Montag, 26. November 2012

Kindergesundheitsstudie: Die meisten Kinder fühlen sich glücklich.

Für eine repräsentative Studie ("Elefanten-Kindergesundheitsstudie 2011 - Große Ohren für kleine Leute") hat das PROSOZ-Institut für Sozialforschung in Kooperation mit dem Deutschen Kinderschutzbund im Jahr 2011 fast 5.000 Kinder zwischen 7 und 9 Jahren befragt. Die Ergebnisse wurden kürzlich veröffentlicht. Für mich war vor allem folgender Teil von Interesse:

"Das subjektive, allgemeine Wohlbefinden der Kinder wurde anhand einer fünfstufigen Skala von 1=„sehr schlecht“ bis 5=„sehr gut“ abgefragt und ist, insgesamt betrachtet, gut (M=4,1). 79 % der Kinder geben an, sich meistens „gut“ oder „sehr gut“ zu fühlen, 86 % der Kinder sind „oft“ oder „sehr oft“ glücklich. Dennoch gibt es einen, wenn auch geringen, Anteil von Kindern (5 %), die sich meistens „schlecht“ oder sogar „sehr schlecht“ fühlen, 6 % der Kinder sind nach eigener Aussage „nie“ oder „selten“ glücklich. Es zeigt sich, dass die verschiedenen Angaben zum seelischen und körperlichen Wohlbefinden in engem Zusammenhang miteinander stehen: Kinder, die sich meistens gut fühlen, fühlen sich zudem eher ganz gesund (r=.39), sind häufiger glücklich (r=.29) und zeichnen sich durch ein höheres körperliches Wohlbefinden11 aus (r=.16)." /S. 27) Ergänzend noch das Mittelfeld: 16 % der Kinder fühlen sich meisten "mittelmäßig". 9 % fühlen sich "manchmal" glücklich.

3 % der Kinder fühlen sich durch Gewalterfahrungen "gestresst". Wobei hier nicht weiter ins Detail gegangen wurde und auch kein großes Augenmerk auf Gewalt bestand. Spezialisierte Gewaltstudien werden erfahrungsgemäß höhere Werte nachweisen.

Alles in allem zeigen diese ausgewählten Daten, dass es den meisten Kindern in Deutschland aktuell gut geht. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden die 5-6 % der Kinder, denen es besonders schlecht geht, zu Hause erheblichen Belastungen (vermutlich auch Misshandlungen und schweren Gewaltformen) ausgesetzt sein. Das Mittelfeld wird entsprechend ebenfalls belastet sein, wenn auch weniger, als die Kinder, denen es besonders schlecht geht.

Ergänzend siehe auch:

- "Geboren 2012 = weitgehend gewaltfreies Aufwachsen, zumindest in Deutschland"

- neue KFN-Gewaltstudie

Donnerstag, 15. November 2012

Breivik. Als Kleinkind von der Mutter geschlagen.

Der norwegische Autor Aage Storm Borchgrevink hat wie bereits in einem Beitrag erwähnt ein Buch („En norsk tragedie“) veröffentlicht, dass Breiviks Leben und seine Kindheit nachzeichnet. Bisher ist das Buch leider nur in norwegischer Sprache erschienen, es wurde aber in den Medien besprochen. „The Telegraph“ (07.10.2012) schildert, dass Breiviks Mutter ihren Sohn bereits im Alter von vier Jahren „sexualisierte“ (vor allem in ihrer Sprache dem Kind gegenüber; Nachbarn berichteten allerdings auch, dass sie sexuelle Handlungen mitbekamen, obwohl  die Kinder anwesend waren.). Außerdem schlug sie ihren kleinen Sohn und äußerte ihm vielfach gegenüber, dass sie seinen Tod wünsche.  (Nebenbei bemerkt befassen sich vor allem englisch sprachige und norwegische Medien mit dem Buch von Borchgrevink und der Kindheit von Breivik. Hierzulande hat bisher nach meinem Wissen nur bild.de von dem Buch berichtet. Dies verwundert insofern wenig, da bisher nach meinen Recherchen Breiviks Kindheit in den deutschen Medien so gut wie keine Rolle gespielt hat. )

Die Info, dass Breivik auch körperliche Gewalt erfahren hat, ist für mich neu (obwohl ich dies von Anfang an vermutet habe). Laut dem Telegraph reagierte der vierjährige Breivik auf die Schläge mit der neckischen Bemerkung, dass ihm diese nicht weh täten. Dabei lächelte er. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass Breivik schon in sehr frühen Jahren seine Gefühle und sein Schmerzempfinden abspalten musste.

Der Fall Breivik bestätigt in vielerlei Hinsicht meine hier oft geäußerten und auch belegten Gedanken und Thesen. Die Tat eines Menschen verrät bereits etwas über die Kindheit, die der Täter durchlitten hat. Je grausamer die Tat, desto grausamer die Kindheit. Klassisch für einen Massenmörder ist auch, dass er mehrere Formen von Gewalt erlebte (Vernachlässigung, sexuellen Missbrauch, psychische Gewalt und körperliche Gewalt + Trennung von einem Elternteil) und dass dies bereits ab der frühen Kindheit erlebt wurde.

Übrigens möchte ich noch auf etwas hinweisen, das für mich eigentlich selbstverständlich ist. Sich mit der Kindheit von Breivik zu befassen, bedeutet nicht, dass ich ihn aus seiner Verantwortung und Schuld entlasten möchte. Der erwachsene Mann und Täter Breivik ist ein gefährlicher und eiskalter Mensch, vor dem die Gesellschaft geschützt werden muss. Ich begrüße das Urteil gegen ihn, in dem klar gemacht wurde, dass man seine psychischen Auffälligkeiten sehr wohl wahrgenommen hat, ihn aber für voll zurechnungsfähig und schuldfähig hält. Nur das Kind, das dieser Mann einst war, verdient unser Mitgefühl. Seine Kindheit erklärt seinen Hass. Entschuldigen tut sie gar nichts.

- siehe ergänzend: Attentäter Breivik: Natural born Killer?

Freitag, 9. November 2012

Kindheit von Hermann Göring


Hermann Wilhelm Göring (ein führender NS-Täter) wurde am 12.01.1893 geboren. Seine Mutter war für die Geburt extra aus der Karibik angereist, wo sich ihr Mann und ihre weiteren Kinder aufhielten. Sechs Wochen nach der Geburt überließ sie den Säugling einer Freundin (über deren Umgang mit dem Säugling man nichts in der Quelle erfährt) und reiste zurück zu Mann und Kindern.
 In den folgenden drei ersten Jahren seines Lebens bekam Hermann weder sie noch seine Geschwister, noch seinen Vater zu Gesicht. Als die Eltern ihn nach der Rückkehr zu sich holten und die Mutter sich zum ersten Mal zu ihm hinabbeugte, schlug der Dreijährige ihr mit den kleinen Fäusten ins Gesicht. Es sei dies seine erste Kindheitserinnerung, erklärte Göring später im Gefängnis dem amerikanischen Gerichtspsychologen Gustave Gilbert.“ (Knopp 2007: 13) Knopp zitiert den erwachsenen Göring mit den Worten: „Das Grausamste, was einem Kind passieren kann, ist die Trennung von der Mutter in den ersten Lebensjahren.“ (ebd.) 

