Kind mit vereinten Kräften aus der Gesellschaft der Erwachsenen herausgerissen. Die moderne Familie hat dem Gemeinschaftsleben nicht nur die Kinder, sondern auch einen großen Teil der Zeit und des Interesses der Erwachsenen entzogen. Sie entspricht dem Bedürfnis nach Intimität und nach Identität: die Familienmitglieder sind gefühlsmäßig wie durch Gewöhnung und Lebensweise miteinander verbunden. Das ständige Zusammensein mit Freunden, das die alte Sozialität verlangt hatte, widerstrebt ihnen.“ (ebd., S. 562)
Die (insbesondere bürgerliche) Familie mit ihrem Bedürfnis nach Intimität und einer eigenen Wohnung brachte auch eine Teilung der Gesellschaft in homogene Milieus mit sich, die als Gegenmodell zur alten „polymorphen Gesellschaft“ (den Sippen- und Stammesverbänden) standen. Vorher gab es keine Trennung von Wohnung, Lehre/Arbeitsplatz, „Freizeitbereich“ und auch politischem Leben. Und vorher – im kollektiven Leben - gab es auch eine gewisse Annäherung der unterschiedlichen Stände, die nun immer mehr wegfiel.
„Der Drang zur Intimität und die neuen Bedürfnisse nach Komfort, die dadurch geweckt wurden (denn zwischen Komfort und Intimität besteht eine enge Beziehung) verschärften zusätzlich den Gegensatz zwischen materiellen Lebensbedingungen des Volkes und des Bürgertums. (ebd., S. 564) (Anmerkung: Und schaffte somit neue Klassenunterschiede) Die Pflege traditioneller gesellschaftlicher Beziehungen, der unablässige Kontakt mit der Gesellschaft verloren immer mehr an Bedeutung. „Ein tiefgreifender Wandel sprengt nun die alten Beziehungen zwischen Herr und Diener, Groß und Klein, Freunden und Kunden. (...) Die Geschichte unserer Sitten reduziert sich teilweise auf diese langanhaltende Anstrengung sich von den anderen zu trennen, sich von einer Gesellschaft abzusondern, deren Druck man nicht mehr ertragen will. (...) Beruf und Familienleben haben jene andere Aktivität erstickt, die einst das gesamte Leben durchdrungen hatte, die Pflege gesellschaftlicher Beziehungen. Man ist versucht, den Schluss zu ziehen, dass Familiensinn und Sozialität nicht vereinbar waren und eines sich jeweils nur auf Kosten des anderen entwickeln konnte.“ (ebd., S. 558)
Die neue Moral oder auch der Sittenwandel gegenüber dem Kind brachte – zumindest in höhern Gesellschaftsschichten – ab dem 17. Jahrhundert auch mit sich, dass die „sexuellen Freiheiten“ (also den sexuellen Missbrauch, diesen Begriffe nutzt Aries nicht ein einziges mal), die man sich gegenüber Kindern erlaubt hatte, Stück für Stück nicht länger geduldet wurden. Die Trennung der Kinder von der Erwachsenenwelt bedeutete auch einen Schutz. (vgl. ebd., S. 187 + 196)
Ab dem 18. und vor allem 19. Jahrhundert hatte sich das neue Familieleben auf nahezu die ganze Gesellschaft ausgedehnt, so dass man schließlich seinen aristokratischen und bürgerlichen Ursprung vergessen hatte.(ebd., S. 555)
Diese von mir oben ausgewählten Zitate und Informationen könnten theoretisch (mit einer etwas anderen Wortwahl und Deutung) auch von einem Psychohistoriker wie Lloyd deMause stammen. Hier sind wesentliche Punkte benannt und angerissen, die psychohistorische Thesen unterstützen: Die stetige Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung und der Anstoß dieses Prozesses zunächst durch einige wenige Männer der Kirche, des Gesetzes und der Wissenschaft, die neue Erziehungsideale verbreiteten (deMause würde in etwa schreiben: Durch neue Variationen in der Kindererziehung, seien vereinzelt neue Psychoklassen entstanden, die den gesellschaftlichen Fortschritt vorantrieben.). Aries spricht bzgl. der gesellschaftlichen Wirkung dieses Prozesses von einem „große Ereignis“, einer „Revolution“ und einem „bemerkenswerten Wandel“, führt dies aber nicht in weitere Richtungen aus (außer im Rahmen der oben genannten Stichworte)