Hermann Göring wuchs ab seinem dritten Lebensjahr im Kreis von neun Geschwistern und Halbgeschwistern auf. Man kann sich vorstellen, dass bei einer solchen Geschwisterzahl nicht viel Zeit und Aufmerksamkeit für das einzelne Kind da war. Sein Vater war bei seiner Rückkehr nach Deutschland bereits 58 Jahre alt und nicht bei gutem Gesundheitszustand. Ab 1898 lebten die Görings in einer mittelalterlichen Burg, die ihnen von Hermanns Patenonkel Epenstein (reicher Sohn einer zum evangelischen Glauben konvertierten jüdischen Familie) kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Das Ganze nicht ohne Hintergedanken.
Mehr oder minder offiziell lebte Franziska Göring in den nächsten anderthalb Jahrzehnten als Geliebte Epensteins – unter stillschweigender Duldung ihres Ehemanns. Von dem tatkräftigen Kolonialbeamten, der Deutsch-Südwestafrika mit aufgebaut hatte, war wenig geblieben. Kränkelnd und vorzeitig gealtert, fand Hermanns Vater sich mit einem Schattendasein als gehörnter Ehemann an der Seite seiner jüngeren Gemahlin ab. Erst als die Liebe zwischen dem »Ritter« und dem »Burgfräulein« verebbte, kam es nach Zwistigkeiten zum schroffen Bruch. Im Streit mit dem einstigen Wohltäter verließ das Ehepaar Göring gemeinsam Burg Veldenstein und siedelte 1912 nach München über.“ (S. 18) Ein Jahr darauf starb Heinrich Göring – Hermanns Vater. Knopp schreibt, dass der kränkelnde Vater für Hermann kein Leitbild war, sondern der “prunksüchtige Lebemann Epenstein, der die ihm durch Reichtum verliehene Macht in vollen Zügen genoss“ und mit dem er bis zu dessen Tod 1934 im Kontakt blieb. (S. 18)

Hermann Göring wurde ab seinem elften Lebensjahr von seinem Vater auf ein Internat geschickt und somit erneut von seiner Familie getrennt (er verbrachte also insgesamt nur ca. acht Jahre bei seiner Familie!!), worauf er rebellisch reagierte. Nach einem Jahr mussten ihn die Eltern von der Schule nehmen und er wurde in einer Kadettenanstalt  in Karlsruhe untergebracht.  Hier war er noch weiter von Veldenstein entfernt, die Erziehung noch strenger, aber es ging dabei militärisch zu. Ziel der Anstalt war, zukünftige Berufsoffiziere heranzubilden.“ (S. 19) Hermann scheint sich dort wohl gefühlt zu haben, denn er liebte alles Militärische, schreibt Knopp.  Robust und selbstbewusst, wie er war, scheinen ihn die üblichen Rohheiten des Kadettenlebens, mit denen ältere Schülerdie ihnen anvertrauten jüngeren »Schützlinge« abzurichten und nicht selten zu quälen pflegten, wenig angetan zu haben. Offenbar ohne Widerwillen ertrug er die strenge Schuldisziplin.“ (S. 20) Und in der Tat wurde Hermann zum Musterkadetten und später zum überzeugten Soldaten, der bei Kampfeinsätzen u.a. als Pilot und Fliegerass im Ersten Weltkrieg mitwirkte. 

Ich teile Knopps Ansicht allerdings nicht, dass sich Hermann als Kadett wohl fühlte. Für mich ergibt sich eher das Bild eines Kindes/Jugendlichen, das/der gelernt hat, Schmerzen, Entbehrungen und Demütigungen auszuhalten, zu funktionieren und entsprechende Gefühle beiseitezuschieben (abzuspalten). Schon sechs Wochen nach seiner Geburt musste er aushalten und drei Jahre auf seine Familie warten, die er dann mit Aggressionen begrüßte. Hermann Göring wurde früh klar gemacht, dass er nichts zählte, dass seine Bedürfnisse nicht zählten. Auch die merkwürdige (offene) Dreiecksbeziehung seiner Eltern wird Spuren bei ihm hinterlassen haben. Für mich ergibt sich das Bild einer Kindheit, die von Trennungen und Schmerzen geprägt war. Hermann fantasierte sich – darüber berichtete auch Knopp - in eine Welt, die Macht, Heldentum und Ritterlichkeit (auch unter Einfluss seines Patenonkels) zum Ideal hatte. 

Über den alltäglichen Umgang der Eltern, ihren Erziehungsstil, offener Gewalt als Disziplinierungsmaßnahme usw. erfährt man nichts in der Quelle (und auch nicht im Internet). Aber: Wer etwas Fantasie hat und sich einfühlen kann, wird an Hand o.g. Darstellungen schnell zu dem Schluss kommen, dass Görings Eltern emotional kalte Personen waren. Was sind das für Eltern, die ihr Neugeborenes drei Jahre bei einer Freundin unterbringen, obwohl sie alle Möglichkeiten dazu hatten, das Kind bei sich aufzunehmen? Es sind grausame Eltern, die sich nicht darum scheren, wie es dem Kind ergeht. Solche Eltern sind nicht auf der einen Seite zu solchen Handlungen fähig und dann auf der anderen Seite später herzlich und emotional zu ihren Kindern. Solche Eltern werden auch im Erziehungsalltag die Bedürfnisse ihrer Kinder übersehen und überhören, solche Eltern werden ihre Kälte auch im Alltag an allen möglichen Stellen und in allen möglichen Situationen unter Beweis gestellt haben, von denen wir nie etwas erfahren werden, weil es keine Zeugnisse davon gibt.

Verwendete Quelle:

Knopp, Guido (2007:): Göring. Eine Karriere. Goldmann Verlag, München.

Samstag, 3. November 2012

Dany Levys: "Mein Führer - Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler"

Durch einen Kommentar bin ich auf den Film „Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler von Dany Levy (mit Helge Schneider als Hitler) aufmerksam geworden, der mich vorher nicht wirklich interessiert hatte. Der Kommentator hat einige Passagen/Dialoge aus dem Film aufgeschrieben (was
ich hier übernehme) und diese im Kommentarbereich (29.10.12) der Homepage „Die geprügelte
Generation“ gepostet.


------------------------------------------------------------------------


Adolf Grünbaum zu Adolf Hitler: „Gehen Sie noch einmal in das Glückgefühl, das Sie gestern gefunden hatten. Sie denken erneut an ihren Vater, der Ihnen die Steinschleuder gab. Ihr geliebter Vater legt seine Hand auf ihre Schulter…“
Adolf Hitler: „Nein! Fassen sie mich nicht an, Herr Vater! Er darf mich nicht anfassen, sagen Sie ihm das! Er soll damit aufhören! Sagen Sie es ihm! Sagen Sie es ihm!“
A.G.: „Bitte fassen sie ihren Sohn nicht an!“
A.H.: „Wissen Sie, wie oft er mich geschlagen hat, mein Vater?“
A.G.: „Nein, das weiss ich nicht.“
A.H.: „Täglich!“
A.H. (mit der Stimme seines Vaters): „Adolf komm!“
A.H. (mit der Stimme des kleinen Adolf): „Ich habe nichts getan, Herr Vater!“
A.H. (mit der Stimme seines Vaters): „35!… und zählen, los!“
A.H. (mit der Stimme des kleinen Adolf): „Eins, zwei…
…(er beginnt zu schluchzen, zu weinen..), drei, vier, fünf, sechs…, dann fasst er sich wieder und meint: Was gibt’s?“
A.G.: „Das tut mir so leid, Herr Hitler.“
A.H.: „Ihr Mitleid können Sie sich am Arsch abwischen! Mein Vater Adolf hat mich versucht zu brechen, aber es ist ihm nicht gelungen! Seine Prügel, seine Ungerechtigkeit, seine Willkür, haben mich nur gestählt, haben mich zu dem gemacht, der ich heute bin!
A.G.: „Dann hat Sie Ihr Vater geliebt!“
A.H.: „Mein Vater…, der war eine kümmerliche Natur, ein armseliger Wurm, der nichts Anderes konnte, als ein wehrloses Kind zu schlagen! Die Gene, mein lieber, ihre Gene…
A.G.: „Meine Gene?“
A.H.: „Das Jüdische! Der Vater meines Vaters soll Jude gewesen sein! Das Heimtückische, Jüdische, Verkommene sprang von meinem Großvater auf meinen Vater über! Aber, Grünbaum, nehmen Sie das nicht persönlich, ich habe nichts gegen die Juden, wenn sie mich in Ruhe lassen.“


Später im Film…
A.H.: „Mein Wut gegen das Kranke, Minderwertige, gegen diese lächerlichen Kreaturen… Mein Vater schlug mich nicht nur, wenn ich etwas Verbrochen hatte, – und ich war ein frecher Lausbub -, nein, er schlug mich völlig unberechenbar und willkürlich, jederzeit, auch mitten in der Nacht konnte das passieren! Einmal hörte ich Vater die Treppe herauf poltern, ich floh aus dem Fenster, wollte aus dem kleinen Fenster fliehen…, doch das Fenster war so eng sodass ich mich meiner Kleider entledigen musste, um nackt hindurch zu kriechen, doch ich blieb stecken, Als mein Vater kam, bedeckte ich meine Blöße mit einem kleinen Tuch…, und mein Vater lachte mich laut aus und rief meine Mutter! Das Gefühl dieser Lächerlichkeit war schlimmer als tausend Schläge.
A.G.: „Das Kind ist nie lächerlich, Herr Hitler. Der Vater ist es! Ein wehrloses Kind zu schlagen ist immer feige und lächerlich!
A.H.: „Sie haben recht! Mein Vater ist der Lächerliche! Wehrlose Menschen hinterrücks zu überfallen ist charakterlos!“
A.G.: „Mein Volk wurde hinterrücks überfallen und wehrlos in die Lager getrieben! Ist das die deutsche Charakterstärke? Oder spielen sie da nicht die Rolle ihres Vaters nach?“
A.H. steht regungslos da und schweigt nachdenklich…


In der Schlussrede sagt Adolf Hitler (die Rede hält, versteckt unter dem Rednerpult, Adolf Grünbaum!).:
„Ich danke Euch für Euer blindes Vertrauen in mich, treu und deutsch seid ihr mir gefolgt, um die Welt zu Sauerkraut zu machen! Heute liegt unser geliebtes Vaterland in Schutt und Asche! Ihr seid alle arisch blond und blauäugig, ausser mir, und trotzdem jubelt ihr mir zu?! … Heil mir selbst!
Warum tut ihr das? Ich bin Bettnässer, drogenabhängig, ich kriege keine Erektion, ich wurde vom Vater so oft geprügelt, bis meine Gefühle verstummt waren, und so quäle ich das Wehrlose, wie ich einst wehrlos gequält wurde! Ich räche mich an den Juden, den Schwulen und den Kranken in ganz Europa für die Qualen und Demütigungen in meinem Kinderzimmer! Jedes ungeliebte, hasserfüllte Würstchen kann die Welt erobern, wenn Millionen ihn…. Schüsse fallen, A.G., der für A.H. spricht, wird von einem treuen Nazi erschossen… doch er sagt zum Schluss noch… „Heilt Euch selbst!“
Das Volk ruft wiederholt: „Heil dich selbst! Heil dich selbst!“


 ------------------------------------------------------------------------

Ich habe den Film kürzlich gesehen. Wirklich angesprochen hat er mich nicht. Ich finde es aber interessant und auch mutig, dass der Regisseur Levy im Grunde eine Botschaft (die wirklich wahrste Wahrheit) unters Volk bringen wollte: Einer wie Hitler konnte nur ein misshandeltes, gedemütigtes Kind sein. Einer wie Hitler war eigentlich schwach, krank und hilflos, tarnte sich aber und setzte eine hoch wirksame Maske auf.

Im Kino soll der Film von 780.000 Zuschauern gesehen worden sein und kam zudem noch als DVD raus. Ich glaube nicht, dass die meisten Zuschauer den realen Hintergrund und die Botschaft wirklich verstanden haben. Der Film ist sehr satirisch. Die Geschichte über Hitlers Kindheit wirkt im Film entsprechend ebenfalls ausgedacht, obwohl sie ganz offensichtlich auf historische Quellen zurückgreift. (da hätte man vielleicht im Abspann Alice Miller zitieren können) In Interviews (z.B. SPIEGEL, FAZ, Stern) war Levy nachträglich bemüht, diesen realistischen Hintergrund deutlich zu machen. Das Buch „Am Anfang war Erziehung“ von Alice Miller hatte ihn u.a. sehr inspiriert, diesen Film in dieser Art und Weise zu drehen.

Levy hat auf Kritik u.a. in einen Brief reagiert. Ein Auszug, der für mich sehr bedeutsam ist:
Es war für mich sehr erhellend zu lesen, mit welcher Rigorosität und Vehemenz der Ansatz der Psychoanalytikerin Alice Miller vom Tisch gefegt wird. Wie eine Litanei wird in auffällig vielen Kritiken runtergebetet, man könne doch Hitler „nicht mit seiner schweren Kindheit entschuldigen“. Dieser Satz steckt ungebrochen in den deutschen Köpfen. Ich glaube, damit verweigern Sie sich einem ziemlich substanziellen Ursachenverständnis von Faschismus. Die „Schwarze Pädagogik“, mit der Millionen Deutsche zu gehorsamen, gewaltbereiten und unempathischen Befehlsempfängern zurechtgeprügelt wurden, hat den Nationalsozialismus entscheidend mitgeschaffen. Wollen wir nicht lieber darüber streiten, anstatt es einfach zuignorieren?"