In einem Vorwort zur deutschen Ausgabe von der „Geschichte der Kindheit“ schreibt Hartmut von Hentig, dass sich zwischen Mittelalter und 19. Jahrhundert vor allem der Geltungsbereich von „Familie“ geändert habe: „(...) sie hat Funktionen an Armenhäuser, Spitäler für Alte und Kranke, Schulen, Banken, Versicherungen abgegeben und wurde schon dadurch kleiner, Aries versäumt es, Familie und Schule in einen weiteren sozialen und ökonomischen Kontext zu stellen.“ (ebd., S. 30) Die logische Folge von Aries Buch ist also, die sozialen, ökonomischen und auch politischen Veränderungen der Zeit in Zusammenhang mit dem „großen Ereignis“ der Entdeckung der Kindheit zu bringen. Von Hentigs Bemerkung macht beispielhaft klar, wohin die gedankliche Reise gehen könnte: Das ganze System änderte sich offensichtlich dadurch, dass – ausgehend von dem neuen Familiensinn - Individuen entstanden, dass „neue Bedürfnisse nach Komfort“ geweckt wurden (siehe oben kurz erwähnt), dass Wohnraum und auch Arbeit anders organisiert werden musste (denn beides musste nun getrennt werden), dass kollektive Aufgaben der Gemeinschaftsfamilien und Verbände nun auch außerhalb dieser erfüllt werden konnten, was folglich berufliche Spezialisierungen mit sich bringt usw.
Mir kommt auch in den Sinn, dass die langsame Auflösung einer kollektiven Gesellschaft, in der jeder seinen „natürlichen Platz“ hatte, erstens ein hohes Konflikt- und Krisenpotential inne hatte (und damit immer auch Kriegsgefahr bestand) und zweitens diese Individualisierung (ausgehend von der Kindererziehung) überhaupt erst die gedankliche Möglichkeit von einer neuen Gesellschaftsordnung zuließ: Wenn ich ein stückweit ein eigener Mensch sein darf, wenn Papa dort arbeitet, hier wohnt, und da seine Freizeit verbringt, wenn Lebenssphären getrennt werden, dann ist womöglich auch die kollektive Ordnung keine natürliche, Herr und Knecht, Oben und Unten usw., all dies wird anzweifelbar und veränderlich. Es wäre sicher interessant, wenn man z.B. die Französische Revolution (1789 bis 1799) – gerade Aries Buch bezieht sich viel auf Frankreich - in ihrer Entstehung und Entwicklung (mit dem zentralen Fokus auf die Entstehung der "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" im Jahr 1789) zusammen mit der Entwicklung des neuen Familiensinns und neuer Kindererziehungspraktiken untersuchen würde (dabei müssten vor allem gezielt die familiären Hintergründe – sprich Gemeinschaftsfamilie oder modernere Familie – der entscheidungstragenden und dominierenden Akteure untersucht werden). Natürlich wäre es auch sehr interessant, gesellschaftliche Entwicklungen insbesondere im 19. Jahrhundert im Sinne dieser Zusammenhänge zu untersuchen, da sich in diesem Jahrhundert der „Familiensinn“ auf nahezu die gesamte Gesellschaft ausdehnte.
Im letzten Absatz seines Buches schreibt Aries bzgl. der Wirkung des genannten Wandels: „Der Familiensinn, das Klassenbewusstsein, anderswo vielleicht auch das Rassenbewusstsein, scheinen verschiedene Äußerungsformen derselben Intoleranz gegenüber der Vielfalt und desselben Strebens nach Uniformität zu sein.“ (ebd., S. 564) Ich teile diese kritische Einschätzung nicht, denn die Welt ist durch die Individualisierungsprozesse komplexer und vielfältiger geworden, wie ich meine. Sein Schlusswort zeigt trotzdem eine interessante Richtung auf, die das Buch anregt. In wie weit wurde so etwas wie ein (neues) Klassenbewusstsein erst durch den neuen Familiensinn geschaffen? Vorher gab es das Kollektiv mit seinen Standesunterschieden. Trotzdem gehörte man „natürlich“ zusammen. Jetzt entwickelten sich neue Milieus usw. mit neuen Gegensätzen. Ja, die Bearbeitung des Themas „Geschichte des Kindes“ ist letztendlich immer noch in den Kinderschuhen, insbesondere bzgl. der gesellschaftlichen Wirkungsweise. .