Hitler wurde von Levy in der Tat vom Sockel des „Dämon“ und „absoluten Bösen“ heruntergeholt und zum Menschen gemacht. Ob dies nun besonders gut gelungen ist, darüber lässt sich streiten. Aber dass er es tat, dafür zolle ich ihm Respekt. Erst wenn man Hitler zum Menschen macht, sich auf seine psychische Situation einlässt, sich mit dem Kind befasst, das er einst war, dann kann man dadurch auch etwas erklären.  

Die deutsche Öffentlichkeit war dazu im Jahr 2007 wohl noch nicht bereit. Es wird irgendwann eine neue Gelegenheit kommen, ein neuer Film, eine Medientitelstory und ähnliches, wo das Thema erneut aufgreifen wird. Und irgendwann werden die Menschen verstehen, dass geliebte Kinder nicht zu NS-Mördern hätten werden können.

Donnerstag, 25. Oktober 2012

James Gilligan: Gewalt. (und die tieferen Ursachen)



Der (Gefängnis-)Psychiater James Gilligan hat jahrelang – über 25, um genau zu sein – mit diversen Mördern in US-Hochsicherheitsgefängnissen gearbeitet und seine Erkenntnisse daraus u.a. in dem Buch „Violence. Reflections on Our Deadliest Epidemic“ (meine Ausgabe 2000, Jessica Kingsley Publishers, London, UK; Erstausgabe 1996 in den USA) veröffentlicht. 

Er stellt ähnlich wie der Neurologe Pincus besonders schwere Gewalterfahrungen fest:
The degree of violence and cruelty to which these men have been subjected in childhood is so extreme and unusual that it gives a whole new meaning to the term “child abuse”. (…) The violent criminals I have known have been objects of violence from early childhood. They have seen their closest relatives – their father and mothers and sisters and brothers – murdered in front of their eyes, often by other family members. As children, these men were shot, axed, scaled, beaten, strangled, tortured, drugged, starved, suffocated, set on fire, thrown out of windows, raped, or prostituted by mothers who were their “pimps”; their bones have been broken; they have been locked in closets or attics for extended periods, and one man I know was deliberately locked by his parents in an empty icebox until he suffered brain damages from oxygen deprivation before he was let out.
“ (Gilligan, 2000: 43-46) Gilligan schreibt, dass ihm  hunderte Männer erzählt haben, wie sie als Kind beinahe todgeprügelt wurden. (S.  47) 
Gilligan spannt in seinem Buch den Bogen auch weiter, geht u.a. auf die Biologie ein, soziologische Thesen, strukturelle Gewalt und auf Armut und Verelendung. Ich gebe hier nur den Anfang wieder, den Anfang von Gewaltkarrieren und von Hass, dieser liegt in der Kindheit der Täter, was der Autor vor allem im ersten Teil seines Buches beschreibt.

Er bezeichnet die von ihm untersuchten Mörder als Untote („living dead“), was deren Selbstdefinition wiederspiegelt. (vgl. S. 31-39) Diese Männer erlebten derart brutale Misshandlungen und absolute Lieblosigkeit in ihrer Kindheit, dass sie sich leer, innerlich tot, wie „Zombies“, „Steine“ oder „Vampire“ fühlten. (Er ergänzt an anderer Stelle – vgl. S. 49 –, dass auch psychische Folter in der Kindheit alleine innerlich tote Menschen hinterlassen kann.) Sie fühlten nichts mehr, außer, wenn sie sich selbst oder jemanden anderen Gewalt antaten. Ihre Identität existierte nicht. Manche freuten sich auf den körperlichen Tod, der durch die Verurteilung zum Tode bevorstand. Er käme einer Erlösung gleich. Gilligan zitiert z.B. einen Mörder, der die Reaktion seiner Mutter im Gerichtssaal, nachdem er zum Tode verurteilt worden war, kommentiert: (von mir frei übersetzt) „Als sie im Gerichtssaal anfing zu weinen … weinte Sie über etwas, das bereits tot war. … Ich war bereits tot oder etwas ähnliches wie tot.“ An einer anderen Stelle sagte dieser Mann: „Ich weiß nicht, was Leben ist.“ (S.  37) 
Man sollte an dieser Stelle nicht vergessen, dass diese Mörder ganz normal wirken konnten, wie Du und Ich.
These men do not look like „zombies“ or „vampires“, nor do they necessarily behave differently from anyone else in the course of an ordinary conversation. In fact, the most extraordinary thing about these violent men is how ordinary they often appear on the surface. No matter how many violent people I have worked with, I still find myself amazed by these ordinary-looking men, who have actually committed extraordinarily brutal, violent crimes. “(S 33+34)

Eine gängige These lautet, dass Männer selbst erlebte Gewalt überwiegend dahingehend verarbeiten, dass sie Gewalt gegen Andere anwenden, ihren Hass außen ausleben, Frauen richten – der These folgend -  ihren Hass gegen sich selbst. Gilligan beschreibt dagegen, dass die (vorwiegend männlichen) Mörder – neben ihrem mörderischen Verhalten – ihren Hass auch gegen sich richteten, sie verletzten sich selbst, fügten sich Wunden zu usw., um dadurch „irgendetwas“ zu fühlen, zu merken, dass sie noch am Leben waren. (Anmerkung: Und wenn man sich genau ihren Lebensverlauf ansehen würde, würde man wahrscheinlich unzählige Verhaltensweisen feststellen, die selbstzerstörerisch wirkten, im beruflichen, sozialen wie auch im privaten Bereich) Wenn diese Männer an den Punkt kamen, dass die Selbstverletzungen und die Gewalt gegen Andere keinerlei Gefühle mehr bei Ihnen auslösten, brachten sich sehr viele selbst um. Gilligan schreibt, dass in den USA mehr Mörder durch Selbstmord umkommen, als durch die verhängte Todesstrafe. Die Selbstmordrate unter Mördern wäre einige hundert Mal höher, als unter normalen Menschen ähnlichen Alters, Geschlechts usw. (S. 41; Anmerkung: Nachdem er in Massachusetts als Gefängnispsychiater angefangen hatte, ging die Selbstmordrate vor Ort fast auf Null zurück.)

Gilligan beschreibt in seinem Buch weiter die emotionale Logik hinter der Gewalt, vor allem auch hinter extremer Gewalt. Jedes Gewaltverhalten ist demnach emotional zu verstehen, wenn man sich mit der Psyche der Mörder und Gewalttäter befasst. Was auf den ersten Blick unlogisch und sinnlos erscheint, z.B. extreme Gewaltausbrüche auf Grund von „Nichtigkeiten“, wird emotional verstehbar, wenn man um die Hintergründe des Täters weiß. So verstehe ich Gilligan.
Der Autor spricht auch von der „logic of shame“ (Logik von Schamgefühlen) (S.  
65). Das Wort “shame” spielt in dem Buch eine zentrale Rolle. Gilligan meint damit die totale Abwesenheit jeglicher Fähigkeit, sich selbst zu lieben (bedingt durch die Abwesenheit von Liebe und Gewalterfahrungen in der Kindheit; vgl. S. 47), was eine von grundauf mit chronischen Schamgefühlen und Unsicherheiten durchzogene (und auch innerlich „tote“) Persönlichkeit hinterlässt. Nach der Besprechung eines Fallbeispiels schreibt er: „(…) the most dangerous men on earth are those who are afraid that they are wimps.” (S.  66)  (Frei übersetzt: Die gefährlichsten Menschen der Welt sind die, die Angst davor haben, als “Warmduscher” angesehen zu werden.) Die Angst vor Beleidigungen, Beschämung, Demütigungen, abfälligen Blicken, Respektlosigkeit, das „Gesicht zu verlieren“ usw. (oder sich so zu fühlen), provozierte die Mörder dazu, zu töten. Diese Angst vor „Beschämung“ hing eindeutig mit den real erlebten „Beschämungen/Demütigungen“ in der Kindheit zusammen (Anmerkung: und den „bösen Augen, Blicken“ der Eltern). 

Die meisten Mörder verbergen diese Gefühle (Männer vor allem hinter einer extrem maskulin betonten Fassade), fühlen sich aber tief beschämt. Sie fühlen sich zugleich beschämt darüber, sich beschämt zu fühlen. (S. 111) „Behind the mask of „cool“ or selfassurance that many violent men clamp onto their faces (…) is a person who feels vulnerable not just to “loss of face” but to the total loss of honor, prestige, respect, and status – the disintegration of identity, especially their adult, masculine, heterosexual identity; their selfhood, personhood, rationality, and sanity.” (S. 112) Daher, so Gilligan, werden Kriminelle (und auch Kinder, was er in Klammern einfügt) um so gewalttätiger, je mehr sie bestraft werden. Die Strafen bringen erneute Beschämung/Demütigungen mit sich. (S. 113) 

Ähnlich wie Pincus überträgt Gilligan seine Arbeit mit Einzelpersonen auch auf kollektive Prozesse und nennt als Beispiel Nazi-Deutschland und die Angst der Deutschen vor der „Schande von Versailles“, den „bösen Augen und Blicken“ der Juden usw. (S. 66ff) Er beschreibt den symbolischen Gedanken, der seiner Auffassung nach hinter dem kollektiven Morden Anfang des 20. Jahrhunderts stand: „If we destroy the Jews, we will destroy the evil eye (because they are the bearers of the evil eye)”; or in other words, “If we destroy the Jews, we will destroy shame - we cannot be shamed.(S. 69) 

Mich erinnern diese Ausführungen an zwei Erlebnisse während meiner Zivizeit in einer Drogentherapieeinrichtung. Der eine „Klient“ war ein muskelbepackter Mann, der es liebte, sich mit Ketten und Indianerschmuck zu behängen. Ich war mit ihm, einem anderen Klienten und einer Therapeutin in unserem Dienstwagen unterwegs. Neben uns hielten zwei junge Männer, die neugierig zu uns herübersahen. Daraufhin rastete der erst genannte Mann aus, fing an zu toben und wollte aussteigen, um die zwei zu verprügeln. Die Therapeutin konnte ihn irgendwie davon abhalten. Er beruhigte sich dann, fügte aber noch hinzu, dass er, wenn er draußen alleine gewesen wäre, die beiden fertig gemacht hätte.
Ein anderer Mann, der vor seinem Entzug Zuhälter war und sehr viel wert auf sein „Zuhälteräußeres“ legte, verbrannte sich einmal mit einer Zigarette seine Jacke. Daraufhin rastete er ebenfalls aus, schlug gegen Tür und Wand und ich konnte ihn kaum beruhigen.
Sofern ich etwas über die Hintergründe der Drogenabhängigen erfuhr (teils besuchte ich im Rahmen meiner Tätigkeiten auch deren Familien und bekam Einblicke, die die Therapeuten nicht hatten) , durch Gespräche oder Berichte, stellte sich bei vielen eine sehr traumatischer Hintergrund in der Kindheit heraus. Die beiden o.g. Männer waren zu „cool“, als dass sie mir etwas über sich erzählt hätten (beide brachen auch die Therapie ab, bzw. ersterer wurde durch die Polizei mitgenommen, nachdem er bei einem Anfall das Büro der Therapeuten verwüstet hatte…) . Aber auch sie werden schwere, gewaltvolle Kindheiten gehabt haben. Ihr Selbstbewusstsein, ihre Identität hingen an einem seidenen Faden. Ein falscher Blick (und sich dadurch verletzt und nicht respektiert fühlen.) oder eine kaputte Jacke reichten aus, um eine vorher entspannte Situation in eine gefährliche Situation zu verwandeln. (bei anderen Klienten reichten solche „Beschämungen“ aus, um erneut rückfällig zu werden und wieder Drogen zu nehmen.) Solche „Beschämungen“ lösen, so meine ich, quasi Flashbacks aus, Erinnerungen an die Gewalt und Demütigungen in der Kindheit. Diese unerträglichen Gefühle sollen und wollen aber nicht erneut erlebt werden. Der Ausweg der Klienten: Gewalt oder Selbstvernichtung durch Drogen (und dabei auch kurzfristiger, guter Gefühle, sich geliebt und geborgen fühlen, durch die Einnahme von Substanzen). 

Ähnliches sieht man auch auf der politischen Bühne. Die Sprache von politischen Führern verrät, um was es eigentlich geht, wenn sie davon sprechen, dass man sich von einer anderen Nation „beleidigt“ oder „gedemütigt“ fühle, dass man nicht  „das Gesicht verlieren“ dürfe usw. Wie zerbrechlich das „Selbstbewusstsein von Nationen“ sein kann, sahen wir zu letzt am Deutlichsten nach dem 11. September. Statt die Ereignisse zu betrauern und rechtsstaatliche/friedliche Wege zu gehen, reagierte die USA wie ein „gewaltbereiter Drogenabhängiger“, man schlug einfach los, auf Nationen, von denen man sich bedroht und nicht-respektiert sah, man wollte nicht als „Warmduscher“ und „Weichei“ oder als "Opfer" dastehen, man wollte die starke und mächtige Fassade wiederherstellen, ganz egal wie die eigentlichen Realitäten aussahen. 

Ich erinnere mich an dieser Stelle an die Doku „Familienkrieg“, die ich vor mehreren Jahren einmal gesehen habe und die ich nie vergessen habe. Für die Doku wurde ein Neonazi und seine Familie filmisch begleitet. An einer Stelle sagte er etwas in der Art (meiner Erinnerung nach): „Jemand, der mich beleidigt und nicht respektiert, den mach ich platt.“ Das war im Prinzip sein wesentliches Lebenskonzept: Hass und die Angst, nicht respektiert zu werden.
In einem Filmausschnitt kann man den jungen Mann und seinen Hass sehen. In der Mitte schreit er seine Mutter an: (in einem Dialekt, so dass ich das schreibe, was ich verstehe):
Du hast mir vielleicht auf den Arsch oder an die Ohren hauen können, wie ich noch ein kleiner Junge war, aber jetzt bin ich ein bisschen größer wie Du und es kann sein, dass wenn Du mich jetzt noch einmal unterbrichst, dass ich Dir eins aufs Maul haue!“ Der Vater war zudem abwesend und ist – meiner Erinnerung nach – früh verstorben und blieb vom Sohn idealisiert. Die Gewalt der Mutter gegen den Sohn wird nicht unerheblich gewesen sein, wenn man sich anschaut, wie hasserfüllt und wie unsicher in seiner Identität dieser junge Mann geworden ist.