Warum wird Aries nun trotz dieser offensichtlichen möglichen Folgerungen und möglicher Unterstützung psychohistorischer Thesen trotzdem häufig als gegensätzlich zu deMause betrachtet? Ganz einfach: Aries deutet gleiche historische Beobachtungen anders!
Die Ausweitung des privaten Bereiches bzw. die Individualisierung kam wesentlich durch das neue Interesse am Kind und einem neuen Familiensinn in Bewegung, wie oben beschrieben. Diesen Individualisierungsprozessen steht Aries grundsätzlich kritisch gegenüber. Diese sind für ihn kein Fortschritt und kein Weg zu mehr sozialem Gemeinsinn. Beispielsweise spricht er von „einer Art Quarantäne“, „einem Prozess der Einsperrung der Kinder (wie der Irren, der Armen und der Prostituierten), der bis in unsere Tage nicht zum Stilstand kommen sollte und den man als „Verschulung“ bezeichnen könnte.“ (ebd., S. 48) Die mittelalterliche Familie hätte in einem „dichteren und wärmeren sozialen Raum“ (ebd., S. 49), einem „Maximum von Lebensformen in einem Minimum von Raum“ gelebt. (ebd., S. 564). Bei ihm schwingt immer ein Stück weit Sehnsucht nach dem altem Gemeinschaftssinn mit, der – aus seiner Sicht - in moderneren Tagen verloren gegangen zu sein scheint.
Aries beschäftigt sich viel mit der damaligen Kleidung, den Kinderspielen, der Schule, der Einstellung zur Kindheit. Insbesondere letzteres ist sein großer Verdienst. Außen vor bleiben bei ihm weitgehend die Schattenseiten des Mittelalters, die routinemäßige Misshandlung und Vernachlässigung, der Missbrauch, die Kindestötung usw., die nur hier und da kurz und ohne großen Kommentar Erwähnung finden, während diese gerade bei den Psychohistorikern eine zentrale Rolle spielen und bzgl. gesellschaftlicher Entwicklungen weiterverarbeitet und gedeutet werden .
An einer speziellen Stelle des Buches fiel mir auch auf, wie wenig sich Aries in das Gefühlsleben von missbrauchten Kindern einfühlen konnte bzw. diese Erfahrungen einfach ganz anders deutete. Die ersten Lebensjahre von Ludwig XIII. waren von einer Fülle sexueller Übergriffe und Grenzüberschreitungen (Aries benutzt hier andere Wörter, im Sinne der damaligen Zeit) begleitet, die Aries ausführlich schildert. (vgl. ebd., S.175ff) Dann schreibt er: “(...) es fällt einem nicht schwer, sich vorzustellen, was der moderne Psychoanalytiker dazu sagen würde! Doch hätte dieser Psychoanalytiker unrecht. Die Einstellung zur Sexualität und zweifellos auch die Sexualität selbst ist von Milieu zu Milieu und insbesondere auch von Epoche zu Epoche und von Mentalität zu Mentalität verschieden. Heute scheinen uns Berührungen, wie Heroard sie beschrieben hat, hart an sexuelle Anomalie zu grenzen, und niemand würde sie öffentlich wagen. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts sah das noch anders aus. (...)“ (ebd., S.179) Dass auch damals sexueller Missbrauch für Kinder schwerwiegende Folgen hatte und sexuelle Gewalt nichts mit Sexualität zu tun hat, blendet er hier vollkommen aus. Es offenbart sich hier auch ein Grundproblem bei Aries: Er schreibt stets im Sinne und aus Sicht der historischen Zeit. Auch dadurch wurde sein Buch sicher zum Gegenpol zu deMause erklärt.