Mittwoch, 24. Oktober 2012

TV-Doku über das "Böse" mit Scheuklappen



Der TV-Sender 3Sat befasst sich derzeit in einer Themenwoche mit dem „Bösen“. Ich selbst habe bisher nur den Beitrag „Die Natur des Bösen“ gesehen, da mich interessierte, wie Arno Gruen zitiert werden würde. Doch die Doku schaffte es, innerhalb von über 43 Minuten den groß angekündigten Psychoanalytiker und Bestsellerautor Arno Gruen kaum zu Wort kommen zu lassen.  Ich frage mich, warum befragte man überhaupt diesen Analytiker, wenn seine Thesen dann kaum dargestellt werden? Denn seine Thesen gehen ja exakt in die entgegengesetzte Richtung des Doku Titels. Gruen sieht „Das Böse“ bzw. Gewalt und Hass eben nicht als etwas typisch menschliches, naturgegebenes an, sondern behandelt in etlichen Büchern den Einfluss von frühkindlichen Gewalterfahrungen, Gehorsamsforderungen in Familie und Kultur und befasst sich mit dem Verschütten des Selbst bzw. von Gefühlen. 

Im ersten Teil der Doku berichtete Gruen von einem Mann, den er einst befragt hatte. (der einzige kurze, konkrete Interviewauszug, der auf die Kindheit eingeht) Dieser hatten Menschen die Kehlen „wie Salami „durchgeschnitten, so Gruen. Der Mann berichtete gegenüber Gruen, wie ihm seine Mutter im Alter von ca. 3 ½ Jahren mit kochendem Wasser überschüttet hatte, während des Erzählens waren da allerdings keine Gefühle, absolut nichts, „es war einfach etwas, das passierte“, so Gruen. (Sicherlich werden solche Aktionen nicht die Ausnahme im Erleben des Kindes gewesen sein, denn eine Mutter, die ihr Kind absichtlich verbrüht, ist auch zu anderen Gewalttaten fähig) Die Doku lässt Gruen dies erstens nicht weiter ausführen und zweitens kommentiert sie auch nicht. Dabei wäre gerade an dieser Stelle der Punkt, um deutlich zu machen, warum Menschen ihre Gefühle und sich selbst verlieren, es wäre die Stelle, um auf die möglichen Folgen von schweren Gewalterfahrungen hinzuweisen.  Stattdessen verliert sich der gesamte Beitrag in Zitaten eines Theologen und in Berichten über eine Fotografin, die in Kriegsgebieten arbeitet + einen Profiler von der Mordkommission ….  

Ich habe solche und ähnliche Dokus und auch Bücher schon unzählige male gesehen und gelesen. Man kratzt praktisch an den Hintergründen, man erwähnt hauchdünn das Thema Kindheit (wenn überhaupt), aber bloß nicht zu viel darüber aufdecken und berichten. Zu groß ist die Angst, zu tief sitzt kollektiv der Schmerz über die Erniedrigungen und die Gewalt, die bisher eine Mehrheit in unserer Gesellschaft als Kind erlebt hat (und sogar die, die es nicht selbst erlebt haben, spüren wohl noch irgendwie den Nachhall der Schläge und Demütigungen, den ihre Eltern und Großeltern erlitten haben). Da die Gewaltbetroffenheit hierzulande innerhalb der jungen Generation stark rückläufig ist, bin ich allerdings zuversichtlich, dass zukünftig Scheuklappen fallen werden. Es ist nur eine Frage von Zeit.

Samstag, 6. Oktober 2012

Neue Erkenntnisse und gleich ein ganzes Buch über Breiviks Kindheit



Ich wurde gestern von einer Blog-Leserin auf einen interessanten Online-Artikel hingewiesen.  Der norwegische Autor Aage Storm Borchgrevink hat umfassend  recherchiert und ein Buch (bisher nur in norwegischer Sprache) über Breivik und dessen traumatische Kindheit herausgebracht. Bewiesen scheint, dass Breivik eine psychisch kranke Mutter hatte, die ihren Sohn manches mal offen den Tod wünschte und im nächsten Moment wieder „zuckersüß“ mit ihm reden konnte. Der bereits in manchen anderen Medienartikeln geäußerte Verdacht (z.B. hier), dass Breivik auch sexuell missbraucht worden ist, wird durch den genannten Autor offensichtlich noch einmal weiter erhärtet. Vor allem wurde bisher nicht darüber berichtet, wer denn überhaupt der mögliche Täter oder die Täterin war. Borchgrevink lenkt auch hier den Blick auf die Mutter. 

Ich hoffe, dass dieses Buch auch in deutscher oder englischer Sprache erscheint. Ich werde es dann auf jeden Fall lesen. 

Menschen werden nicht zu Massenmördern, wenn sie ein paar mal als Kind angeschrien wurden, sich die Eltern trennten, es zehn mal Schläge gab und Mami oft arbeitete und zu Hause auch noch schlecht kochte. Menschen, die Massenmorde begehen, drücken durch ihre Tat bereits aus, was für tiefe Abgründe sich in ihnen verbergen und wie sie selbst als Kind seelisch ermordet wurden. Das entschuldigt gar nichts, aber es erklärt einiges. 

An dieser Stelle möchte ich auch erneut den Neurologen Pincus zitieren, der seine Erkentnisse über diverse von ihm begutachtete Mörder (über 150) wie folgt zusammenfasste: “It has been amazing to discover that the quality and the amount of „discipline“ these individuals have experienced are more like that of a prisoner in a concentration camp than a child at home.“ (siehe ausführlich über Pincus Buch im vorherigen Beitrag




Freitag, 10. August 2012

Jonathan H. Pincus: Was Menschen zu Mördern macht


Kaum ein Buch hat mich derart erschüttert und gleichzeitig so deutlich in meiner Sicht bestätigt wie „Base Instincts. What Makes Killers Kill?“ von dem Neurologen Jonathan H. Pincus (2001). Selbiger hat jahrelang Mörder, Serienmörder und Massenmörder in diversen amerikanischen Hochsicherheits-Gefängnissen befragt und begutachtet. Ein Satz bringt die wesentliche Gemeinsamkeit auf den Punkt, die er bei fast allen nachweisen konnte: „It has been amazing to discover that the quality and the amount of „discipline“ these individuals have experienced are more like that of a prisoner in a concentration camp than a child at home.“ (S. 27) Die untersuchten Mörder erlebten nicht nur einfach Gewalt, sondern extreme Formen und diese häufig und langjährig. In seinem Buch schilderte er einige Einzelfälle ausführlich und es wird einem wirklich schlecht, wenn man von diesen Kindheiten und der unfassbaren erlebten Gewalt oder eher Folter ließt.