An einer anderen Stelle schreibt Aries: Die Familie und die Schule hat dem Kind „(...) die Zuchtrute, das Gefängnis, all die Strafen beschert, die den Verurteilten der niedrigsten Stände vorbehalten waren. Doch verrät diese Härte, dass wir es nicht mehr mit der ehemaligen Gleichgültigkeit zu tun haben: wir können vielmehr auf eine besitzergreifende Liebe schließen, die die Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert beherrschen sollte.“ (ebd., S. 562) Wenn Kindesmisshandlung mit Liebe in Verbindung gebracht wird, schlagen bei mir immer die Alarmglocken. Wenn ein Aries solche Verbindungen (wenn auch beiläufig) herstellt, wird auch deutlich, dass er für das Leid der (mittelalterlichen) Kinder nicht wirklich offen sein konnte. Er schildert die harte (neue) Disziplin gegen die Kinder zwar an manchen Stellen, ja ist diese gerade die Grundlage dafür, dass er von einer Verschlechterung der Situation für Kinder ausgeht (Nebenbei: Mir stellt sich hier die ernstgemeinte Frage, wie wohl die eigene Schulzeit von Aries aussah? Erlebte er Gewalt und harte Disziplin? Könnte dies die Quelle seiner Ablehnung gegenüber der neuen Schulform sein?), doch ausführliche Berichte über die Gewalt gegen Kinder fehlen oder werden wie im Einzelbeispiel von Ludwig in ganz andere Richtungen kommentiert.
In seinem Buch gibt es zum Schulleben auch ein Abschlusskapitel, dass er „Die Härte des Schullebens“ (ebd., S. 440ff) genannt hat. Erwartungsvoll las ich das Kapitel und dachte, dass er jetzt die harte Disziplin von Lehrern gegen Kinder schildern und anprangern würde. Fehlgedacht. Zu meinem Erstaunen behandelte er in dem Kapitel ausführlich diverse Schülerunruhen und –aufstände, Schülerstreiks, die Bewaffnung von Schülern, Trinkgelage von Schülern usw., um dann abschließend auf das Ziel der Schule einzugehen: Wohlerzogene Kinder zu formen. Diese Sicht vom wilden Schüler, der gezähmt werden muss, mag damalige Realität gewesen sein. Hier fehlte mir ein moderner Kommentar durch Aries und natürlich die Schilderung der Gewalt von Lehrern gegen Schüler.
In der aktualisierten Einleitung zu seinem Buch schreibt Aries 1973 allerdings auch selbstkritisch, wenn er das Buch neu konzipieren müsste, würde er es in erster Linie um das Phänomen der geduldeten Kindestötung ergänzen. (ebd., S. 54) Aries war eben auch ein Kind seiner Zeit, das Buch entstand in den 50er Jahren und wurde im Jahr 1960 zuerst veröffentlicht. Für vieles war er offensichtlich noch nicht offen und es gab noch zu wenig Informationen gerade zum Thema Kindesmisshandlung.
Warum habe ich mir die Mühe gemacht, dies hier alles so ausführlich auszuführen? Erstens ist dies hier eine gute Gelegenheit für mich, einige historisch bedeutsame Entwicklungen in der Kindererziehung vorzustellen, die für diesen Blog wichtig sind. Zweitens. Trotz all dieser o.g. Kritikpunkte und Differenzen: Ich meine, dass man Aries in vielen Teilen für die Bestätigung psychohistorischer Thesen heranziehen kann (solange man seine persönlichen Deutungen außen vorlässt und sich auf die Fakten des Buches konzentriert). Philippe Aries gilt als renommierter Historiker und trotz verschiedenster Kritik von wissenschaftlicher Seite gilt sein Buch als Meilenstein in der Geschichtsforschung über Familie und Kindheit, es begründete eine eigenständigen Geschichtsforschung zur Kindheit in Europa und Nord-Amerika Seine Arbeit wird ernst genommen. Um so wichtiger wäre es, wenn man mehr auf die Parallelen zwischen Aries und Lloyd deMause aufmerksam machen würde, als nur die Gegensätze zu erwähnen. Die wichtige Erkenntnis von deMause, dass eine verbesserte Kindererziehung auch eine Verbesserung von gesellschaftlichen Verhältnissen mit sich bringt, weiter zu stützen, dies war hier mein Hauptanliegen.
Literatur:
Aries, P. 1981: Geschichte der Kindheit. Deutscher Taschenbuch Verlag, München. (4. Aufl.; erste deutsche Aufl. 1975)
deMause, L. 1992: Evolution der Kindheit. In: deMause, L. (Hrsg.): Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M, (7. Auflage; erste deutsche Aufl. 1977)
deMause,L. 2000: Was ist Psychohistorie? Psychosozial-Verlag, Gießen.
deMause, L.2005: Das emotionale Leben der Nationen. Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec.
Hornstein, W- | Thole, W. 2005: Kindheit. In: Kreft, D./ Mielenz, I. (Hrsg.): Wörterbuch Soziale Arbeit. Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Juventa Verlag. Weinheim/München.(5. Aufl.)
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