Der Autor ergänzt, dass das Neue dabei ist, wie sich das Gehirn auf Grund von Misshandlungen verändern und Schaden nehmen kann. Seine Grundthese ist, dass Mörder als Kind misshandelt wurden, bei ihnen Gehirnschädigungen nachweisbar sind und paranoides Denken. Nur diese drei Faktoren zusammen führen u.U. zur Gewalt und zu Mord, was er in seinem Buch an Hand von Fallbeispielen nachweist. Er sagt aber auch, dass nicht alle schwer misshandelten Kinder zu Mördern werden.

Häufigen und langjährigen körperlichen und sexuellen Missbrauch durch Elternteile oder Elternfiguren fand Pincus bei den meisten ca.  150 Mördern, die er während seiner langjährigen Arbeit befragt und begutachtet hat. (vgl. S. 67) Er zitiert dabei auch eine seiner Studien, die einen fünf Jahres Zeitraum umfasste und nachwies, dass 94 % der untersuchten Mörder nachweisbar schwer als Kind  misshandelt wurden. (Anmerkung: Schwere diverse Misshandlungen in unterschiedlichen Formen erleben dagegen nur verhältnismäßig wenige Menschen. Eine deutsche repräsentative Studie wies z.B. nach, dass 1,4 % der Befragten drei, 0,8 % vier und 0,1 %  fünf schwere Formen des Missbrauchs  bzw. der Misshandlung erlebt haben. Wenn ich den Fallbeispielen im Buch folge, gehören die meisten Mörder wohl eher zu dieser Kategorie, mit einer Tendenz in Richtung fünf erlebter unterschiedlicher Misshandlungsformen.)

Bei den vielen Fallbeispielen im Buch fiel mir neben der Schwere der Gewalt auch immer wieder folgendes auf: Oft ging die Gewalt nicht nur von einer Person aus, sondern von mehreren (z.B. beide Eltern, zusätzlich andere Verwandte oder Geschwister, Pflegeeltern, in einem Fall auch Nachbarn, denen erlaubt wurde, das Kind in Abwesenheit der Mutter körperlich zu bestrafen).  Sofern ein Elternteil (i.d.R. die Mutter) nicht offen körperlich gewalttätig war, stand dieser den Gewalttaten duldend und nicht-helfend (ohnmächtig oder zustimmend?) gegenüber. Die besondere Schwere der Gewalt (der Sadismus und die Folter), der diese Mörder ausgesetzt waren, ist hier nicht wiederzugeben, da man jeden einzelnen Fall in seiner ganzen Realität ausbreiten müsste, so wie dies Pincus in seinem Buch teils getan hat. Unten gehe ich kurz auf zwei Fälle ein. Vorher möchte ich auf den Fall "Whitney" hinweisen. Pincus hat die erfahrene Gewalt, die dieser Mörder als Kind erlitten hat,  quantitativ an Hand der Gespräche erfasst. Der Vater pflegte den Jungen innerhalb eines festen Rituals körperlich zu bestrafen. Der Junge wurde so positioniert, dass er sich nicht bewegen oder wehren konnte. Der Junge durfte auch nicht weinen oder sich ansatzweise sträuben, ansonsten riskierte er noch mehr Schläge. Er wurde auch gezwungen, seinen Kopf in einem Kissen zu vergraben und seinen Vater bei der Ausübung der Prügel nicht zu beobachten. (Da eine Schwester berichtet hat, dass sie ihren Vater nach einer Prügelorgie draußen hat masturbieren sehen, könnte dies auch während dieser Prügel geschehen sein und der Grund dafür, warum der Junge sich nicht umdrehen durfte) Mit einem Gürtel schlug der Vater dann ca. 10 bis 20 mal auf diverse Körperstellen. Diese Prügel konnten einige Minuten andauern. In dieser Form fand die Gewalt  zwei bis drei mal die Woche statt, das ganze über 10 Jahre lang, ab dem Alter von 5 Jahren bis "Withney" 15 wurde. (vgl. S. 144) Ich habe einmal nachgerechnet. Dieser Junge bekam pro Woche den Angaben folgend im Minimum ca. 20, im Maximum ca. 60 sadistische Schläge; im Min. 80  und im Max. 240 pro Monat; im Min. 9.600 und im Max. 28.800 innerhalb von 10 Jahren (sprich 120 Monaten)! Und dies sind nur die Angaben bzgl. der ritualisierten (nicht außerordentlichen) körperlichen Gewalt und auch nur die des Vaters. Denn "Whitney" wurde auch von seiner Mutter misshandelt, die sich dafür eine Art Peitsche gebastelt hatte. Außerdem kam auch sexueller Missbrauch in dieser Familie vor. .

Eines fand ich auch besonders aufschlussreich. Pincus berichtet, dass von allen Gewalttätern und Mördern, die er befragt hat, zunächst zwei Drittel sagten, dass sie keine Kindesmisshandlung erlebt hätten. (vgl. S. 159) Wenn er diese Fälle nicht weiter untersucht hätte, so Pincus, wäre er wohl nicht darauf gekommen, dass Misshandlungserfahrungen besonders weit unter Gewalttätern verbreitet sind. Er erklärt sich die ersten Antworten der Befragten damit, dass viele sich nicht an die erlebte Gewalt  erinnern können (oder wollen) und zusätzlich auch weiterhin Angst haben, darüber zu sprechen.
Pincus beschreibt auch ausführlich den Fall eines Mörders – mit Namen Ray -, der selbst sagte, er sei nicht misshandelt worden. (vgl. S. 106ff) Ray ging konform mit der „harmonischen“ Geschichte, die seine Mutter, sein Bruder und sein Stiefvater seinem Anwalt erzählt hatten. Sein Vater – Jack – wurde als „guter Mann“ , „guter Ehemann“ und „guter Vater“ beschrieben, der besonders gut zu seinem Sohn Ray war. Dieser tolle Mann verstarb früh an Leukämie. Und sein Sohn hätte dies wohl nicht gut vertragen und sei daraufhin zum Alkohol gekommen und zum Mörder geworden. Während Ray dies Pincus erzählte, wirkte er wenig glaubhaft auf ihn.
Pincus führte daraufhin ausführliche Gespräche mit Familienmitgliedern und stieß auf die wahre Geschichte. Rays Vater war ein Alkoholiker (und ehemaliger Soldat), der seine Frau und Kinder schlug, dies immer heftiger und häufiger, je mehr er dem Alkohol verfiel. Die Konflikte zwischen den Eltern eskalierten immer mehr und das Leben der Mutter wurde sogar ernsthaft bedroht.
Rays Vater schlug ihn u.a. mit Stöcken, Gürteln, Schnallen, einer Gitarre und einem Gewehrrohr. Manchmal nahm der Vater seinen Sohn einfach mit auf lange Reisen, um sich an seiner Frau zu rächen und drohte  ihn zu seiner Großmutter in einen anderen US-Staat abzuschieben. Auch während dieser Reisen wurde der Sohn mit einer Peitsche misshandelt (bis er blutete), die der Vater extra für diesen Zweck im Auto aufbewahrt hatte. Als Rays Mutter einmal auf so einer Reise dabei war, goss sie Alkohol auf die Wunden ihres Sohnes, angeblich um ihm zu helfen. Als Ray nach diesem Vorfall gefragt wurde, ob dies nicht Schmerzen verursacht hatte, rollte er mit den Augen und sagte: „Gott, hab erbarmen!“. Auf Rays Rücken fand Pincus diverse Narben, die von den Misshandlungen stammten. Im Alter von zwölf Jahren gab es wieder einen handfesten Streit zwischen seinen Eltern. Ray schrie seinen Vater an: „Warum stirbst Du nicht?“Eine Woche später starb der Vater an Leukämie und Ray fühlte sich dafür schuldig. Soviel zu dem „tollen Vater“ und der „harmonischen Kindheit“ dieses Mörders... 

Ich erinnere mich an dieser Stelle, dass nach Amokläufen routinemäßig in den Medien das behütende, durchschnittliche bürgerliche Elternhaus des Täters beschworen wird und die Unerklärlichkeit der Tat. Die Tatsache, dass zwei Drittel der befragten Mörder zunächst abstritten, misshandelt worden zu sein, Pincus aber bei fast allen eine schwere Misshandlungsgeschichte fand, sollte nachdenklich machen, vor allem auch die JournalistInnen, die über solche Mörder berichten.  

Besonders interessant fand ich das Kapitel „Hitler and Hatred“ (ab Seite 178) im Buch. Pincus verknüpft seine Erkenntnisse darin mit möglichen politischen Prozessen, wie sie in NAZI-Deutschland stattfanden. Er bezieht sich auf den Historiker Goldhagen, der davon ausgeht, dass mehr als 500.000 Deutsche während dieser Zeit aktive Täter und Mörder waren. Pincus vermutet, dass diese Mörder in ganz besonders hasserfüllten und misshandelnden Familien aufgewachsen sind. 

Er behandelt in diesem Kapitel auch den Fall des Mörders „Trent“. Trents Eltern waren misshandelnde Alkoholiker und er wurde im Altern von drei Jahren per Gerichtsbeschluss  zusammen mit seinem Bruder aus der Familie genommen und zu einem Onkel gebracht. Auslöser für diesen Weg war eine Situation, in der Trents Vater ein Messer über einer Flamme heiß machte und damit zur Strafe Trent verbrannte. Der Onkel, zu dem Trent kam, war allerdings ebenfalls Alkoholiker, der Trent und seinen Bruder regelmäßig schwer verprügelte, dabei u.a. einen Gürtel, Fäuste oder andere Instrumente verwendete. Einmal, als der Onkel total die Kontrolle verlor, trat er Trent so heftig auf den Kopf, dass Pincus bei seiner Begutachtung des Erwachsenen immer noch die Narbe deutlich vorfand.  Der Onkel dachte sich auch andere Grausamkeiten aus, z.B. musste Trent nackt in der Ecke stehen und durfte sich nicht herum drehen, sonst wurde er mit einem Gürtel verprügelt. Da er sich nicht herumdrehen durfte, sah er auch nicht, wann sein Onkel kam, um ihn zu kontrollieren. Schläge kamen dann quasi aus dem Nichts über ihn. Diese Folter konnte über Stunden andauern. Der Onkel zwang beide Brüder auch dazu, quasi in einer Art Gladiatorenkampf  zu seiner Unterhaltung gegeneinander anzutreten. Zusätzlich missbrauchte er die Jungen sexuell, zwang sie zu Oral- und Analsex, bei Trent bereits ab dem Alter von vier Jahren. Trents Tante unternahm nichts gegen all dies und war ebenfalls Opfer von Schlägen durch ihren Mann.
Einmal wollte der Onkel zur Strafe die Finger einer Hand von Trent mit einem Beil abtrennen und verfehlte diese, traf aber noch einen Finger, so dass Trent von seiner Tante ins Krankhaus gebracht werden musste. Dadurch kamen die Misshandlungen heraus und die Brüder kamen zunächst in eine Pflegefamilie; danach wurde Trent in diversen Einrichtungen untergebracht. .Auch in einigen Pflegefamilien wurde Trent erneut schwer verprügelt und sexuell missbraucht.
Das Unfassbare: Sein Onkel holte Trent für manche Wochenenden oder auch Urlaube aus den Pflegefamilien. Erneut wurde er sexuell missbraucht und sogar dazu gezwungen, bei der Vergewaltigung seiner Tante mitzuwirken. Der Onkel redete Trent dann ein, dass ihm all die Gewalt widerfahren sei, weil seine Tante nicht die sexuellen Dinge mit dem Onkel getan hatte, die dieser sich gewünscht hatte. Trent entwickelte daraufhin einen enormen Hass auf diese Tante und auf Frauen allgemein.
Diese Tante missbrauchte den Jungen ebenfalls sexuell, veranstaltete regelmäßig „Badetage“, ließ sich von ihm "waschen" und „wusch“ ihn. Bereits im Alter von 17 Jahren kam Trent ins Gefängnis, nachdem er erneut eine Lehrerin schwer angegriffen hatte (vorher hatte er eine andere Lehrerin fast vergewaltigt). Dort vergewaltigte er eine weibliche Wärterin. Später brachte er ohne Skrupel "einfach so" einen Mithäftling um. 

Was wäre, fragt sich Pincus, wenn jemand wie Trent einen politischen Führer – so wie Hitler  - hätte sagen hören: „Die Frauen sind unser Unglück“, „Die Juden sind unser Unglück“?  Was wäre, wenn so jemand gehört hätte, dass die Juden für Pornographie verantwortlich sind, für Unmoral, dass sie Krankheiten übertragen, dass sie schwach sind und keine Menschen, so wie Hitler es tat? So eine Nachricht wäre bei Jemandem wie Trent sehr willkommen gewesen, so Pincus, genau wie diese Nachricht bei vielen Deutschen willkommen geheißen wurde. Er fragt sich weiter, was gewesen wäre, wenn jemand wie Trent Anführer in einem Lager geworden wäre, mit dem Auftrag, Frauen und Homosexuelle zu töten.  Pincus schreibt, dass er zu wenig Daten hat, glaubt aber auf Grund seiner Arbeit mit unzähligen Mördern, dass Trent und Hitler sehr viel gemeinsam haben. Und er hat Recht damit, wenn man um die Kindheit von Hitler (auf diese geht Pincus auch kurz ein) weiß oder auch um die Kindheit der meisten Deutschen, die vor allem Lloyd deMause beschrieben hat.
Am Ende des Kapitels schreibt der Autor, dass die beste Prävention von Gewalt und Terror Kinderschutzprogramme sind. Und wie Recht er damit hat!

Studien wie diese machen den Blick frei auf das Wesentliche. Abgründe tun sich auf. Man muss aber dort hineinschauen, um zu verstehen, wie Menschen zu grausamen Mördern werden können. Und man wird daraufhin auch den von mir oft formulierten Satz ableiten können:
Wirklich geliebte Kinder werden nicht zu (Massen)Mördern, Serienkillern oder Terroristen!



Siehe ergänzend: 

 "Stephen Harbort: Das Serien-Mörder-Prinzip."

"James Gilligan: Gewalt."